11.08.2007

Über die unauffällige Nutzung von Bibliotheken

Sozialwissenschaftler sind unauffällige Gestalten. Sie sitzen meist in billigen Sesseln, die sie von ihren Großeltern geerbt haben, trinken ALDI-Wein und die vernehmlichsten Laute, die sie äußern, ist das Rascheln von Papier und das Aneinanderreiben von Cordhosen; dieses verursacht ein Geräusch, dass irgendwo zwischen dem Rascheln von Papier und dem Knirschen von Gartenkies zu verorten ist.
Im Allgemeinen sind also Sozialwissenschaftler eher harmlos. Am meisten interessieren sich moderne Komponisten für sie, nicht wegen der Schriften, sondern wegen dem Rascheln, Reiben und Knirschen. Dies ist musikalisch nämlich höchst interessant.
Neuerdings aber interessieren sich auch die bundesdeutschen Terrorfahnder für Sozialwissenschaftler. Unter dem Vorwurf, diese seien in der Lage, Bibliotheken unauffällig zu nutzen und hätten zudem das geistige Potential, um konspirative Schriften zu schreiben, wurde jetzt ein Berliner Wissenschaftler wegen Terrorverdachts festgenommen.

Der Hintergrund
1. Der sogenannte Terrorismus-Paragraph - StGB §129a (Bildung terroristischer Vereinigungen) - droht den Hintermännern und Rädelsführern mit bis zu zehn Jahren Haft, je nachdem, wie intensiv deren Mitwirken war. Zudem dürfte sich bei dem als Andrej H. benannten Verhafteten erschwerend auswirken, dass er eine offizielle Position bekleidet: diese darf laut Abs. 8 vom Richter aberkannt werden, sollte sich der Verdacht bestätigen.
2. Andrej H. arbeitet auf dem Gebiet der Stadtsoziologie. Dabei untersucht er unter anderem Prozesse der Gentrifikation, also all diejenigen Prozesse, die einen Stadtteil "veredeln" und dabei ärmere Bevölkerungsschichten verdrängen (wikipedia: deutsch, englisch).
3. Linksradikale und linksmilitante Gruppen befassen sich ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen, mit der Gentrifikation, bevorzugen hier allerdings nicht die Untersuchung, sondern den Guerillakampf. Wir erinnern uns: 1971 wurde von der RAF ein Artikel veröffentlicht, der "Das Konzept Stadtguerilla" hieß. Auf diesen stützen sich viele radikale linke Gruppen, die im städtischen Raum agieren.
4. Für die Großstädte ist der städtische Raum auf vielfältige Weise problematisch geworden. Um diese "Probleme" zu untersuchen, gibt es Wissenschaftler. Die Sozialwissenschaften, gerade die Soziologie, sind oft noch an Handlungstheorien ausgerichtet. Urheber dieser (modernen) Handlungstheorien ist immer noch Karl Marx.
Z.B. in der 1. These zu Feuerbach: "Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt - entwickelt. Feuerbach will sinnliche - von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne Objekte: aber er fasst die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im 'Wesen des Christentums' nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefasst und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der 'revolutionären', der 'praktisch-kritischen' Tätigkeit."
Tätigkeit wird oft immer noch als praktisch-kritisch aufgefasst. (Heidegger wendete mal gegen Marx ein, um so zu handeln müsse man dies zuerst so sehen, d.h. erst durch den Willen, etwas als praktisch-kritisch zu beobachten, würde es auch praktisch-kritisch, was immer im Einzelnen das hieße. Luhmann würde Heidegger hier wohl zustimmen.)

Fassen wir zusammen
Die Soziologie ist oft noch handlungsorientiert - von Marx her - oder wird als handlungsorientiert verstanden. Soziologen haben also aus fachhistorischen Gründen eine Nähe zur marxistischen Philosophie.
Stadtsoziologen beobachten Prozesse der Gentrifizierung und damit einhergehend natürlich Prozesse der Verarmung. In diesen dürfte ein kritisches Potential stecken, ganz von selbst, da Verarmung nicht eine rational nachvollziehbare Entscheidung sein dürfte. Andererseits kann und darf man auch wissen, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung immer reicher wird. Auch das ist nicht immer aus Kompetenzen begründbar.
Die Nähe von Stadtsoziologen zu Stadtguerilleros dürfte durch viele Themen gedeckt sein. Zudem kann man nicht sagen, dass Linksradikale nicht lesen würden. Man kann sich über die Qualität ihres Lesens streiten - und vielleicht hier ähnliche Vorgehensweisen entdecken, wie die Kreationisten die Bibel lesen. Aber lesen können diese Stadtguerilleros sicherlich. Inwieweit diese dann aus öffentlichen Artikeln "Phrasen" übernehmen, oder sich auf Veranstaltungen mit Wissenschaftlern unterhalten, ist eine nicht zu kontrollierende Sache: den Wissenschaftler jedenfalls sollte das nicht kompromittieren dürfen.

