30.07.2007

Raumsoziologie, die dritte

Dritte Lieferung zur Raumsoziologie. Von Werner Friedrichs stammen die Zitate.

Die von kai lorentzen aufgeworfende frage halte ich - nicht nur angesichts des sog. spatial turn, der die kulturwissenschaften seit einigen jahren beschäftigt - für absolut relevant. ich glaube auch, dass der raum eine vernachlässigte größe in luhmanns werk ist.

Ich glaube nicht: Luhmann nimmt den Raum dort mit, wo er relevant erscheint. Sicherlich: er widmet ihm keine eigene Untersuchung und steht damit im Kontrast zu anderen soziologischen Größen, wie Simmel, Goffman. Ich glaube nur, dass Luhmann in seinem Werk alles mitgegeben hat, um eine Umschrift der Raumsoziologie zu leisten. Raum ist keine basale Kategorie in der Systemtheorie, zurecht!, und deshalb wird es in der Systemtheorie zwar Untersuchungen zum Raum geben, aber keine spatial turn.

Und man kann m. e., durchaus im sinne des spatial turns, versuchen den raum "tiefer" zu legen als auf die beobachtungsebene. dies insbesondere mit blick auf eine differentialistische Systemtheorie, in der ja mit laws of form eine "räumlich" gedachte logik zugrunde gelegt wird.

Räumlich gedacht heißt noch nicht räumlich: wie der Raum tiefer gelegt werden kann als auf die Beobachtung von Beobachtern ist mir unklar: Sinn - so Luhmann - ist ein zeitpunktfixiertes Ereignis; natürlich gibt es Köpfe, in denen dieser Sinn dann passiert, aber der Sinn abstrahiert sich sozusagen selbst von seinem Ort, an dem er passiert.

Der Raum, ob abstrakt oder konkreter, ist nur ein Begriff, der mit all dem versehen werden muss, mit dem Luhmann Begriffe versieht. Hier einer Vermischung zwischen wissenschaftlichem Begriff und der alltäglichen Kondensation von Erwartungshaltungen mit und durch Räume Vorschub zu leisten, halte ich für einen Rückschritt.

Es ist m.e. den versuch wert, dass abstraktionsniveau der (mathematischen) topologie zu nutzen um ein dynamischen raumkonzept zu entwerfen.

Womit man erfinden würde, was Luhmann voraussetzt: insofern Erwartungshaltungen an Räume dynamisch sind, d.h. sich evolutionär verändern, sind die Räume selbst dynamisch, aber nur auf "verliehene" Art und Weise: Erwartungshaltungen entstehen nur in sinnverarbeitenden Systemen; Räume sind für sinnverarbeitende Systeme nur in und durch Sinn konstruiert; also sind Raumerwartungen mit einer grundlegenden Eigenschaft von Sinnsystemen ausgestattet: sie sind dynamisch; damit aber sind auch Räume dynamisch.

Ich bin diesen gedanken im übrigen in meiner im winter bei transcript erscheinenden diss. nachgegangen, in der ich mich mit luhmann und deleuze an einer "topologie der differenz" versucht habe.

Nun: Topologien sind Topologien und keine Räume. Speisekarten schmecken auch nicht besonders und wenn man sie trotzdem isst, erntet man sicherlich Skepsis.

Deleuze (und Guattari) argumentieren mit vielen räumlichen Metaphern: alleine der Begriff Deterritorialisierung weist darauf hin, zugleich aber auch auf die Scheinhaftigkeit des räumlichen Bezugs. Begriffe wie "Ritornell" zeigen hier einen guten Weg auf: in der Rhythmisierung wiederholen sich ähnliche Figuren der "Raumkonstitution" - ähnlich dem Dompfaffmännchen, das sein Revier durch eine zugleich typisch gattungsgetreue, aber auch individuelle Melodie markiert.

So spatial turned ist der spatial turn dann oft nicht: die Heterotopie Foucaults durch Programme, die Idiorrhytmie Barthes ebenfalls und die imaginäre Vektorisierung Ettes schlagen in die gleiche Kerbe: mehr oder weniger strikt festgelegte Programme schwitzen die Räume als "fungierende Ontologie" (P. Fuchs) aus.
Roland Barthes: Wie zusammen leben?, Frankfurt am Main 2007
Michel Foucault: Von anderen Räumen, in: ders. Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main 2005
Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin 1997
Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben, Berlin 2005

"proliferance of examples"

Herr Leydendorff warf mir in meinen Ausführungen übrigens vor, ich würde eine "proliferance of examples", eine Vermehrung der Beispiele, betreiben.
Das hat zwei Gründe, die ich mir so nicht vorwerfen lasse:
1. Wenn ich mir eines Gebietes noch nicht sicher bin, mäandere ich gerne in Beispielen und praktischen Situationen herum.
2. Wenn Räume sozial ausgehandelt werden, entstehen unterschiedliche Räume auf unterschiedliche Weise. Man müsste hier gleichsam zu den Momenten zurückkommen, in denen ein Raum "geboren" wird, um dies präziser zu beobachten. In allen anderen Fällen sind Alltagsbeispiele tauglich, die Verstrickung von Erwartungshaltungen deutlich zu machen. Es geht also weder um eine Induktion, noch um eine Deduktion. Eher müsste man es als ein Herumschaukeln in einem situativen Begriffsnetz bezeichnen.

Nur als reine Begriffe sind Begriffe situationslos, oder - besser gesagt - alleine durch die Theorie vernetzt. Will ich einen Begriff bilden oder ihn anwenden, muss ich mich darauf einlassen, "Konkretes" zu beobachten, also Situationen, in denen es "wirkliche" Räume "gibt".

Herr Leydendorff zog den Vorwurf dann aber zurück, mit der Bemerkung: "I like examples."

