16.07.2007

Symbole - linguistisch, bzw. strukturalistisch

Symbolik ist ein etwas heikles Thema.
Alleine deshalb, weil der Begriff Symbol sehr unterschiedlich genutzt wird. Es gibt linguistische Symbole, die man nicht mit literaturwissenschaftlichen Symbolen verwechseln darf. Diese sind aber wieder etwas anderes als Symbole in der Psychoanalyse. Diese psychoanalytischen Symbole wiederum unterscheiden sich von denen der Phänomenologie oder der der Systemtheorie.

Ok: diese Einleitung soll nur besagen, dass wir uns mit dem Begriff des Symbols die herrlichsten Missverständnisse aufladen und vorsichtig mit ihm umgehen sollten.
Die Narbe von Harry Potter ist tatsächlich ein Symbol: sie materialisiert (!) den Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen Verlust und Gewinn, zwischen Macht und Ohnmacht. Hier nun eine - wenn auch erstmal recht dämliche - Übersicht:
1. Jedes Symbol ist materiell, bzw. wird als materiell beschrieben - die Narbe, der Ring.
2. Jedes Symbol steht für einen möglichen oder realen Konflikt, d.h. in jedem Symbol findet sich irgendwie auch ein Gegensatz wieder: reich - arm, intelligent - dumm, schön - hässlich (man erinnere sich an der welkende Rose in Die Schöne und das Biest), gemeinsam - allein, Familie - Karriere, Genuss - Gesundheit.
3. Wichtig ist nicht unbedingt, dass das Symbol eine echte Opposition bildet: arm - reich muss nicht eine Opposition sein, wenn der Arme völlig glücklich ist; Familie und Karriere müssen keine Opposition sein, wenn man beides gut miteinander vereinen kann. Das heißt: der Konflikt kommt dem Symbol nicht von selbst, sondern von dem Kontext drumherum. Natürlich: es gibt viele so gewöhnliche Konflikte, dass das Symbol fast ohne Kontext auskommt. Wer stirbt schon gerne? Wer verliert seinen Partner gerne? Trotzdem streuen die Symbole ihre "Zeichen" in die Geschichte aus, und sammeln sie so ein, dass sie - die Symbole - einen Konflikt "in sich hüten".
4. Symbole streuen also Zeichen aus, zumeist sogenannte Indexe oder Symptome. Indexe sind Zeichen, die auf eine räumliche Nachbarschaft und kausale Abhängigkeit verweisen: wo Rauch ist, ist auch Feuer; oder, auf Harry Potter gewendet: wenn Snape's Blick bei Harry Schmerzen verursacht (also "Rauch"), dann ist da auch eine Boshaftigkeit da ("Feuer"). Symptome dagegen sind viel schwieriger zu fassen. Fieber etwa ist ein Symptom für die Grippe: aber ist Fieber nun eine Folge der Grippe, in der Nachbarschaft der Grippe? Symptome sind meist eine Mischung aus Wirkung und Gegenreaktion. Sie sind deshalb so schwer zu erfassen, weil sie nicht eine einzige Ursache haben (das Fieber entsteht nicht aus der Grippe: die Möglichkeit, Fieber zu haben, ist im Körper angelegt, für den Fall, dass er mal eine Grippe hat). Nehmen wir noch einmal Snape: seine Boshaftigkeiten gegenüber Harry speisen sich nicht aus einer Quelle. Sicher: es könnte ein Zeichen seiner Treue zu Voldemort sein, aber auch ein Zeichen seiner Maskerade in der Spionage, allerdings spielt dann auch Harrys Vater und die Feindschaft zwischen ihm und Snape eine Rolle.
