24.09.2006

Hans Aebli (Begriffsbildung I)

Unter Begriffsbildung versteht man das Nachvollziehen und Erzeugen von Begriffen.

Einleitung

Die Begriffsbildung gilt als ein wesentlicher Bestandteil des wissenschaftlichen Arbeitens. Sie wird vornehmlich in der pädagogischen Psychologie untersucht. In der Didaktik werden Modelle aufgestellt, wie Begriffe zu vermitteln seien.

Neben der großen Bedeutsamkeit der Begriffsbildung für das Lernen, spielen Begriffe in der Wissenschaftssoziologie und der Alltagssoziologie eine wichtige Rolle. Begriffe, ihre Wirkung und die Methoden ihrer Herstellung sind zudem zentrale Aspekte der Philosophien. Ein Begriff wie der der Begriffsbildung verlangt also eine interdisziplinäre Herangehensweise.

Ich werde im Folgenden die Begriffsbildung psychologisch darstellen und mich nur auf das Werk von Hans AEBLI stützen. Die daran anschließende Kritik ist zwar auch nur exemplarisch aufgeführt, kann aber die Probleme zentral beleuchten, die die Begriffsbildung so schwierig zu definieren machen.

AEBLIs Theorie der Begriffsbildung

Psychische Funktionen des Begriffs

"Der Begriff ist das Werkzeug, mit dem wir die Wirklichkeit deuten.", heißt es bei Aebli (1994, 83) lapidar.

Leistungen des begrifflichen Denkens seien (Aebli 1994, 84):
  • Distanzierung von der Situation,
  • Isolierung der in ihr enthaltenen Elemente und Beziehungen,
  • reine, durchsichtige Fassung der Struktur ("Ordnung"),
  • Abgrenzung derselben aus dem Kontext, bei gleichzeitiger Klärung der Beziehungen zu diesem.
Neben diesen Leistungen haben Begriffe, laut Aebli, aber noch weitere Funktionen:
Sie haben, im Gegensatz zum Handeln, keinen unmittelbaren Nutzen, und sollen stattdessen "dem erkennenden Geist ein Stück Wirklichkeit fassbar machen". "Das Anliegen ist dasjenige der Transparenz und der Konsistenz der Darstellung." (Aebli, 1994, 84)
Begriffe sind „Reinigungen“, Abstraktionen von der konkreten Realität. Sie bilden eine Struktur ab, deren wesentliches Merkmal es ist, unzeitlich, zeitlos oder überzeitlich zu sein. Selbst aus Vorgängen werden, bilden sie sich in Begriffen ab, „quasi-dingliche Gegebenheiten“. (Aebli 1994, 84f.)

Begriffsbildung

Aebli definiert die (Aufgabe der) Begriffsbildung folgendermaßen: "... ein Gefüge von Beziehungen innerhalb von Handlungen, von sachlichen Gegebenheiten oder irgendwelcher anderer Aspekte der Wirklichkeit zu objektivieren, d.h. in eine quasi-gegenständliche Form zu überführen." (Aebli 1993, 23)

Weiter zeigt Aebli, dass sich ein Begriff aus einzelnen Elementen zusammensetzt, die er als Rollen oder Aktanten bezeichnet (Aebli, 1993, 111ff.). Diese werden im Zuge der Begriffsbildung aus bereits erkannten Elementen zusammengezogen und in ein neues Schema gebracht.

Dies lässt sich recht einfach nachvollziehen: Habe ich die Vorstellung von verschiedenen Blumen, einer Schnur, einem Geschenk, usw., kann ich daraus einen Begriff "Schenken eines Blumenstraußes" zusammenziehen. Abstrahiert wird von biologischen und wirtschaftlichen Aspekten, die zwar beim Überbringen des Blumenstraußes durchaus eine Rolle spielen mögen, aber nicht zum Begriff selbst gehören. Begriffe koordinieren so z.B. Handlungen im Voraus und haben deshalb einen engen Bezug zur Planungsfähigkeit und zur Problemlösung. Sie lassen sich aber auch rasch situativ übertragen und abändern, je nachdem, ob der Strauß der Chefin, der Freundin oder der Mutter geschenkt werden soll und zu welchem Anlass dies geschieht. Diese Konkretisierung der Begriffsbildung aus einem abstrakteren Begriff führt dann z.B. zu dem neuen Begriff "der Chefin einen Blumenstraußes schenken anlässlich des Versterbens ihres Mannes".