Raumsoziologie, die zweite

Loet Leydesdorff schrieb:
It seems to me that the processing of meaning itself does not require physical space except for the coupling on the processing of information. In our thinking and discourse we need spatial metaphors because we can otherwise not think about processing. The spatial metaphors can be elaborated into mathematical topologies.
Das halte ich für eine schwierige Behauptung:
1. Luhmann selbst verweist auf räumliche Objekte - Skulpturen, Architektur -, die im Kunstsystem Kommunikation ausprägen. Der Raum taucht also, wenn auch eher indirekt, als kommunikative Größe wieder auf.
2. In Interaktionen sind räumliche Bezüge wichtig: ob ich mich in einer Kirche, in einer Eckkneipe oder bei meiner Eltern während des Abendessens am Gespräch beteilige, macht deutliche Unterschiede. Natürlich sind diese Unterschiede nicht dem Essen, das meine Mutter gekocht hat, oder dem Esstisch immanent, sondern flaggen hier Erwartungshaltungen aus (SozSys 362ff), die eigentlich woanders herkommen. Und natürlich kann ich sofort über funktionale Äquivalenz diesen Bezug zum Esstisch aufbrechen, allerdings nur zum Preis, dass ich meine Mutter und mich unter den Tisch fallen lasse. – Aber wenn ich mich in empirisch kleinen Situationen bewege, geht das natürlich nicht so einfach. Der Esstisch spielt einfach eine Rolle – auch wenn er nur Erwartungen ausflaggt, die von woanders her kommen. Wollen meine Brüder und ich zotige Reden schwingen, müssen wir zur Couch wechseln.
3. Es ist auch nicht egal, wo jemand spricht. Räume sind mit Erwartungen besetzt und natürlich kommen diese Erwartungen nicht aus den Räumen selbst. Aber Kirchen funktionieren nur so lange, solange sie einen Raum mit bestimmten Stereotypen belegen, mit Wänden, Bänken, Kanzel, Altar, möglichst Buntglasfenstern und Heiligenstatuen. Prediger außerhalb von Kirchen werden, wie gesagt, mit Befremden angesehen.
4. Insofern sind Räume a) Hilfen zur Reduktion komplexer Erwartungen: in einer Schulklasse kann man von einem Lehrer eben Unterricht erwarten und nicht, dass er über die Bratwurstversessenheit seines Partners schimpft; b) in Bezug auf Erwartungen eher Katachresen als Metaphern: die Erwartungen werden ja nicht ersetzt, sondern fremdartig umgebildet.
5. Insofern ermöglichen Räume – häufig, aber nicht immer – zwar auch das „coupling of the processing of information“, aber sie konditionieren auch das Wie?, geben also Prozessmuster vor. Ob ein Chirurg mit einem Skalpell in einem Operationssaal oder in einem dunklen, unheimlichen Park auftaucht, signalisiert eben den Unterschied zwischen einer Arztserie und einem Horrorfilm, zwischen der Erwartung einer Heilung und eines Mordes.
6. Raumsoziologien zäumen oft das Pferd von hinten auf: der Raum wird als feste Größe gesetzt, dann die Programme (Skripte, bzw. koordinierte Handlungsabfolgen - siehe SozSys 432) beschrieben, die Menschen in diesen Räumen vollziehen. Auch wenn versucht wird, den Raum nicht-positivistisch zu fassen, bleibt der Umkehrschluss, dass Programme Räume erzeugen, halbherzig. Die Diskussion in der Raumsoziologie, ob es absolute und relative Räume gibt oder nur absolute oder relative Räume, stellt sich meiner Ansicht garnicht: Räume sind zunächst Kondensationen von Erwartungshaltungen. Diese Erwartungshaltungen sind immer relativ zu anderen Erwartungshaltungen. Insofern sind absolute Räume nur Räume, die als absolut erwartet werden. Demnach enstehen absolute Räume vor allem dort, wo Erwartungsänderungen entmutigt werden. Es dürfte einigen Aufwand vorher und viel Ärger hinterher bedeuten, wenn ich den Bundestag abreißen möchte. Auch das Universum lässt sich nicht so leicht erobern - die meisten Versuche dieser Art sind fingiert.
7. Luhmann schreibt, dass Erwartungen "Episoden des Bewusstseinsverlauf" begründen (SozSys 362). Episoden! - nicht: Räume. Die Frage wäre hier also, welche Episoden, welche Arten von Episoden sich gegeneinander ausdifferenzieren lassen, die dann Räume konstituieren. - Wenn ich an Erzählungen denke, dann gibt es (mindestens) zwei Arten: die Beschreibung, deren "Leim" die (spatialen) Präpositionen sind; die Schilderung, deren "Leim" die Handlungen sind.
8. Luhmann schreibt auch, dass sich Erwartungen zu Ansprüchen verdichten können (SozSys 363f). Hier haben wir die Möglichkeit, relative und absolute Räume systemtheoretisch gegeneinander auszudifferenzieren. Beide Raumarten, die, die man erwartet, und die, auf die man einen Anspruch zu haben glaubt, sind natürlich relativ. Nur in Bezug auf ihre Flüchtigkeit unterscheiden sie sich. Ein absoluter Raum ist ein Raum, der nicht so leicht verschwindet. Luhmann schreibt allerdings auch, dass die Grenze zwischen Erwartung und Anspruch "flüssig und verschiebbar" sei (SozSys 364).
9. Wenn Episoden tatsächlich Räume konstruieren, gleichsam nebenbei "ausschwitzen", dann müsste sich plausibilisieren lassen, dass unterschiedliche Episoden aus ein- und derselben Lokalität unterschiedliche Räume herausziehen. - Wenn man schon Raumsoziologie betreibt, dann wäre dies der Ansatz, der mir am vielversprechendsten erscheint. Übrigens: Foucault schlägt ja mit seinem Begriff der Heterotopie etwas ähnliches vor. In der Heterotopie vermischen sich zwei konträre, teilweise krisenhaft entgegengesetzte Orte.
SozSys = Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1988
Loet Leydesdorff: Mitteilung in der Mailingliste zur Systemtheorie Luhmann, 2007
Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen, Frankfurt am Main 2006

