17.06.2007

Skandale

Die allgemeine Berichterstattung werde durch Skandale und Konflikte verdrängt, „eine Nachricht ist selten eine Nachricht, wenn sie nicht so viel oder mehr Hitze erzeugt als sie Erhellung bringt“. Alles sei entweder ein Triumph oder eine Katastrophe, jedes Problem gerate zur Krise, ein Rückschlag werde als „Politik in Trümmern“, eine Kritik als „schonungsloser Angriff“ dargestellt.
So wird Tony Blair in einem Bericht über die modernen Massenmedien zusammengefasst (unter anderem; der Rest siehe HIER).

Immanente Unruhe
Niklas Luhmann schreibt zu den Massenmedien zunächst, dass sie immanent unruhig sind. (RM, S. 41-44)
Da Massenmedien mit neuen Informationen aufwarten müssen, haben sie ein selbsterzeugtes Problem: sobald die Information gebracht ist, ist sie nicht mehr neu. - Da sich Massenmedien erhalten, mithin also stabil bleiben wollen, müssen sie ständig neue Informationen heranschaffen. Die Massenmedien sind also erst dadurch stabil, dass die Welt instabil ist, bzw. als instabil beobachtet werden kann. -
Im übrigen ist dies ein Problem, das Massenmedien mit allen anderen Systemen teilen: Kein System kann in sich selbst genug Struktur "entwickeln", um stabil zu sein. Alleine dadurch, dass ein System dynamisch ist, also aus Operationen (und nicht aus Festkörpern) besteht, ist es mit Unruhe ausgestattet. Um sich selbst Halt zu geben, sucht es diesen Halt in Umweltereignissen. - Die Operationen eines Systems finden natürlich nur im System statt. Aber die Struktur findet ein System in sich selbst UND in der Umwelt. Es ist sowohl strukturdeterminiert - führt sich also anhand interner Strukturen -, als auch strukturell offen, also bereit, sich auf die Strukturiertheit der Umwelt zu verlassen und diese Strukturiertheit auch zu nutzen.

Zwei Selektoren
Was Tony Blair angeht, haben Massenmedien (unter anderem) zwei Mechanismen entwickelt, die typischerweise die Eigenaktivität der Medien bestimmen und oft genug dann selbst wieder skandalträchtig werden: Konflikte und Normverstöße.

Konflikte
Luhmann schreibt dazu:
Konflikte haben als Themen den Vorteil, auf eine selbsterzeugte Ungewissheit anzuspielen. Sie vertagen die erlösende Information über Gewinner und Verlierer mit dem Hinweis auf Zukunft. Das erzeugt Spannung und, auf der Verstehensseite der Kommunikation, guess-work. (RM, S. 59)
Mit der Information muss also immer noch die Desinformiertheit thematisiert werden, um dann weitere Informationen nachschieben zu können.
Nicht nur wird damit das "Gesetz der Serie" erfüllt (und oft genug das Gesetz der Soap), sondern Teilthemen eignen sich dazu, herauszufinden, welches Thema gewinnträchtig ist und weiter thematisiert werden kann.
Zum anderen lassen sich Teilthemen wesentlich leichter revidieren und in die gewünschte Richtung lenken, als vollständig abgearbeitete Themen.

Normverstöße
Hierzu schreibt Luhmann:
In der Darstellung durch die Medien nehmen Normverstöße häufig den Charakter von Skandalen an. Das verstärkt die Resonanz, belebt die Szene und schließt die bei Normverstößen mögliche Äußerung von Verständnis und Entschuldigung aus. Im Falle von Skandalen kann es ein weiterer Skandal werden, wie man sich zum Skandal äußert.
Die Massenmedien können durch solche Meldungen von Normverstößen und Skandalen mehr als auf andere Weise ein Gefühl der gemeinsamen Betroffenheit und Entrüstung erzeugen. Am Normtext selbst könnte man dies nicht ablesen, der Verstoß erzeugt erst eigentlich die Norm, die vorher in der Masse der geltenden Normen eben nur "gilt". Vorauszusetzen ist natürlich, dass niemand den Gesamtumfang dieser Art von Devianz kennt und auch niemand weiß, wie andere in entsprechenden Fällen sich selbst verhalten würden. Wenn aber Verstöße (und: entsprechend ausgewählte Verstöße) als Einzelfälle berichtet werden, stärkt das auf der einen Seite die Entrüstung und so auf indirekte Weise die Norm selbst, und auf der anderen Seite auch das, was man "pluralistic ignorance" genannt hat, nämlich die Unkenntnis der Normalität von Devianz. (RM, S. 61f.)
Nous
Dieses Problem, dass eine Singularität als exemplum eines Wesens - im philosophischen Sinne - dargestellt wird, und dies dann zu einer Betroffenheit führt, drückt - wenn auch nicht in diesem Kontext - Derrida folgendermaßen aus:
Le nous est le lieu où nous changeons notre identité. (irgendwo in "La Dissémination")
Da es sich hier um ein Sprachspiel handelt, habe ich zuerst auf französisch zitiert. Die erste Übersetzung lautet:
Das Wir (fr.: nous) ist der Ort, wo wir unsere Identität ändern.
Die zweite Übersetzung ist fast gleich:
Das Wesen (gr.: nous) ist der Ort, wo wir unsere Identität ändern.
Der glückliche Zufall, der uns den Gleichklang zwischen dem französischen Wir und dem griechischen Wesen beschert, erlaubt es Derrida, hier in äußerster Kürze auszudrücken, welche Funktion er diesem topologischen Ereignis zuweist.