Wesentliche Aspekte der Begriffsbildung sind also:
  • Auswählen der relevanten Elemente
  • Abstrahieren der Elemente von anderen Wirklichkeitsbezügen
  • Koordinieren der Elemente
Dieser letzte Punkt nennt sich auch Rollenzuweisung.

Rollenzuweisung

Zentral legt Aebli auf diese Rollenzuweisung Wert. Sie prägt die Handlungsmöglichkeiten vor, die durch einen Begriff bereitgestellt werden.

Nehmen wir noch einmal unser oben gegebenes Beispiel – "der Chefin einen Blumenstrauß schenken anlässlich des Versterbens ihres Mannes" -, so ist die Frage nach dem Handelnden, also demjeniger, der schenkt, nur implizit im Begriff festgelegt, in dem Fall aber, dass es mich persönlich betrifft, bin ich der Handelnde und weise mir diese Rolle zu. Dies zeigt, dass der Begriff zunächst noch abstrakt gefasst ist, aber implizit schon diese Rolle enthält, die man dann konkretisieren kann.
Zudem enthält der Begriff weitere Rollen (wem? der Chefin; weshalb? anlässlich des Versterbens ihres Mannes; was? einen Blumenstrauß).
Begriffsbildung ist deshalb vor allem Rollenklärung.
Rolle bezeichnet dabei keine soziologische Komponente, sondern eine psychologische Komponente, eine Art semantischen Bestandteil im Denken. Mit Rolle ist auch nicht gemeint, dass diese nur in einem Satz vorkommen (dies wären die linguistischen Kasusrollen). Bestandteile einer Spiegelreflexkamera in ihrer Wirkung zueinander können nicht in einem einzigen Satz ausgedrückt werden, bilden aber zusammen den entsprechenden Begriff "Spiegelreflexkamera". Es muss, im Zuge der Begriffsbildung geklärt werden, welche Rolle die Teile füreinander "spielen" (Koordination). Darstellbar ist dies in einem semantischen Netz anhand semantischer Rollen.

Kritik

Aeblis Vorgehen bereitet einige gravierende methodische Schwierigkeiten, die hier kurz angesprochen werden sollen:
  • Obwohl Aebli Begriffe als Objektivierungen schildert, bleiben seine dargestellten Begriffe offizielle Versionen von Gegenständen, Handlungen und Vorgängen. Genau dies aber führt dazu, dass Aebli diese als Bestandteile eines Lexikons identifiziert, das eine gewisse Wissenschaftlichkeit mit sich bringt. Zunehmend verliert Aebli dabei den Halt in einer Verwissenschaftlichung, die das eigentlich Spannende nicht mehr nachzuvollziehen und darzustellen weiß: wie sich Begriffe alltäglich bilden.
  • Daraus resultiert ein weiteres Problem: wenn sich Begriffe psychisch bilden, kann man ihnen dann eine allgemeine Version unterstellen, oder muss man sie, im Sinne einer Subjektorientierung und Lebensweltorientierung nicht in eine Subjektivität fassen, die sich gerade nicht zeitlos gültig darstellen lässt?
  • Wahrscheinlich resultiert aber das ganze Problem der Begriffsbildung aus einem weiteren Aspekt: dem der Beobachtbarkeit. Wenn Begriffe kognitive Phänomene sind (zumindest in der Psychologie), wie lassen sie sich beobachten oder nachkonstruieren?
  • Daran schließt sich gleich ein weiteres Problem an: wann entstehen die ersten Begriffe? Sind sie erst dann vorhanden, wenn ein Kind mehr als Einwortsätze äußern kann, also auch für den Beobachter Beziehungen sprachlich ausdrücken kann oder ist ein Kind, das Mehl, Eier und Milch in einer Schüssel zusammen kippt, aber nur die Elemente einzeln und Kuchen als Ergebnis benennen kann, schon in der Lage, einen Begriff von "Kuchen backen" zu haben?
  • Schließlich greift Aebli sehr häufig, ohne es durchzuziehen, auf die Sprachlichkeit, bzw. symbolische Fassbarkeit von Begriffen zurück. Sind Begriffe aber tatsächlich symbolisch fassbar? In diesem Falle ließen sie sich tatsächlich in einem Lexikon objektivieren. Oder haben Begriffe und damit auch Begriffsbildungen einen starken, aber oft nicht erkannten außersprachlichen Kern?
  • Dass Begriffsbildungen sich alltäglich vollziehen und eng mit sozialen Rollen, emotionalen Färbungen und Orientierung in der Lebenswelt zusammenhängen, kann man an dem oben gegebenen Beispiel mit dem Blumenstrauß sehen. Neben der Ausprägung dessen, was als Begriff gelten soll, beachtet Aebli zu wenig, dass Begriffe wahrscheinlich als ganzheitliche Ordnungsleistungen gedacht werden müssen. Die Rolle der Emotionalität wird nicht erfasst, ebenso wenig aber die Funktionalität unscharfer Begriffe (und wer hätte das nicht erlebt, dass gerade Worthülsen zunächst sehr eindrucksvoll klingen und ebenso eindrucksvoll strukturieren, dann aber, hinterfragt man sie gründlich, in sich zusammen fallen).
  • Daran ist die Frage der Flüchtigkeit anzukoppeln: wenn Begriffe konkretisiert werden, bilden sie vielleicht, aber eben nur vielleicht, neue Begriffe. Wann, unter welchen Bedingungen der Stabilität von Wissen, gehen Konkretisierungen oder Abstrahierungen in neue Begriffe über?
  • Sind Begriffe lediglich "Identifikationen eines bestimmten Phänomens" (Aebli 1994, 88)? Schon hier verwischt sich Aebli massiv selbst, da er zugleich sagt, Begriffe dienten nur der Identifikation eines Phänomens (sind aber diese Identifikation nicht selbst). Zwischen der Disposition, ein Phänomen wahrnehmen zu können, (Kompetenz) und der Wahrnehmung eines Phänomens (Performanz) sollte allerdings ein Unterschied gemacht werden.
Alles in allem zeigen sich also drei wesentliche Probleme bei Aebli: erstens die Frage nach der ontogenetischen und alltäglichen Grenze und damit nach der Beobachtbarkeit von Begriffen, zweitens nach der internen Funktion von Begriffen und damit den symbolischen und außersymbolischen internen Bedingungen ihrer Funktionalität, drittens nach der Lebensweltlichkeit, Situativität und Sozialität von Begriffen und damit ihren externen Bedingungen ihrer Funktionalität.