Raumsoziologie, die erste

P. Fuchs schrieb:
„... daß Luhmann den Raum nicht in die Weltdimensionen von Sinn (sachlich, zeitlich, sozial) aufgenommen hat - aus Gründen, die man eigens diskutieren müßte und die vermutlich zusammenhängen mit der Vorstellung, daß Zeit Raum generiert oder immer schon in ihrer Beobachtung impliziert. Ich denke erst einmal, daß Raum, Räumlichkeit etc. zentrale infrastrukturelle Bedingungen von Kommunikation und Bewußtsein bezeichnen, wiewohl ich nicht dazu neige, Sinnsysteme selbst als räumliche Arrangements zu behandeln.“
Zentral ist an dieser Stelle doch Luhmanns Unterscheidungen, die er in „Kunst der Gesellschaft“ ab S. 179 eingeführt hat. Explizit sagt Luhmann auf der folgenden Seite:
„Raum und Zeit werden erzeugt dadurch, dass Stellen unabhängig von den Objekten identifiziert werden können, die sie jeweils besetzen. Dies gilt auch für den Fall, dass ein Verlust des »angestammten Platzes« mit der Zerstörung des Objektes (aber eben nicht: der Stelle!) verbunden wäre. Stellendifferenzen markieren das Medium, Objektdifferenzen die Formen des Mediums. Stellen sind anders, aber keineswegs beliebig, gekoppelt als Objekte. Und auch hier gilt: das Medium »an sich« ist kognitiv unzugänglich. Nur die Formen machen es wahrnehmbar. Man könnte also sagen: den Objekten werden die Medien Raum und Zeit unterlegt, um die Welt mit Varianz zu versorgen. Aber dafür sind dann wieder eigene Redundanzen erforderlich, nämlich die Nichtbeliebigkeit der Beziehungen zwischen Stellen im Raum, in der Zeit und in der Beziehung beider Medien zueinander.
In allen diesen Hinsichten stimmen Raum und Zeit überein. Sie werden beide auf gleiche Weise erzeugt, nämlich durch die Unterscheidung von Medium und Form, oder genauer: Stelle und Objekt.“ (S. 180, Hervorhebungen von mir)
1. Luhmanns Problem an dieser Stelle dürfte das sein, wie sich Stellen denn differenzieren lassen, vor allem wie sich Stellen gegeneinander differenzieren lassen. Nehmen wir an, Herr Luhmann stünde in einer einförmigen Sandwüste, dann müsste er mit seinem Finger einen Kreis in den Sand spuren, um überhaupt eine Stelle zu haben und damit natürlich hat er auch ein Objekt (eine kreisrunde Erhöhung/Vertiefung in einer sonst monotonen Sandfläche). Nur auf dieses Objekt hin kann man sich in etwa Stellen ohne Objekte vorstellen. Herr Luhmann könnte natürlich auch seinen eigenen Körper als Objekt nehmen, und sich von dort aus die Differenzierung der eintönigen Sandwüste imaginieren. - Es ist also nicht einfach so, dass eine Stelle ein Medium ist, und ein Objekt eine Form, die dieses Medium besetzt, sondern die Stelle – die sinnlich vorstellbare Stelle – ist abhängig von den Objekten, an denen diese Stelle ausdifferenziert werden kann. Anders ausgedrückt: um einen VanGogh aufhängen zu können, brauche ich eine Wand in einem Museum in einer Stadt.
2. Vielleicht kann man dieses Verhältnis anders lösen: ähnlich wie ich neue Begriffe nur dann bilden kann, wenn ich mich schon auf alte verlasse, so kann ich neue Räume nur dadurch entstehen lassen, indem ich alte Räume voraussetze. Statt also mit Objekten zu argumentieren, was hier missverständlich ist, würde ich Volumen einsetzen; dass diese Volumen natürlich eine Sonderfunktion von Objekten sind, ist klar. Eine Stelle wäre denn ein Nullobjekt bei gleichzeitig (imaginiertem) Objektvolumen.
3. Bisher hatte ich mit Wahrnehmung, also mit psychischen Systemen, argumentiert. Soziale Systeme beruhen natürlich auf Kommunikation und hier ist es dann wichtig, wie Räume transmedialisiert werden: wie Raum in einem nicht-räumlichen Medium fingiert wird. Die Karte ist dabei eine alte Form der Kommunikation, der Reisebericht, die Darstellung, die Versuchsanordnung, das Tafelbild und die Skulptur, etc. Zahlreiche Kommunikationsformen besetzen also den Raum durch Wahrnehmbarkeit, durch „Abbildung“ und „Repräsentation“. – Heikel wird die ganze Angelegenheit erst, wenn der Raum in linearisierten Medien auftaucht, in der Sprache. Hier kann man kaum sagen, dass ein Objekt eine Stelle besetzt, zumindest nicht das referenzierte Objekt. „Die Katze liegt auf der Matte.“ – und trotzdem wäre ich in der Lage, dies zu malen oder eine echte Katze auf eine Matte zu setzen und sagen: „Seht, genau dies wollte Searle uns damit bedeuten.“ Nur ist die Matte keine Stelle und die Katze kein Objekt, sondern die Matte differenziert gegenüber den umgebenden Objekten eine Stelle aus, die für das Objekt Katze Platz hat, und vielleicht auch noch für Esel-Hund-Hahn. Und in der Sprache ist die Matte sowieso nur eine Stelle, die virtuell ist, und an der auch "Mauer" oder "Titanic" stehen könnte.
4. Räume scheinen sich also auch ähnlich den Präsuppositionen zu verhalten, also dem, was vorausgesetzt wird, ohne dem Zweifler lange Widerstand bieten zu können: die Grenzen des Raumes können wohl vorausgesetzt werden, stehen aber Veränderungen offen. – Räume sind also eine andere Form, zumindest in der Kommunikation, Sinn auszuflaggen und zu erwarten, dass dieser Sinn dann sinnfällig ins Auge springt: als Straße, als Küche, als Bett oder als dasjenige Loch in der Wand, in dem ich meine Micky-Maus-Heftchen verstecke. - Insofern stimme ich Peter Fuchs entschieden zu:
„Entscheidend scheint mir, daß diese Chance geknüpft wird (ähnlich wie bei der Diskussion über Materialität) an die Einsicht oder das Verfahren, weder Raum noch Materialität a priori als Gegebenheiten anzusetzen, die berücksichtigt werden müßten, weil es sie irgendwie gibt.“
5. Dass Luhmanns Systemtheorie deshalb raumvergessen sein soll - wie dies in letzter Zeit häufiger zu hören und zu lesen ist -, halte ich für eine recht unsinnige Behauptung. Der Raum ist bei Luhmann ein Aspekt unter anderem und zwar in doppelter Weise. Zum einen schreibt er ständig über räumliche Bezüge, indem er auch über Objekte schreibt, zum Beispiel in „Wirtschaft der Gesellschaft“ über Geld, oder über Bücher, Maschinen, Salons Tischregeln, Kirchen, Schulen, menschliche Körper, etc.; zum anderen stützt sich Luhmann – natürlich! – auch auf räumliche Metaphern. Der erste Aspekt betrifft die Raumsoziologie selbst, der zweite die Semantik.
6. Räume sind nicht unwichtig, aber zahlreiche Raumbezüge lassen sich über die funktionale Äquivalenz ausmerzen, bzw. das Volumen lässt sich wegfunktionalisieren (zum Beispiel in der Sprache: Wale sind, in Worte gefasst, ausgesprochen kleine Tiere, viel kleiner als Eintagsfliegen). Sollte ich Herrn Fuchs demnächst mal zufällig an einer Berliner Ampel treffen, werde ich der Ampel nicht die Schuld für unser Zusammentreffen geben, genausowenig, wenn ich ihn in „meinem“ Aldi treffen würde. Andere Räume dagegen lassen sich nicht so leicht hinweg-äquivalenzieren. Menschen, die auf offener Straße predigen, sind seltsam, während eine Kirche dem schon einen ganz anderen Anstrich gibt. Ampel und Aldi sind gegenüber Herrn Fuchs wegäquivalenzierbar. Dagegen - aber wir sind es ja nur so gewohnt - kann man den Ort, an dem ein Mensch predigt (Straße oder Kirche), nicht so leicht durchstreichen.
  • Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1996
  • Peter Fuchs: Mitteilung in der Mailingliste zur Systemtheorie, 2007

Zettelkasten

Hier ein etwas älterer Eintrag aus meinem Zettelkasten - der Text stammt aus Stephen Kings Roman "tot" (The waste lands), die Kommentare von mir:
Im Arbeitszimmer seines Vaters roch es nach Zigaretten und Ehrgeiz. *** der Beginn des Abschnitts *** Ortsbestimmung: Jack und sein Vater wurden schon vorher eingeführt (intratextuelle Referenz): hier ist das Arbeitszimmer - in Bezug auf den vorangegangenen Abschnitt - die Markierung einer Schwelle: vorher war Jack auf dem Weg, jetzt ist er im Arbeitszimmer drinnen: Ort (komplexive Vernetzung) und Handlung (Skript) vermischen sich *** Zigaretten: Spur: der Vater raucht *** Zigaretten und Ehrgeiz: heterogene Nebeneinanderstellung; riechen ist hier einmal der Ausdruck einer konkreten Passion (Zigaretten riechen), einmal einer abstrakten Konzeption (den Ehrgeiz riechen), also eine Metapher: die Vermischung macht aus dem Satz etwas überraschend "Unpassendes": eine Katachrese (zugleich werden Zigaretten und Ehrgeiz "irgendwie" ineins gesetzt: auch hier haben wir es mit einer Metapher zu tun, mit einer vergleichweise kühnen).

Es wurde von einem riesigen Teakholzschreibtisch be­herrscht. Auf der anderen Seite des Zimmers, an einer Wand, die sonst mit Büchern voll gestellt war, waren vier Mitsu­bishi-Fernsehmonitoren eingelassen. *** hier wird der Ort (das Arbeitszimmer) in sich differenziert: die Beschreibung ist nichts anderes als das "Auffüllen" eines Ortes, der vorher abstrakt angekündigt worden ist *** King erzählt hier deutlich auktorial: was garnicht gewusst werden kann (die Bücher im Bücherregal), wird hier in die Erzählung mit eingebracht.

