28.01.2008

Personentypen bei Kai Meyer

Kai Meyer entwirft - im Wellenläufer-Zyklus - seine Personen nach einem ganz bestimmten Stil, man könnte ihn die enttäuschende Idealisierung nennen: fast jede Person weist eine besondere Fähigkeit oder eine besondere Stellung auf, aber jede dieser Personen hat auch einen Makel, eine Charakterschwäche, ein Geheimnis.
Es dürfte auch klar sein, warum dies so ist: da die Welt, in der der Roman spielt, eine phantastische Welt ist, fällt eine realistische Identifikation fort. Statt dessen muss man sich mit den Personen idealistisch identifizieren.
Doch das ist nur der eine Aspekt. Der andere weist auf ein Kompositionsprinzip hin: die Fähigkeit hilft der Person, sich gegen den Feind zu behaupten - dies ist der Hauptplot. Doch der Makel öffnet die Möglichkeit für Nebenplots und machen die Personen untereinander kompliziert. Dem Hauptplot gehört der Handlungs- und Aktionsraum, den Nebenplots der Gefühls- und Reaktionsraum.

Insgesamt gibt es sechs Typen von Personen bei Meyer:
1.) die noch in der Lehre sind: die Hauptfiguren (Munk und Jolly, eventuell Griffin)
2.) liebe, aber meist nicht außergewöhnliche Personen (Munks Eltern)
3.) mit Makeln behaftete Figuren mit einer großen, recht einseitigen Kompetenz (Urvater, Walker)
4.) groteske Figuren (Buenaventure, der hexhermetische Holzwurm)
5.) undurchsichtige Figuren (der Geisterhändler)
6.) Figuren von sozialer Wichtigkeit (Soledad, d'Artois)

Bei den Bösen gibt es die Schwärme (Klabauter), die Protagonisten dieser Schwärme (Anführer der Klabauter, Boten des Mahlstroms), die Randfiguren (der Wyvern, die Klabautermutter) und die Komplizen (Tyrone).

Meyer konstelliert seine Personen zu etwas, das ich segregative Kriegsfamilie nennen möchte: mit dem Verlust der Ursprungsfamilie - diese ist nicht immer biologisch, siehe Jolly - erzählt das erste Buch (Wellenläufer) auch, wie sich diese Familie erzeugt: sie sammelt ihre Mitglieder zufällig auf, Soledad, Griffin, selbst Munk und Jolly treffen sich durch einen "Zufall". Erst die Ereignisse schweißen sie nach und nach zusammen und jede Person findet einen Moment, in dem sie in diese Familie aufgenommen wird: Jolly und Munk durch der Verfolgung des Geisterhändlers und den Kampf gegen den Boten des Mahlstroms, Soledad und Jolly durch ihr Treffen beim Piratenkaiser Kenndrick, Walker und Buenaventure durch die Flucht aus der brennenden Stadt, ... und so fort.
Die segregative Familie ist bei Meyer nicht nur eine Kriegsfamilie, sondern auch nomadisch: ihr gehört zunächst kein fester Ort, oder: ihr fester Ort ist die Reise. Im zweiten Band wird diese Familie sesshaft (zumindest sesshafter), unternimmt aber dennoch Ausflüge, bzw. sammelt noch verstreute Familienmitglieder ein. Der Exkurs ist der Modus des zweiten Bandes.
Diese exkursive Familie löst sich wieder auf, wenn es um den Krieg selbst geht - im dritten Band -: auflösen vielleicht nicht, aber was an einzelnen Personen zuvor eingesammelt wurde - das ganze Schicksal der Patchwork-Familie - wird nun dorthin gebracht, wo sie ihre Funktion am besten erfüllen: aus den Nomaden sind Forscher und aus den Forschern Partisanen geworden.
Die Familie ist bei Meyer immanent, getragen durch konflikthafte Wünsche. Sie kämpft gegen die Transzendenz an: gegen das Grauen der totalen Ordnung (die zugleich das totale Chaos ist). Sie kann sich durch inklusive, nomadische und vielstimmige Mechanismen auf diesen Krieg einlassen. Aber der Krieg ist nicht der Selbstzweck der Familie, er transzendiert diese nicht: eher schafft es die Familie, sich selbst aus diesem Kriegszustand heraus zu produzieren.

Wir haben es hier also mit einem typischen Werdegang zu tun: durch verschiedene Ereignisse wird die Ursprungsfamilie zerstört und der Protagonist zu einem freien Radikal. Dadurch definieren sich die Protagonisten nicht mehr durch Orte wie die paranoide Familie, sondern durch Ereignisse.