Empörung und Signifikation
Es gibt natürlich zwischen der Blindheit, die Luhmann anspricht, und der Funktion des nous, die Derrida ausdrückt, einige entscheidende Unterschiede. Während Luhmann das eigensinnige Prozessieren des Systems der Massenmedien darstellt, spielt Derrida mit der entscheidenden Eigensinnigkeit im Nie-zu-Ende-signifiziert-habens des Signifikanten.

Trotzdem ist die Parallele nicht zufällig, erzeugen die Massenmedien doch immer jenes Publikum, das sich durch ein "Wir" auf der Seite der Empörung weiß, und das sein Wesen dadurch findet, indem es das Unwesen ausschließt.
Während bei Luhmann die Empörung zu einer recht flüchtigen und meist nur imaginierbaren Inklusion führt (eigentlich ist nur das Ausgeschlossene, das Exkludierte sichtbar), ist die Signifikation durch den Signifikanten gerade nicht dadurch lösbar, indem man die Signifikanz vermeidet - wir sind nicht die Herren der Signifikation -, sondern indem man sie zerstreut. Der Imperialismus des Identifizierens kann nur durch mehrfaches Durcharbeiten, durch die Arbeit der Dissemination (Zerstreuung) "abgemildert" werden. (Adorno schreibt in der Negativen Dialektik etwas ähnliches: auch diese löst nicht mehr das Versprechen eines letzten Sinns ein, sondern wagt sich an Denkmodelle, die, auf ihre Weise, singulär und nicht wiederholbar sind. Siehe insbesondere den Abschnitt "Wesen und Erscheinung" in ND, S. 169ff.)
Gerade weil die Signifikation, sobald sie fraglos akzeptiert wird, ihr Unwesen treibt, steht sie strukturell in einer ähnlichen Position wie bei Luhmann die Empörung angesichts eines Skandals.

Die "pluralistic ignorance", die Luhmann von Hermann Popitz übernimmt, gilt in dem selben Maße auch für das empörte Publikum, das sich in seiner Heterogenität nicht wahrnimmt, und auch für den Signifikanten, sobald er seine Eineindeutigkeit durchsetzt.

Strukturelle Demokratie
Die Reibungshitze und die Reibungsverluste scheinen eine wesentliche Rolle in den öffentlichen Medien zu spielen. Die Demokratie muss - mehr als früher - rasch sein, um wenigstens anstandshalber, die Form der Pluralität zu wahren.
Blair wird dazu folgendermaßen zusammengefasst:
Ein wesentlicher Teil der Arbeit von Menschen im öffentlichen Leben bestehe darin, die Hyperaktivität der Medien zu bewältigen, bemängelte Blair. Niemand könne es sich leisten, eine Spekulation auch nur einen Augenblick unwidersprochen zu lassen, mit dem Ergebnis, dass Erklärungen abgegeben werden müssten, bevor die Tatsachen genau ermittelt seien. Dieser Prozess sei in den letzten Jahren viel schlimmer geworden.
Auch damit ist eine wesentliche Form, warum Demokratie einen so flüchtigen, instabilen Charakter hat, benannt: um sich von dem Spiel der Massenmedien abzukoppeln, muss das politische System das Spiel mitmachen.
Das Ausbremsen des massenmedialen Informationsdurstes hat möglicherweise vielfältige Ursachen. Mindestens einer aber wird sein, dass Politik wesentlich langsamer entscheiden kann - im Guten wie im Schlechten -, als Massenmedien Informationen aufbereiten und verbreiten.
Inwieweit die Kopplung des politischen Systems an die Massenmedien die Informationsflut ausbremsen kann, bleibt dahingestellt.

Zwischencharakter
Nach Niklas Luhmann jedenfalls muss man noch eine andere Frage stellen.
Massenmedien, so Luhmann, unterbrechen den Kontakt zwischen Sender (das betreffende Medium) und Empfänger (das Publikum). Politiker sind nun eher in der Lage, dieses Unterbrechen des Kontaktes aufzuheben. Natürlich kann dies nicht vollständig passieren und nur in Einzelfällen können Proteste von Seiten der Politik zu entsprechend anderen Nachrichten führen. Trotzdem haben Politiker, indem sie Ursache und Ziel der (politischen) Information sind, einen etwas anderen Status als der Normalbürger.
Etwas anders gesagt und gefragt: Massenmedien sind Massenmedien für Normalbürger, aber sind Massenmedien auch Massenmedien für Politiker?

RM: Die Realität der Massenmedien von Niklas Luhmann, Opladen 1995
ND: Negative Dialektik von Theodor W. Adorno, Frankfurt a.M. 1994
La Dissémination von Jacques Derrida, ohne angegebenen Ort, édition de Seuil 1972

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