Jeder war auf einen der großen Konkurrenzsender eingestellt, und nachts, wenn sein Vater sich hier aufhielt, gab jeder seine Abfolge der Beste-­Sendezeit-Bilder von sich, aber der Ton blieb ausgeschaltet. *** Hinweis auf die Tätigkeit des Vaters: hier ist es allerdings nur eine Schein-Spur, denn die Fernseher werden erst durch einen Rückgriff auf die Vergangenheit zu dem, was sie sind: ein Arbeitsinstrument des Vaters; ansonsten bleiben die Fernseher sehr indifferent gegenüber dem, wozu sie dienen (die Multifunktionalität des Fernsehers).

Hier habe ich nicht explizit die Konntationen und den literarischen Code angegeben. Ich werde später noch einmal ein Beispiel mit den entsprechenden Codes posten.

Der Fettdruck markiert den Originaltext. Nach den "***" kommt jeweils ein Gedanke oder Gedankengang zu dem Text. Das Ganze ist nicht systematisiert, sondern "aus purer Lust" entstanden.

Wer am Zettelkasten - als Computerprogramm - Interesse hat, findet ihn unter Zettelkasten.

23.07.2007

"Trauer online"

Das sah ich heute nämlich im Internet und als ich einen weiteren Blick auf die Website warf, stand dort: "Der Online-Friedhof. Egal, ob Sie um ihre Oma oder einen Verwandten, ihr Haustier oder ihr Tamagotchi trauern: wie trauern mit Ihnen."
Was für eine pietätvolle Idee.

Harry Potter and the deathly Hallows

Der siebte Band von Harry Potter liegt gelesen im Bücherregal. Ich bin sehr zufrieden. Rowling wird immer besser, auch diesmal wieder. Das allerletzte Kapitel ist kitschig, aber zum Glück sehr, sehr kurz.

18.07.2007

Peter Handke "Der Bildverlust"

Peter Handke darf man durchaus zu den Vielschreibern rechnen. Allerdings: was für eine Sprache.
Auf dem Grabbeltisch habe ich "Der Bildverlust" erstanden. Zuerst hatte ich Mühe, mich in das sprachliche Universum Handkes hineinzuversetzen. Jetzt - drei Tage später - liebe ich diesen Roman.
Ich hatte das eine oder andere Mal, meist in meinen Rezensionen, beklagt, dass die Schriftsteller ihre Szenen zu wenig gegeneinander abgrenzen. Alles fließt ineinander über. Bunter Misch-Masch.
Handke ist da ganz anders. Seine Szenen sind klein, präzise, gut aufeinander abgestimmt. Vielleicht wird den meisten Lesern dieses handlungslose Schreiben auf die Nerven gehen: aber Peter Handke ist eben kein Markus Heitz. Trotzdem sei dieser Roman, zumindest als Studienobjekt, jedem Leser von Krimis, Thrillern oder Horror ans Herz gelegt. Vor allem all jenen Lesern, die sich zugleich am Schreiben versuchen.
Denn Handke weiß sehr genau, wie er eine Geschichte abfolgen lassen muss, um ihr eine große Sinnlichkeit und Spannung zu verleihen, und trotzdem in einzelnen Fragmenten zu schreiben, die in sich klingen und aufzeigen.
"Und auch er, der Formenforscher und Rhythmenmensch, ... Rhythmenmensch? Welcher Art Rhythmen? "Vor allem der Rhythmus des Verstehens, als des umfassendsten der Gefühle, Hand in Hand mit dem Rhythmus des Schweigens und Verschweigens." (Der Bildverlust, S. 17)

16.07.2007

Elemente der Spannung

Immer wieder ist Spannung ein großes Thema für Autoren. Hier sind einige Anmerkungen dazu, die ich eigentlich momo [einem Teilnehmer aus einer Schreibwerkstatt] geschrieben hatte.

Zwei Türen

Hierbei handelt es sich um den klassischen Aufbau der Spannungsgeschichte, bzw. um den Aufbau, wie er in vielen Schreibratgebern auf die eine oder andere Weise vermittelt wird:
Ausgangssituation ---> QUEST ---> Endkampf / Duell
Die Türen sind hier durch die Pfeile dargestellt.

Der erste Pfeil führt den Protagonisten in eine persönliche Verstrickung mit dem Problem.
Der zweite Pfeil führt zur Konfrontation, also - in der klassischen Form - zum Duell.

Beispiel I: Ein Mord passiert (Ausgangssituation); der Kommissar muss und möchte das Verbrechen lösen (persönliche Verstrickung: einmal ist der Kommissar "von Amt her" darin verwickelt, zum anderen könnte er das Verbrechen auch als besonders widerlich empfinden, also moralisch besonders engagiert sein); QUEST, die Suche, die alle möglichen Formen der Spurensuche enthält; durch besondere Umstände muss der Kommissar rasch und ungewöhnlich handeln (führt zur Konfrontation) und steht plötzlich dem Mörder selbst gegenüber (Duell).
Beispiel II: ein Junge hat eine tödliche Krankheit (Ausgangssituation); durch einen puren Zufall erlangt er ein magisches Artefakt, dass seine Krankheit zurückdrängt - jedoch ist dieses Artefakt sehr mächtig und wichtig (persönliche Verstrickung: Leben können / in eine fantastische Verschwörung verstrickt sein), weshalb er sich plötzlich mit allen möglichen fantastischen Wesen und seltsamen Bündnissen konfrontiert sieht (Quest), bis er schließlich das Geheimnis des Artefaktes löst und dieses zu seiner "Bestimmung" führt (zur Konfrontation), dabei aber dem dunklen Herrscher gegenüber treten muss (Duell).

Es gibt klassische Geschichten, die aber genau das wieder vermeiden. Im Herrn der Ringe gibt es keine wirkliche Konfrontation mit Sauron, zumindest nicht zwischen Frodo und Sauron. Dies ist natürlich der ganzen Struktur der Geschichte geschuldet: Frodo ist viel zu schwach, um es mit Sauron aufzunehmen; Frodo hat über den Ring eine beständige Konfrontation mit Sauron. Klassische Duellformen gibt es aber bei Tolkien massenweise: nur werden diese über Stellvertreter (das Orkheer, Gollum) inszeniert.

Hindernis

Ein klassisches Element ist das Hindernis. Der Protagonist hat einen Plan. Das Hindernis ist unvorhergesehen oder nur erahnt. Beim Ausweichen oder Überwinden des Hindernisses wird das Ziel unwahrscheinlicher oder - durch den Umweg - wahrscheinlicher.

(M)Ein Klassiker unter den Hindernissen ist der Weg durch die Minen von Moria: 1. der Weg durch die Westfold ist versperrt, weil die Gefährten zu dicht am Orthanc und damit an Saruman vorbeikommen; 2. der Weg über den Caradhras wird durch das Wetter vereitelt; 3. der Rückzug aus den Minen wird durch den Torwächter versperrt; 4. schließlich führt die Flucht in die Konfrontation der Gefährten mit den Orks und die Konfrontation von Gandalf mit dem Balrog: Gandalf stirbt.
Hier haben wir es mit einer Kette von Hindernissen zu tun: das letzte Hindernis - der Balrog - verschlechtert die ganze Situation. Gandalf stirbt. Der Weg wird noch gefahrvoller und ungewisser.

Flucht

Ein anderes klassisches Element ist die Flucht. Diese funktioniert sozusagen "automatisch". Die Situation ist so schlimm, wie sie sowieso kaum schlimmer kommen könnte (gewöhnlich die Gefangenschaft). Die Flucht wird hier zu einer überlebensnotwendigen Handlung.
Aber nicht immer, sogar meistens nicht, sind diese Fluchten so ernst wie in Thrillern und Fantasy. Es gibt Fluchten aus ökonomischen Gründen (Steinbeck: Früchte des Zorns), aus psychologischen Gründen (Mann: Tod in Venedig; Handke: Der Bildverlust), aus politischen Gründen (Tosca).