5. Symbole streuen Zeichen aus: d.h. auch, dass nur die Narbe ein Symbol ist, aber nicht der Blick Snapes, auch nicht die Schmerzen, die Harry hat. Es gibt zahlreiche solcher Symbole bei Harry Potter: den Stein der Weisen (Teil I), das Tagebuch (Teil II), Sirius Black (Teil III). Interessant ist der IV. Teil, weil es hier keine großen Symbole gibt, keine eigentlich umkämpften Symbole. In Teil V ist es die Prohezeiung und in Teil VI sind es die Horcruxe. Symbole jedenfalls sammeln und zerstreuen zugleich die Geschichte: sie sammeln sie, weil sie natürlich alle möglichen Zeichen in der Geschichte auf sich beziehen; die Eulenpost, die Narbe, das geheimnisvolle Päckchen in Teil I, das Tagebuch, Dobbie, die rätselhafte Stimme in Teil II, Black, der Grimm, die Dementoren in Teil III, und so weiter.
6. Es gibt nun, wenn man diese Darstellung des Symbols akzeptiert, drei Formen des Symbols, bzw. drei mögliche Konflikte, die diese symbolisieren: die Unüberschreitbarkeit, die Unumkehrbarkeit und der halluzinierte Tausch.
7. Die Unumkehrbarkeit symbolisiert den Übergang vom Leben in den Tod. Harrys Narbe ist hier ein fast klassisches Symbol: in dem Moment, in dem er sterben sollte, wird der Tod in ein Kainsmal verwandelt. Es ist nicht so wichtig, dass das Symbol hier etwas Wirkliches darstellt, wichtig ist nur, dass es etwas verspricht. In diesem Fall den Kampf auf Leben und Tod. Die Dementoren symbolisieren den Übergang von der Vernunft zum Wahnsinn, bzw. von der Beseeltheit zur Seelenlosigkeit.
8. Bevor ich zu den beiden anderen Formen komme, möchte ich etwas zum Umgang mit den Symbolen sagen. Kein Symbol ist eine "wirkliche Tat". Deshalb sind Symbole in einer Geschichte zwiespältig und für diese Zwiespältigkeit offen. Eine dieser Zwiespältigkeiten ist der Aufschub. Die Narbe bedeutet nicht Harrys Tod, aber sie verspricht diesen, indem sie ihn gleichzeitig aufgeschoben hat. Der Meister-Ring verwirklicht nicht die Herrschaft Saurons über Mittelerde, aber er verspricht diese, falls Frodo scheitert. Das Meer in "Findet Nemo" schiebt den Tod des Sohnes auf, aber verspricht ihn auch.
9. Es gibt eine andere Form, mit dem Symbol umzugehen und das ist der Zwischenzustand. Der Klassiker unter den modernen Symbolen ist der Zombie: weder tot noch lebendig verkörpert er den unmöglichen Zustand. Der Vampir bedeutet etwas ähnliches, und die klassische marxistische Ableitung ist die Entfremdung: in die Gesellschaft integriert, aber um den Preis des eigenen Willens. Dawn of the Dead wurde dementsprechend auch als Kritik an der Konsumgesellschaft gelesen, bzw. gesehen - zumindest von einigen marxistischen Filmtheoretikern und ihren nachplappernden Papageien. (Ich nehme diese Interpretation aber durchaus ernst, nur die Papageien nicht.) - Andere Zwischenzustände findet man überall dort, wo es einen Aufschub gibt. Für uns Autoren ist dieser Zwischenzustand deshalb interessant, weil er erlaubt, eine Geschichte zu erzählen. Alice' Roman "Blackout" funktioniert ja genauso: ein Mädchen verschwindet; die Situation verspricht den Tod, ist aber so lange aufgeschoben, solange nicht die Leiche gefunden wird.
10. Eine andere Form des Symbols ist die Unüberschreitbarkeit. Hier sind grundlegend zu nennen: Mann/Frau, die Rassenunterschiede oder die Unterschiede in der Subkultur, häufig auch: arm/reich, gesund/krank, vernünftig/wahnsinnig. Der Übergang von der einen zur anderen Seite ist nicht leicht möglich, obwohl es sie gelegentlich gibt: die Geschlechtsumwandlung, die kosmetischen Operationen (Michael Jackson), die Verarmung, die Krankheit. Auch hier kommt es darauf an, wie ein Symbol genutzt wird: die Verarmung ist eher nach der Unumkehrbarkeit strukturiert, aber häufig genug gibt es Geschichten, in denen die Armen und die Reichen so fest getrennt sind, dass es sich um eine Unüberschreitbarkeit handelt. Bei Harry Potter ist dies zum Beispiel auch die Opposition Lehrer / Schüler. Natürlich wird diese mehrmals durchbrochen: einmal durch den Wahnsinn Gilderoy Lockhardts, dann aber auch dadurch, dass Harry seine Mitschüler in der Verteidigung gegen die dunklen Künste ausbildet.