Aebli hat, so scheint es mir, sich hierbei zu sehr von wissenschaftlichen Methoden der Objektivierung und Darstellung leiten lassen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass dies nur ein sehr kleiner Aspekt der Ordnung psychischen (und sozialen) Wissens ist. Gleichwohl liefert er gerade dadurch viele Anregungen, wie Begriffsbildungen in Schule und Studium geleistet, operationalisiert und objektiviert werden können.

Ausblick

Um psychische Begriffsbildungen genauer fassen zu können, sollte man von einigen Hypothesen ausgehen, die zum einen einen möglichen Theorieentwurf betreffen, zum anderen mögliche Forschungsprojekte:
  • Begriffe sind nicht rein symbolisch. Sie umfassen auch andere wenig flüchtige kognitive Elemente.
  • Begriffe sind Ordnungsleistungen im Denken, die emotional und situativ sehr unterschiedlich gefasst und angewendet werden.
  • Begriffe sind ordnende Projektionen, die die wahrnehmbare Wirklichkeit auf das Maß vereinfachen, dass Handlungsfähigkeit gegeben ist.
  • Schärfe ist kein Gütesiegel des Begriffs, es sei denn in der Wissenschaft. Demnach sind Klärungen, Abstraktionen und Reinigungen auch nicht die wesentlichen Operationen der Begriffsbildung und – denkt man diese weiter - auch nicht die wesentlichen Ziele eines begriffsbildenden Unterrichts.
  • Aebli, Hans: Denken: Das Ordnen des Tuns I, Stuttgart 1993
  • ders.: Das Ordnen des Tuns II, Stuttgart 1994

1 Kommentar :

jaellekatz hat gesagt…

Lieber Frederik,

das sind ja komplizierte Ausführungen ... ;-)

Noch ein bisschen was zum "außersprachlichen Kern":

Das Sinnbild oder die Metapher oder das Zeichen setzt sich zusammen aus dem Signifikat (dem Bezeichneten) und dem Signifikant (dem Bezeichnenden). Beides zusammen, Signifikat und Signifikant, bilden eine außersprachliche Realität. Das Zeichen selbst ist Realität, das gesprochene Wort ist eine soziale Realität. Das Kind kommt in die menschliche Realität hinein, indem es einen Bezug zu den Zeichen gewinnt.
Wenn die sinnliche Erfahrung zu einem Zeichen wird, dann schafft die materielle Befriedigung nicht mehr die volle Befriedigung, es fehlt etwas. Aus diesem Fehlen entsteht eine Erwartungs- und Sehnsuchtshaltung, welche nicht vollständig in der Sprache faßbar wird.

Einverstanden?

Jaelle Katz