Ultimatum

Das Ultimatum ist sozusagen ein fester Zeitpunkt, ab dem alles zu spät ist. Ob dieser Zeitpunkt genau datiert ist (Wenn Sie bis morgen Mittag nicht die zwei Millionen zusammen haben, stirbt Ihre Tochter!) oder ungenau (Wir müssen ihn aufhalten, bevor er zu stark wird!), spielt dabei keine Rolle. Das Ultimatum geht mit einer Bedrohung einher (einem Tod, einer Vernichtung, einem Karriereknick). - Muss ich Beispiele bringen?

Unumkehrbarkeit

Unter diesem hübschen Wort versteckt sich einfach und schlicht die Tatsache, dass jeder Konflikt nach dem Muster Leben/Tod organisiert ist. Der Tod kann nicht rückgängig gemacht werden. Natürlich können hier ganz andere Dinge stehen: Freundschaft/Misstrauen. Der Übergang von der Freundschaft zum Misstrauen ist strukturiert wie der Übergang zum Tod.
Das mag seltsam anmuten: du kannst dir nämlich durchaus vorstellen, wie man ein Misstrauen auflösen kann. Allerdings ist eine Geschichte konstruiert und wenn du dir hier als Autorin keine Lösung vorstellen willst (weil deine Geschichte woanders hinführen soll als in die Freundschaft, die man zurückgewonnen hat), dann kannst du den Weg von der Freundschaft in das Misstrauen tatsächlich wie den Weg vom Leben in den Tod inszenieren. Er ist dann eben - für dich, in deiner Geschichte - unumkehrbar.

Unumkehrbarkeiten gibt es zahlreiche: die Veröffentlichung eines großen Werks (auch Berühmtheit ist eine Unumkehrbarkeit), die Entfremdung von den Eltern, die tragische oder traumatische Erfahrung.

Wie geht man mit solchen Begriffen um? Nun, zuallererst sucht man sie in seinen Lieblingsbüchern. D. h. es geht um eine Analyse.
Dann, indem man selbst möglichst viele von ihnen entwirft.
Drittens, indem man Geschichten danach schreibt. Oder: Plots (man kann sich ja erstmal einen Überblick verschaffen und sich dann überlegen, ob sich die Geschichte wirklich lohnt).

Hilfreich ist es auch, sich bei Amazon oder media-mania die Rezensionen anzuschauen. Gerade zu den "Zwei Türen" sind Rezensionen ein gutes Übungsfeld: sie liefern die halbe Geschichte. Den Rest muss man sich dazu denken oder erfinden. Hindernisse werden meist grammatisch-semantisch angekündigt: "doch", "jedoch", "aber" sind Hinweise darauf, dass es sich hier um Hindernisse handelt.

Symbole - linguistisch, bzw. strukturalistisch

Symbolik ist ein etwas heikles Thema.
Alleine deshalb, weil der Begriff Symbol sehr unterschiedlich genutzt wird. Es gibt linguistische Symbole, die man nicht mit literaturwissenschaftlichen Symbolen verwechseln darf. Diese sind aber wieder etwas anderes als Symbole in der Psychoanalyse. Diese psychoanalytischen Symbole wiederum unterscheiden sich von denen der Phänomenologie oder der der Systemtheorie.