11. Die Überschreitung einer Unüberschreitbarkeit hat immer die Aura eines Skandals. Es gibt den Überläufer zwischen zwei feindlichen Lagern, den Verräter, den Spion. Es gibt die Geschlechtumwandlung und die Drag-Queens, bzw. Drag-Kings (echte und vorgetäuschte Überschreitung). Es gibt den Börsenkrach und die Pest (Die Maske des roten Todes).
12. Häufig kommt aus diesem Symbol auch eine Bedrohung: Harry, der durch die Narbe Voldemort ausgeliefert ist, Frodo, der durch den Ring Sauron ausgeliefert ist. Die Verweiblichung des Mannes wie die Vermännlichung der Frau wird (häufig genug) als Bedrohung empfunden, die kapitalistische Entfremdung ebenso, oder die Isolation. Diese gehen einher mit typischen Symbolen: das dicke Auto als Symbol der Männlichkeit und - das ist die Ambivalenz des Symbols - als Symbol der Angst vor der Verweiblichung; das Gefängnis als Symbol der Isolation, das Schiff als Symbol der Entfremdung (obwohl das Schiff in anderen Geschichten ein ganz anderes Symbol spielen kann: so ist das Schiff in Jacksons King Kong ein Symbol für die Männlichkeit, das männliche Abenteuer und den männlichen Ruhm und die Insel ist das Symbol der Isolation, mitsamt den tödlichen Gefahren, die die Isolation mit sich bringt).
13. Von allen Symbolen ist der halluzinierte Tausch am schwierigsten zu begreifen. Er symbolisiert sich in der Opposition innen/außen. Dieses Symbol macht deshalb dem Schriftsteller so große Probleme, weil jedes Innen und jedes Außen nebeneinander im Text steht. Handlungen (=außen) stehen neben Gefühlsregungen (=innen). Jedes Innen konstruiert sich durch eine Zugehörigkeit: ein Gefühl ist immer ein Gefühl, das zu einem Menschen gehört. Man gehört einer Gruppe an, man gehört einer Klasse oder Rasse an. Man gehört zu einer Zeit oder zu einem Ereignis ("Du weißt ja nicht, wovon du sprichst. Du hast den Krieg niemals erlebt.").
14. Zwiespältigkeiten im halluzinierten Tausch sind zum Beispiel Projektionen (Nicht ich bin wütend, du bist es!), Introjektionen (Nicht der andere ist schuldig, ich bin es!). Auch das ist problematisch, weil sich diese Mechanismen ständig ereignen. Jede Gefühlsregung hängt in irgendeiner Weise mit der Umwelt zusammen. Sie ist also nie ganz innerlich. Keine Gruppe kann sich nur in sich selbst konstituieren. Sie braucht immer andere, gegen die sich die Gruppe konstituiert.
15. Symbole des halluzinierten Tauschs sind Verträge (zum Beispiel der für Dumbledores Armee), bestimmte Zeichen (die Farben der Häuser von Hogwarts), Rassenmerkmale. - Das größte Problem dieses Symbols ist die Fehlinterpretation. Da jeder Tausch, wie der Name schon sagt, halluziniert ist (ich tausche meine Handlungen gegen meine große Kompetenz, d.h. meine große Kompetenz wird durch meine Handlungen und meine Werke charakterisiert), ist die Fehlinterpretation sozusagen eine der Grundbedingungen, warum es dieses Symbol überhaupt gibt.