27.01.2008

Jean-Christoph Grangé: Das Herz der Hölle

Ich dagegen lese im Moment Das Herz der Hölle (fr.: Le serment des limbes - Der Schwur der Vorhöllen), von Grangé, der auch Das Imperium der Wölfe geschrieben hat. Der Thriller ist ziemlich packend.

Besonders auffällig ist, dass Grangé zwar den modernen Ein-Satz-Stil anwendet, aber mit einer ganz anderen Wirkung als andere Autoren. Bei Grangé wirkt dieser Ein-Satz-Stil nicht abgehetzt und zerhackend, sondern eher hingetupft. Grangé schreibt nämlich nicht solche Sachen wie Schmerz! Im ganzen Körper! Brüllen. Um die Qualen loszuwerden. sondern: Der Schreibtisch akribisch gesäubert. Ein Bleistift. Notizzettel, leer. Das Telefon.
Man muss sich auch hier fragen, was die Funktion dieses Telegramm-Stils ist und welche Wirkung man damit erzielt. Grangé nutzt ihn hier, um Beschreibungen abzukürzen, vor allem, wenn es sich um konventionelle Beschreibungen handelt. Das heißt natürlich auch, dass er gerade dann auf diese elliptischen Sätze zurückgreift, wenn es nichts Dramatisches zu erzählen gibt. Dagegen sind andere Autoren genau an den dramatischsten Stellen so atemlos. Grangés Einsatz finde ich da wesentlich angenehmer zu lesen.
An anderen Stellen wird (bei Grangé) der elliptische Satz verwendet, wenn ein Sachverhalt präzisiert werden soll. Dann wird wie eine beigefügte Erklärung der vorangegangene Satz differenzierter erläutert.
In einer dritten Verwendungsweise steht der elliptische Satz wie ein Thema oder eine Überschrift für das folgende. Damit geht der Autor schon ein Stück weit in Richtung stream of consciousness, denn hier handelt es sich eher um ein Aufblitzen einer freien/wilden Assoziation, die dann in den Kontext durch vollständige Sätze eingebunden werden.

Grangés Buch erzählt die Geschichte des Protagonisten Mathieu: der ist Kommissar bei der Pariser Mordkommission. Als sein bester Freund Luc überraschend Selbstmord begeht, zwar gerettet wird, dann im Koma liegt, als dies passiert, ahnt Mathieu bereits schon, dass dahinter Abgründe lauern. Luc, ein gläubiger Christ, hat sich Zeit seines Lebens mit den Manifestationen des Teufels auf der Erde beschäftigt. Als Mathieu mühsam die erste Spur zusammenrecherchiert, stößt er in ein Wespennest: ein kleines Dorf in der französischen Jura, in dem ein halbes Jahr zuvor ein unheimlicher Leichnam gefunden wurde. Dieser weist alle Stadien der Verwesung auf, von der vollständiger Skelletierung der Füße bis hin zu einem vollkommen erhaltenen Kopf. Laut dem Gerichtsmediziner musste das Opfer erst wenige Stunden tot sein, nachdem sie gefunden wurde. Zudem wurde die Leiche in einer obszönen Stellung bei einem Kloster abgelegt.
Spätestens an dieser Stelle kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Je wilder der Fall sich gebärdet, umso kühler, distanzierter erzählt Grangé. Dabei fährt er keinen Hokuspokus auf, sondern einen intelligent konstruierten Plot, der immer leiser wird, je mehr sich die Situation zuspitzt. Gerade das aber, dass Grangé die Sprache drosselt, den Aufruhr durch die Worte, aber nicht in den Worten passieren lässt, gerade dies erregt.
Mich erinnert das an die Musik von Bizet: Bizet lässt seine Orchestrierung an dem Höhepunkt öfter auf einem Ton verharren und nimmt ganz die Akkorde und jeden tonalen Zusammenhang heraus. Und dieser einzelne, reine Ton drückt die ganze Inbrunst der Bizetschen Musik aus.

Es ist also nicht die Kühnheit der Stilmittel, die Spannung erzeugt, sondern oft genug das Gegenteil: das konventionelle Erzählen, die dramatische Mimesis, wenn sich die Schlinge für den Kommissar zuzuziehen beginnt. - Vielleicht sollte das der eine oder andere Jungautor berücksichtigen, wenn er seinen Romanerstling auf einen Höhepunkt zusteuern lässt.