Ok: diese Einleitung soll nur besagen, dass wir uns mit dem Begriff des Symbols die herrlichsten Missverständnisse aufladen und vorsichtig mit ihm umgehen sollten.
Die Narbe von Harry Potter ist tatsächlich ein Symbol: sie materialisiert (!) den Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen Verlust und Gewinn, zwischen Macht und Ohnmacht. Hier nun eine - wenn auch erstmal recht dämliche - Übersicht:
1. Jedes Symbol ist materiell, bzw. wird als materiell beschrieben - die Narbe, der Ring.
2. Jedes Symbol steht für einen möglichen oder realen Konflikt, d.h. in jedem Symbol findet sich irgendwie auch ein Gegensatz wieder: reich - arm, intelligent - dumm, schön - hässlich (man erinnere sich an der welkende Rose in Die Schöne und das Biest), gemeinsam - allein, Familie - Karriere, Genuss - Gesundheit.
3. Wichtig ist nicht unbedingt, dass das Symbol eine echte Opposition bildet: arm - reich muss nicht eine Opposition sein, wenn der Arme völlig glücklich ist; Familie und Karriere müssen keine Opposition sein, wenn man beides gut miteinander vereinen kann. Das heißt: der Konflikt kommt dem Symbol nicht von selbst, sondern von dem Kontext drumherum. Natürlich: es gibt viele so gewöhnliche Konflikte, dass das Symbol fast ohne Kontext auskommt. Wer stirbt schon gerne? Wer verliert seinen Partner gerne? Trotzdem streuen die Symbole ihre "Zeichen" in die Geschichte aus, und sammeln sie so ein, dass sie - die Symbole - einen Konflikt "in sich hüten".
4. Symbole streuen also Zeichen aus, zumeist sogenannte Indexe oder Symptome. Indexe sind Zeichen, die auf eine räumliche Nachbarschaft und kausale Abhängigkeit verweisen: wo Rauch ist, ist auch Feuer; oder, auf Harry Potter gewendet: wenn Snape's Blick bei Harry Schmerzen verursacht (also "Rauch"), dann ist da auch eine Boshaftigkeit da ("Feuer"). Symptome dagegen sind viel schwieriger zu fassen. Fieber etwa ist ein Symptom für die Grippe: aber ist Fieber nun eine Folge der Grippe, in der Nachbarschaft der Grippe? Symptome sind meist eine Mischung aus Wirkung und Gegenreaktion. Sie sind deshalb so schwer zu erfassen, weil sie nicht eine einzige Ursache haben (das Fieber entsteht nicht aus der Grippe: die Möglichkeit, Fieber zu haben, ist im Körper angelegt, für den Fall, dass er mal eine Grippe hat). Nehmen wir noch einmal Snape: seine Boshaftigkeiten gegenüber Harry speisen sich nicht aus einer Quelle. Sicher: es könnte ein Zeichen seiner Treue zu Voldemort sein, aber auch ein Zeichen seiner Maskerade in der Spionage, allerdings spielt dann auch Harrys Vater und die Feindschaft zwischen ihm und Snape eine Rolle.
5. Symbole streuen Zeichen aus: d.h. auch, dass nur die Narbe ein Symbol ist, aber nicht der Blick Snapes, auch nicht die Schmerzen, die Harry hat. Es gibt zahlreiche solcher Symbole bei Harry Potter: den Stein der Weisen (Teil I), das Tagebuch (Teil II), Sirius Black (Teil III). Interessant ist der IV. Teil, weil es hier keine großen Symbole gibt, keine eigentlich umkämpften Symbole. In Teil V ist es die Prohezeiung und in Teil VI sind es die Horcruxe. Symbole jedenfalls sammeln und zerstreuen zugleich die Geschichte: sie sammeln sie, weil sie natürlich alle möglichen Zeichen in der Geschichte auf sich beziehen; die Eulenpost, die Narbe, das geheimnisvolle Päckchen in Teil I, das Tagebuch, Dobbie, die rätselhafte Stimme in Teil II, Black, der Grimm, die Dementoren in Teil III, und so weiter.
6. Es gibt nun, wenn man diese Darstellung des Symbols akzeptiert, drei Formen des Symbols, bzw. drei mögliche Konflikte, die diese symbolisieren: die Unüberschreitbarkeit, die Unumkehrbarkeit und der halluzinierte Tausch.
7. Die Unumkehrbarkeit symbolisiert den Übergang vom Leben in den Tod. Harrys Narbe ist hier ein fast klassisches Symbol: in dem Moment, in dem er sterben sollte, wird der Tod in ein Kainsmal verwandelt. Es ist nicht so wichtig, dass das Symbol hier etwas Wirkliches darstellt, wichtig ist nur, dass es etwas verspricht. In diesem Fall den Kampf auf Leben und Tod. Die Dementoren symbolisieren den Übergang von der Vernunft zum Wahnsinn, bzw. von der Beseeltheit zur Seelenlosigkeit.
8. Bevor ich zu den beiden anderen Formen komme, möchte ich etwas zum Umgang mit den Symbolen sagen. Kein Symbol ist eine "wirkliche Tat". Deshalb sind Symbole in einer Geschichte zwiespältig und für diese Zwiespältigkeit offen. Eine dieser Zwiespältigkeiten ist der Aufschub. Die Narbe bedeutet nicht Harrys Tod, aber sie verspricht diesen, indem sie ihn gleichzeitig aufgeschoben hat. Der Meister-Ring verwirklicht nicht die Herrschaft Saurons über Mittelerde, aber er verspricht diese, falls Frodo scheitert. Das Meer in "Findet Nemo" schiebt den Tod des Sohnes auf, aber verspricht ihn auch.
9. Es gibt eine andere Form, mit dem Symbol umzugehen und das ist der Zwischenzustand. Der Klassiker unter den modernen Symbolen ist der Zombie: weder tot noch lebendig verkörpert er den unmöglichen Zustand. Der Vampir bedeutet etwas ähnliches, und die klassische marxistische Ableitung ist die Entfremdung: in die Gesellschaft integriert, aber um den Preis des eigenen Willens. Dawn of the Dead wurde dementsprechend auch als Kritik an der Konsumgesellschaft gelesen, bzw. gesehen - zumindest von einigen marxistischen Filmtheoretikern und ihren nachplappernden Papageien. (Ich nehme diese Interpretation aber durchaus ernst, nur die Papageien nicht.) - Andere Zwischenzustände findet man überall dort, wo es einen Aufschub gibt. Für uns Autoren ist dieser Zwischenzustand deshalb interessant, weil er erlaubt, eine Geschichte zu erzählen. Alice' Roman "Blackout" funktioniert ja genauso: ein Mädchen verschwindet; die Situation verspricht den Tod, ist aber so lange aufgeschoben, solange nicht die Leiche gefunden wird.
10. Eine andere Form des Symbols ist die Unüberschreitbarkeit. Hier sind grundlegend zu nennen: Mann/Frau, die Rassenunterschiede oder die Unterschiede in der Subkultur, häufig auch: arm/reich, gesund/krank, vernünftig/wahnsinnig. Der Übergang von der einen zur anderen Seite ist nicht leicht möglich, obwohl es sie gelegentlich gibt: die Geschlechtsumwandlung, die kosmetischen Operationen (Michael Jackson), die Verarmung, die Krankheit. Auch hier kommt es darauf an, wie ein Symbol genutzt wird: die Verarmung ist eher nach der Unumkehrbarkeit strukturiert, aber häufig genug gibt es Geschichten, in denen die Armen und die Reichen so fest getrennt sind, dass es sich um eine Unüberschreitbarkeit handelt. Bei Harry Potter ist dies zum Beispiel auch die Opposition Lehrer / Schüler. Natürlich wird diese mehrmals durchbrochen: einmal durch den Wahnsinn Gilderoy Lockhardts, dann aber auch dadurch, dass Harry seine Mitschüler in der Verteidigung gegen die dunklen Künste ausbildet.
11. Die Überschreitung einer Unüberschreitbarkeit hat immer die Aura eines Skandals. Es gibt den Überläufer zwischen zwei feindlichen Lagern, den Verräter, den Spion. Es gibt die Geschlechtumwandlung und die Drag-Queens, bzw. Drag-Kings (echte und vorgetäuschte Überschreitung). Es gibt den Börsenkrach und die Pest (Die Maske des roten Todes).
12. Häufig kommt aus diesem Symbol auch eine Bedrohung: Harry, der durch die Narbe Voldemort ausgeliefert ist, Frodo, der durch den Ring Sauron ausgeliefert ist. Die Verweiblichung des Mannes wie die Vermännlichung der Frau wird (häufig genug) als Bedrohung empfunden, die kapitalistische Entfremdung ebenso, oder die Isolation. Diese gehen einher mit typischen Symbolen: das dicke Auto als Symbol der Männlichkeit und - das ist die Ambivalenz des Symbols - als Symbol der Angst vor der Verweiblichung; das Gefängnis als Symbol der Isolation, das Schiff als Symbol der Entfremdung (obwohl das Schiff in anderen Geschichten ein ganz anderes Symbol spielen kann: so ist das Schiff in Jacksons King Kong ein Symbol für die Männlichkeit, das männliche Abenteuer und den männlichen Ruhm und die Insel ist das Symbol der Isolation, mitsamt den tödlichen Gefahren, die die Isolation mit sich bringt).
13. Von allen Symbolen ist der halluzinierte Tausch am schwierigsten zu begreifen. Er symbolisiert sich in der Opposition innen/außen. Dieses Symbol macht deshalb dem Schriftsteller so große Probleme, weil jedes Innen und jedes Außen nebeneinander im Text steht. Handlungen (=außen) stehen neben Gefühlsregungen (=innen). Jedes Innen konstruiert sich durch eine Zugehörigkeit: ein Gefühl ist immer ein Gefühl, das zu einem Menschen gehört. Man gehört einer Gruppe an, man gehört einer Klasse oder Rasse an. Man gehört zu einer Zeit oder zu einem Ereignis ("Du weißt ja nicht, wovon du sprichst. Du hast den Krieg niemals erlebt.").
14. Zwiespältigkeiten im halluzinierten Tausch sind zum Beispiel Projektionen (Nicht ich bin wütend, du bist es!), Introjektionen (Nicht der andere ist schuldig, ich bin es!). Auch das ist problematisch, weil sich diese Mechanismen ständig ereignen. Jede Gefühlsregung hängt in irgendeiner Weise mit der Umwelt zusammen. Sie ist also nie ganz innerlich. Keine Gruppe kann sich nur in sich selbst konstituieren. Sie braucht immer andere, gegen die sich die Gruppe konstituiert.
15. Symbole des halluzinierten Tauschs sind Verträge (zum Beispiel der für Dumbledores Armee), bestimmte Zeichen (die Farben der Häuser von Hogwarts), Rassenmerkmale. - Das größte Problem dieses Symbols ist die Fehlinterpretation. Da jeder Tausch, wie der Name schon sagt, halluziniert ist (ich tausche meine Handlungen gegen meine große Kompetenz, d.h. meine große Kompetenz wird durch meine Handlungen und meine Werke charakterisiert), ist die Fehlinterpretation sozusagen eine der Grundbedingungen, warum es dieses Symbol überhaupt gibt.
16. Seid ihr mit den Erklärungen herumgeeiert und habt einiges nicht verstanden? Das ist kein Wunder. Ich habe oben gesagt, das Symbole Materialisierungen seien. Also zum Beispiel eine Narbe. Aber die Narbe bei Harry Potter hat zahlreiche symbolische Funktionen: sie zeigt den Aufschub an und damit auch eine Unumkehrbarkeit. Sie schließt Harry aus und macht ihn zu etwas Besonderem: eine Unüberschreitbarkeit. Sie weist auf eine besondere Vermischung zwischen Innen/Außen hin, also einen besonderen halluzinierten Tausch (der Schmerz, die Albträume, die Einflüsse von Voldemort). Die Narbe steht also für alle drei Formen des Symbols. Wie denn nun? - Das Symbol materialisiert nur. Die Struktur des Symbols ist hier wichtig. Ich hatte in meinen Erklärungen immer wieder einen "-" (Bindestrich) oder einen "/" (slash, Schrägstrich) eingefügt. Und eigentlich ist es dieser Binde- oder Schrägstrich, der für die Struktur des Symbols steht. Und dieser Schrägstrich bekommt seine ganze Struktur wieder aus der Geschichte selbst, aus dem Kontext. Und deshalb ist das Symbol nur scheinbar materialisiert, in Wirklichkeit kann man nur auf die Struktur und die Funktionen des Symbols hinweisen.
17. Zudem ist eine wichtige Funktion, dass das Symbol sich ändern kann. Erst der Aufschub, der durch Harrys Narbe symbolisiert wird, ermöglicht die zahlreichen Unüberschreitbarkeiten (Feindschaften), die Harry dann bedrohen. Die Narbe symbolisiert eben beides. - Für den Schriftsteller ist es sogar wesentlich, dass er die Symbole ändert. Ohne diese gibt es keine Geschichten. Es ist wichtig, dass Frodo nicht im Auenland bleibt, sondern es verlässt (die Überschreitung des Unüberschreitbaren); dass Frodo die Konfrontation (das Unüberschreitbare von Gut/Böse) aufschiebt, nicht nur, weil er diese nicht gewinnen kann, sondern weil er dadurch einen halluzinierten Tausch ermöglicht, in dem Frodo sich mehr und mehr der Macht des Ringes ausliefert (aus dem Außen vom Ring wird ein Innen in Frodo selbst), und auch, dass Sauron Gondor angreift, statt Frodo zu suchen (auch das ist ein halluzinierter Tausch).
18. Jede Geschichte lässt sich also durch solche symbolischen Strukturen (Oppositionen) darstellen und wird durch symbolische Funktionen (Änderungen in der symbolischen Struktur) vorangetrieben.
Hier noch einmal zur Übersicht:
Unumkehrbarkeit - Modell: Leben/Tod - Logik: kausal - Funktion: Aufschub, Endgültigkeit, Ultimatum - Ambivalenz: Zombie, Entfremdung
Unüberschreitbarkeit - Modell: Mann/Frau - Logik: ergänzend/widersprechend - Funktion: Missverständnis, Bedrohung - Ambivalenz: Überschreitung, Täuschung und Verkleidung
halluzinierter Tausch - Modell: innen/außen - Logik: Zugehörigkeit - Funktion: Gewohnheit, Verstehen, Eigensinnigkeit - Ambivalenz: Fehlinterpretation