Widerstand oder Demokratie?
So scheint die Formel unserer übereifrigen Gesetzeshüter zu lauten. Wer sich kritisch verhält, wer sich übermäßig kritisch verhält, wer die Nähe zu Linksradikalen sucht, wer deren Phrasen zitiert, der ist staatsfeindlich und damit ja auch demokratiefeindlich.
Dabei ist es nicht so einfach: zum einen suchen viele Linksradikale immer wieder den Anschluss an die Wissenschaften, mit welcher Schärfe auch immer. Rudi Dutschke zum Beispiel war über die Schriften seiner konservativen Gegner immer bestens informiert (so schrieb jedenfalls mal Marcuse). Andere Linke scheinen kaum den Inhalt der ersten hundert Seiten des Kapitals zu verstehen.
Jedenfalls gibt es hier zahlreiche Spielarten und zahlreiche Überschneidungen. Trotzdem: ein Wissenschaftler publiziert Fachartikel, ein Linksradikaler Pamphlete.
Widerstand aber ist ja nicht ein Zeichen von Demokratiefeindlichkeit, sondern der Demokratie als Staatsform immanent. Es heißt: streitbare Demokratie - das Verschweigen und Verschweigen-müssen, die Gleichschaltung und die Vernichtung unliebiger Bürger: das - liebe Staatswächter - war die Staatsform vor der deutschen Demokratie.
Die Aufgabe der Verfassungsschützer dürfte also hinreichend schwierig sein, Fehlgriffe gehören zu den Graubereichen jeder Gesetzeslage: die im übrigen dadurch entstehen, dass Gesetzestext und Wirklichkeit nicht konform gehen, ja sie arbeiten nicht einmal mit den gleichen Medien. Allein dass es Gesetzestexte gibt, macht Übersetzungsfehler zwischen Recht und Alltag erst möglich. Hinreichend begründet also müssen so schwerwiegende Eingriffe sein, wie der Vorwurf der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Geschieden werden muss - strengstens - zwischen demokratischem Widerstand im Sinne einer streitbaren Demokratie und zwischen staatsgefährdendem Terror. Strengstens geschieden werden muss aber auch zwischen wissenschaftlichen Artikeln, die ein kritisches Potential in sich tragen, und Pamphleten, unter denen steht: "DEN BEWAFFNETEN KAMPF UNTERSTÜTZEN! SIEG IM VOLKSKRIEG!" (so am Ende von "Das Konzept Stadtguerilla").
Gefährlich und demokratiefeindlich dürfte es allerdings sein, wenn man Begriffe verschleift - den des Terrors -, Übersetzungsprozesse verklärt und Gesetzestexte präventiv ausnutzt.

Hier noch einige Internetverknüpfungen
(Links möchte ich in diesem Zusammenhang lieber nicht schreiben.)
TAZ-Artikel: Forschen ist strafbar
BKA zu "Militante Gruppe" und die Verknüpfung zu wikipedia.
Telepolis zu den Verhaftungen: Angeblicher Schlag gegen Militante Gruppe
Presseerklärung der Verteidigung: Hier

Die Zeit dagegen greift die Rolle des Wissenschaftlers nicht auf, ja lässt ihn am Ende sogar unter den Tisch fallen und tituliert - entgegen dem Verdachtsmoment der Staatsanwaltschaft -: Ein Phantom wird greifbar. Dann aber kommt folgender Artikel: Konstruierter Terrorismusverdacht.
Auch die Süddeutsche tituliert Fahndungserfolg, obwohl es sich zuerst nur um mutmaßliche Täter halten soll. Was bei mutmaßlich ein Erfolg sein soll, verstehe Gott. (Das ist wahrscheinlich der gleiche Gott, dem die Kreationisten huldigen: dieser hatte - wir erinnern uns - extra für das Paradies vegetarische T-Rex geschaffen, die, nachdem Eva ebenfalls vegetarisch speisen wollte, prompt zu den größten fleischfressenden Landlebewesen wurden, als die sie heute gelten: glücklicherweise ließ Gott sie dann rasch aussterben.)
Die Bild-Zeitung meldet garnichts.

Die Instituts-Page von Andrej H. an der HU Berlin: Hier.


Nachwort
Auch das Internet raschelt manchmal friedlich vor sich hin. Der moderne Musiker - Helmut Lachenmann (Oper: "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern") - sitzt friedlich vor seinem Bildschirm, während die Welt draußen zusammenlinkst.
Von dem Inhalt des hier Verlinkten distanziere ich mich natürlich ausdrücklich. Nicht jedoch von den Inhalten einer streitbaren Demokratie. Auch der Missbrauch von Verfassungsschutz ist und bleibt ein Missbrauch unserer Verfassung.

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