16. Seid ihr mit den Erklärungen herumgeeiert und habt einiges nicht verstanden? Das ist kein Wunder. Ich habe oben gesagt, das Symbole Materialisierungen seien. Also zum Beispiel eine Narbe. Aber die Narbe bei Harry Potter hat zahlreiche symbolische Funktionen: sie zeigt den Aufschub an und damit auch eine Unumkehrbarkeit. Sie schließt Harry aus und macht ihn zu etwas Besonderem: eine Unüberschreitbarkeit. Sie weist auf eine besondere Vermischung zwischen Innen/Außen hin, also einen besonderen halluzinierten Tausch (der Schmerz, die Albträume, die Einflüsse von Voldemort). Die Narbe steht also für alle drei Formen des Symbols. Wie denn nun? - Das Symbol materialisiert nur. Die Struktur des Symbols ist hier wichtig. Ich hatte in meinen Erklärungen immer wieder einen "-" (Bindestrich) oder einen "/" (slash, Schrägstrich) eingefügt. Und eigentlich ist es dieser Binde- oder Schrägstrich, der für die Struktur des Symbols steht. Und dieser Schrägstrich bekommt seine ganze Struktur wieder aus der Geschichte selbst, aus dem Kontext. Und deshalb ist das Symbol nur scheinbar materialisiert, in Wirklichkeit kann man nur auf die Struktur und die Funktionen des Symbols hinweisen.
17. Zudem ist eine wichtige Funktion, dass das Symbol sich ändern kann. Erst der Aufschub, der durch Harrys Narbe symbolisiert wird, ermöglicht die zahlreichen Unüberschreitbarkeiten (Feindschaften), die Harry dann bedrohen. Die Narbe symbolisiert eben beides. - Für den Schriftsteller ist es sogar wesentlich, dass er die Symbole ändert. Ohne diese gibt es keine Geschichten. Es ist wichtig, dass Frodo nicht im Auenland bleibt, sondern es verlässt (die Überschreitung des Unüberschreitbaren); dass Frodo die Konfrontation (das Unüberschreitbare von Gut/Böse) aufschiebt, nicht nur, weil er diese nicht gewinnen kann, sondern weil er dadurch einen halluzinierten Tausch ermöglicht, in dem Frodo sich mehr und mehr der Macht des Ringes ausliefert (aus dem Außen vom Ring wird ein Innen in Frodo selbst), und auch, dass Sauron Gondor angreift, statt Frodo zu suchen (auch das ist ein halluzinierter Tausch).
18. Jede Geschichte lässt sich also durch solche symbolischen Strukturen (Oppositionen) darstellen und wird durch symbolische Funktionen (Änderungen in der symbolischen Struktur) vorangetrieben.
Hier noch einmal zur Übersicht:
Unumkehrbarkeit - Modell: Leben/Tod - Logik: kausal - Funktion: Aufschub, Endgültigkeit, Ultimatum - Ambivalenz: Zombie, Entfremdung
Unüberschreitbarkeit - Modell: Mann/Frau - Logik: ergänzend/widersprechend - Funktion: Missverständnis, Bedrohung - Ambivalenz: Überschreitung, Täuschung und Verkleidung
halluzinierter Tausch - Modell: innen/außen - Logik: Zugehörigkeit - Funktion: Gewohnheit, Verstehen, Eigensinnigkeit - Ambivalenz: Fehlinterpretation

Grundsätzlich kann man jede Geschichte in solchen Symbolen darstellen: solltet ihr Lust haben, dies zu tun, dann sucht euch einen eurer Lieblingsromane, sammelt erstmal Ideen, dann versucht mal den ganzen Plot in Form von Symbolen und Änderungen der Symbole darzustellen (am besten grafisch: dazu braucht ihr möglichst auch noch Farben und bei einem Roman zahlreiche Blätter).
Die Aufgabe ist zwar mühsam, lohnt sich aber, weil ihr so ein gutes Gefühl für den Aufbau von Geschichten bekommt und während der Arbeit immer mehr Möglichkeiten seht, was man anders machen könnte, also hier Fantasien entwickelt, die euch beim Schreiben eurer eigenen Geschichten helfen.

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