Grundsätzlich kann man jede Geschichte in solchen Symbolen darstellen: solltet ihr Lust haben, dies zu tun, dann sucht euch einen eurer Lieblingsromane, sammelt erstmal Ideen, dann versucht mal den ganzen Plot in Form von Symbolen und Änderungen der Symbole darzustellen (am besten grafisch: dazu braucht ihr möglichst auch noch Farben und bei einem Roman zahlreiche Blätter).
Die Aufgabe ist zwar mühsam, lohnt sich aber, weil ihr so ein gutes Gefühl für den Aufbau von Geschichten bekommt und während der Arbeit immer mehr Möglichkeiten seht, was man anders machen könnte, also hier Fantasien entwickelt, die euch beim Schreiben eurer eigenen Geschichten helfen.

10.07.2007

Genealogie und Figur

Was erfährt der Genealoge aus den Dingen?
Dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren, die ihm fremd waren, aufgebaut worden ist.
Foucault schreibt dazu: "Am historischen Anfang der Dinge findet man nicht die immer noch bewahrte Identität ihres Ursprungs, sondern die Unstimmigkeit des Anderen." (NGH, 71)

Die Figur ist kein unschuldiger Begriff. Barthes benutzt ihn (seit wann?). Er benutzt die Figur, um seine eigenen kleinen Forschungen, sein kleines Schreiben zu bezeichnen. Nun scheint mir, dass die Figur, so wie Barthes sie verwendet, etwas sehr Ähnliches bezeichnet, wie in der Verwendung von Foucault.

Etwas apodiktisch gesagt:
Die Figur ist keine ruhige Konstellation, in der sich zwei - oder mehrere - Wesen zu einem besseren oder vernünftigeren Wesen aufheben. Es ist nicht der Moment der Synthese und nicht das Spiel einer überwachten und sich reinigenden Dialektik.
Die Figur ist eher der Moment, in dem zwei oder mehrere Kräfte auf der Bühne erscheinen, an jenem unmöglichen Ort, der den Gegnern keinen gemeinsamen Platz einräumt und sie zu einem Zwischenfall zwingt, in dem die eine Kraft die andere Kraft überwältigt.
Die Figur zerlegt also diesen Moment des Erscheinens in ihre Kräfte, zieht ihre Eigenheiten nach, gerade in dem kurzen Moment, bevor der Kampf beginnt oder entschieden wird. Sie markiert die Mitspieler, die Beziehungen zwischen ihnen und stellt diese - in der Schrift - für einen Moment lang still, um das Aufblitzen der Kräfte spürbar zu machen.
Die Figur ist eine eingefrorene Dramatik, eine Dialektik im Stillstand (Walter Benjamin) oder eine Konstellation des Erwachens (Walter Benjamin). Sie ist entschieden anti-narrativ. Oder sie ist zumindest so weit gegen die Narration, als alle narrativen Versatzstücke, alle narrativen Gewöhnlichkeiten ebenfalls nur Elemente im Spiel sind.

Der Genealoge zeichnet diese Figuren nach. Er häuft hier eher die Trümmer zusammen und lässt ihr Ziel offen. Der Genealoge ist kein Architekt, kein Konstrukteur großer Bauwerke. Selbst die bestehenden Bauwerke, so glänzend sie sein mögen, so feierlich sie der Menschheit dienen, sind für ihn aus den Trümmern aufgebaut - eher ein Spiel der Überwältigungen und der Kämpfe, die zufällig das eine oder andere Ende genommen haben, als das langsame Fortschreiten der Vernunft.

NGH = Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders. Subversion des Wissens, Frankfurt am Main 1987

03.07.2007

Zeichen und Witze

Rechts steht das klassische Zeichenmodell nach deSaussure. DeSaussure war ein Sprachwissenschaftler, der mit seiner Definition des Zeichens sehr einflussreich geworden ist.