05.01.2008

Segeltörns und Enthymeme

Wie hübsch unser sagenhafter Alltag ist: da tickern kurz hintereinander mehrere Jugendliche aus und verprügeln, verletzen und berauben Menschen. Keine schöne Sache! - Hübsch dagegen ist, dass in den empörten Leserbriefen nicht nur härtere Strafen gefordert werden, sondern gleich wieder von den Segeltörns geredet wird, die diese Jungs dann sozusagen noch als Belohnung für ihr schlimmes Verhalten bekämen.
Tatsache ist, dass von den vielen jugendlichen Straftätern bisher die wenigsten Segeltörns bekommen haben. Tatsache ist auch, dass in Hamburg zum Beispiel die Segeltörns nicht einfach so gemacht wurden, sondern nach einem Jahr harter Arbeit: die Boote wurden von den Jugendlichen selbst gebaut. Und dann ist es nur gerecht, wenn die Jugendlichen mit ihrem eigenen Boot auch mal zwei Wochen "Urlaub" machen können. Segeltörns sind nicht unbedingt einfach, schon gar keine Zeit für Faulenzerei.
Aber dieser Mythos aus unserem sagenhaften Alltag hält sich hartnäckig als Argument, auch, dass diese Maßnahmen nicht nur nichts nützen, sondern die Jugendlichen auch noch belohnen. All dies um zu beweisen, dass das Gegenteil - harte Strafen und Wegsperren - bessere Mittel sind.
Rhetorisch gesehen sind die meisten Leserbriefe Ansammlungen aus Enthymemen. Enthymeme sind Beweise, bei denen das eine Argument keine empirische Feststellung ist, sondern ein moralisches oder unscharfes oder falsches Argument. Schlussfolgerungen basieren ja auf der Formel: A ist x und B ist a, also ist B x. Wird dieses empirisch ausgeführt, dann ergibt das zum Beispiel folgende Sätze: "Alle Menschen (A) sind sterblich (x). Sokrates (B) ist ein Mensch (a). Also ist Sokrates (B) sterblich (x)." Man nennt dies auch Syllogismus.
Ein Enthymem zeigt dies in etwa so: "X ist ein Straftäter. Straftäter dürfen Segeltörns machen. Segeltörns sind Belohnungen. Also werden Straftäter belohnt." - Satz 2 ist eine Behauptung, Satz 3 eine Unterstellung, beide Sätze sind Verallgemeinerungen.
Verkettungen mehrerer Verallgemeinerungen oder Schein-Argumenten zu einer oder mehreren Schlussfolgerungen nennt man soros; das ist griechisch und heißt Haufen. Sie waren schon bei den Griechen als Mittel der Überzeugung sehr beliebt.

02.01.2008

Die Wellenreiter

Aus einer Laune heraus habe ich von Kai Meyer die drei Bücher um Jolly und Munk aus der Bibliothek ausgeliehen: und meinem Sohn haben sie hervorragend gefallen. Wir haben innerhalb zweier Tage das erste Buch fast zu Ende gelesen.
Ich hatte mich schon einmal mit Meyer beschäftigt und einige seiner Werke analysiert. Mittlerweile stehe ich von meinem Nachdenken ganz woanders: und nehme seine Bücher neu in Angriff.
Was mich in meinen ersten Gehversuchen sehr frappiert hat, war eher, dass ich einen kurzen Artikel zu Meyer geschrieben habe, den ich immer noch sehr gut finde. Diesen hatte ich in die wikipedia-Seite integriert. Darum gab es dann unter den anderen wiki-Nutzern einen heftigen Streit: mein Artikel sei parteiisch - nun, er ist parteiisch, insofern ich Meyer mit einiger Ironie "gut" heiße. Aber all dies ist ironisch gemeint gewesen. Schließlich hat es mich genervt, über Sinn und Zweck einer Enzyklopädie zu streiten, und ob diese essayistische Inhalte haben darf, oder immer "objektiv" sein muss (objektiv ist ein scheußliches Wort, ein richtiger Totschläger). Enzyklopädien sind nicht objektiv. Selbst d'Alembert wusste darum (und d'Alembert ist Mitherausgeber der großen französischen Enzyklopädie gewesen). Schließlich habe ich den Teil des Artikels zu Kai Meyer entfernt.

Meyer selbst ist in seinen Büchern anti-enzyklopädisch: wenn man seine Werke betrachtet, dann sind es Entstellungen der offiziellen Geschichtsschreibung, Fantasyromane eben, die ein Stück realer Welt mit so viel Zauber anreichern, dass es genausogut Fantasyromane hätten sein können. Nur hat Meyer dabei immer wieder den Übergang zu wirklichem, zu "objektivem" Wissen im Blick. Der eigentliche Skandal bei Meyer ist, dass er uns die Flickschusterei, die wir Wirklichkeit nennen, vor Augen führt und behauptet, es könne alles auch ganz anders sein. Wie Nostradamus seine Prophezeiungen gemacht hat, so hat uns Meyer die Zukunft unserer Vergangenheit umrissen: als eine Vorratskammer aus Mythen.
Der zweite Band schwächelt etwas, insgesamt ist die Trilogie um Jolly und Munk, Die Wellenläufer, Die Muschelmagier, Die Wasserweber, aber sehr lesenswert.