Oben im Kringel steht das Bild eines Baums. DeSaussure bezeichnet es als Vorstellungsbild, Bezeichnetes oder Signifikat. Es ist ein rein mentales Bild.
Gerade die letzte Aussage ist wichtig, denn das Vorstellungsbild ist nicht die Realität, nicht der tatsächlich existierende Baum.
Unten im Kringel steht das Lautbild, Bezeichnende oder der Signifikant. Dieses Lautbild ist durch die Buchstaben so stark codiert, dass es wiederholbar ist.
Lautbild und Vorstellungsbild sind durch einen Strich voneinander getrennt: der Strich bezeichnet die logische Beziehung zwischen Lautbild und Vorstellungsbild. Da der gedachte Baum und die Lautfolge nichts miteinander zu tun haben, außer dass man sie durch lange Gewohnheit zueinander zuordnet, ist diese innere logische Beziehung willkürlich (der Baum in der Vorstellung kann auch als tree oder arbre bezeichnet werden), während die äußerliche Beziehung die Gewohnheit (in der Sprachgemeinschaft) ist.
Dieses Modell weist eine Reihe von Problemen auf, und zunächst sind dies Interpretationsprobleme. Um dies deutlich zu machen, gibt es hier zwei Witze (Witze sind hochlinguistische Angelegenheiten):
"Ein Junge und ein Mädchen - Bruder und Schwester - fahren zum ersten Mal alleine mit dem Zug. Wie es der Zufall so will, hält der Zug genau gegenüber der Bahnhofstoiletten. 'Sieh da!', sagt der Junge, 'wir sind in Frauen.' 'Idiot!', sagt seine Schwester, 'man sieht doch gleich, dass wir in Männer sind.'"
  1. Zunächst einmal verstehen beide Kinder den Kontext falsch: die Schilder über den Toilettentüren benennen keineswegs den Bahnhof, sondern etwas ganz anderes: den Ort, an dem Männer und Frauen nicht zusammenkommen können (die öffentlichen Toiletten).
  2. Dann versteht jedes Kind aus seinem Blickwinkel den Kontext falsch.
  3. Drittens aber - und dies macht der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan deutlich - sind die Türen sehr wohl gleichaussehend, und nur die Beschriftung anders. Das Lautbild ist verschieden, aber das Vorstellungsbild gleich (eine Tür).
Der zweite Witz geht folgendermaßen:
"'Ja, sag mal Peter', staunt Jan nach dem Pferderennen, das Peter einen hohen Gewinn gebracht hat, 'woher wusstest du, dass das Pferd mit der Nummer 49 gewinnt? Das war doch ein völliger Außenseiter!' 'Na,letzte Nacht hat's mich geträumt, dass mir acht Jungfrauen je sechs Goldtaler schenken.' Nach einigem Überlegen sagt Jan: 'Ja, aber acht mal sechs macht doch achtundvierzig.' Sagt Peter: 'Na, geh' mir mit deiner Mathematik.'"
  1. Nicht nur ist die Zahl auf dem Pferd eine willkürliche und zeitlich begrenzte (sie reduziert den Namen des Pferdes auf eine Nummer während eines Pferderennens).
  2. Der Traum hat rein garnichts mit dem Renn-Gewinner zu tun.
  3. Peter versteht eine präzise Sprache (die Mathematik) erstens falsch und zweitens ist ihm das egal. Wichtig ist, dass sich Peter's Interpretation - so wirr sie auch sein mag - bestätigt hat.
Daraus ergeben sich eine Reihe, zum Teil recht umfangreiche Probleme für die Zeichentheorie:
  1. das (Miss-)Verstehen des Kontexts
  2. die Perspektive des (Zeichen-)Interpreten
  3. die Verwechslung des Vorstellungsbildes
  4. die Zeitlichkeit des Zeichens (und damit der Wechsel der willkürlichen Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant)
  5. die Willkürlichkeit des Zeichens, die der Willkürlichkeit des Zeichens die Tür öffnet (na, diesen Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen)
  6. das Missverstehen eines Sprachsystems (hier der Mathematik)
Damit sind mit Sicherheit nicht alle Probleme umrissen, die deSaussures Zeichenmodell aufwirft. Schließlich muss man hier auch noch einberechnen, dass das Bild, so wie ich es oben gezeigt habe, ein komplexes Zeichen ist.
Hier also: Fragen über Fragen.
Vielleicht kann ich das eine oder andere in nächster Zeit aufklären. Alles sicherlich nicht.

Liebe JaelleKatz!

Es ist zwar schon etwas länger her, als du in einem Kommentar über die Zeichen geschrieben hast, aber ich habe einige Zeit gebraucht, um mich hier für eine Antwort frei zu fühlen. Ich werde hier und da zeigen, warum.
Du hast also geschrieben:

Das Sinnbild oder die Metapher oder das Zeichen setzt sich zusammen aus dem Signifikat (dem Bezeichneten) und dem Signifikant (dem Bezeichnenden). Beides zusammen, Signifikat und Signifikant, bilden eine außersprachliche Realität. Das Zeichen selbst ist Realität, das gesprochene Wort ist eine soziale Realität. Das Kind kommt in die menschliche Realität hinein, indem es einen Bezug zu den Zeichen gewinnt. Wenn die sinnliche Erfahrung zu einem Zeichen wird, dann schafft die materielle Befriedigung nicht mehr die volle Befriedigung, es fehlt etwas. Aus diesem Fehlen entsteht eine Erwartungs- und Sehnsuchtshaltung, welche nicht vollständig in der Sprache faßbar wird. Einverstanden?

Einverstanden, fragst du mich.
Nein, keineswegs. Allerdings kommen hier so viele Sachen zusammen, dass ich ein wenig weiter ausholen muss.

  1. Sinnbild, Metapher und Zeichen darf man keinesfalls gleichsetzen.
  2. Auch Zeichen sind nicht einheitlich. Was heute üblicherweise als Zeichen bezeichnet wird, ist das linguistische Symbol - und dieses linguistische Symbol ist nicht zu verwechseln mit literaturwissenschaftlichen Symbolen oder mit psychoanalytischen Symbolen; wobei es hier wieder darauf ankommt, von welcher Literaturwissenschaft und welcher Psychoanalyse man ausgeht. Es ist also vorerst ein recht verworrener Begriff.
  3. Metaphern sind in den letzten dreißig Jahren stark diskutiert worden. Es gibt zahlreiche Aufsatzsammlungen mit teilweise recht widersprüchlichen Ergebnissen. Welcher man davon stattgeben will, ist fast schon eine Glaubensfrage.
  4. Sinnbild ist sowieso ein recht seltsamer Begriff.
Da ich Alice sowieso versprochen hatte, meine kleinen semiotischen Forschungen über Kriminalroman und Thriller zu etwas Geordnetem zusammenzustellen, ich aber gerade mehr bei einer fragmentarischen Schreibweise bin, kommt hier demnächst also ein kleines Sammelsurium an Betrachtungen zu dem ganzen Thema.

02.07.2007

Kneipengespräch sein und Kneipengespräch haben

"Das häufigste Thema, über das die Philosophen in den letzten vierhundert Jahren geschrieben haben, ist das Thema Sein und Haben. Das ist total spannend. Wenn man nämlich etwas hat, dann ist man nichts und das Sein, das ist ja so alles, was man ist, also wenn man zum Beispiel Gefühle hat. Der letzte Philosoph, der darüber geschrieben hat, das war Sartre, in seinem äh ... äh ... Buch 'Sein oder Nicht-Sein'."
Außerdem erkühnte sich die Referentin zu der Behauptung, Sartre habe die Verneinung in die Philosophie eingeführt. Alle Philosophen vorher hätten nur positiv gedacht.
Schließlich: Simone de Beauvoir habe den Feminismus durchdacht, wie keine Frau danach.

Ich war von diesen Ausführungen so erschlagen, dass ich garnicht meinen Foucault weiterlesen konnte. Vor allem, weil ich die Referentin als eindeutig weiblich identifiziert habe. So geschehen im Café Morgenrot / Berlin.