08.03.2008

Verankerung (nochmal)

Für alle, die sich jetzt erst dazu schalten: die Verankerung ist das Gewöhnlich-machen eines (Text-)Elementes. Wenn Jolly über das Wasser laufen kann (in Die Wellenreiter von Kai Meyer), dann muss nicht erklärt werden, warum sie über das Wasser laufen kann. Es genügt, diese außergewöhnliche Fähigkeit mit der Umgebung zu verbinden. Die ausführlichere Darstellung findet ihr HIER.
Nun habe ich dieses Phänomen auch das Trivialisieren genannt. Denn durch seinen Platz in der Umwelt bekommt ein solches Phänomen seinen Halt, seinen Ort, seinen Sinn.

Schauen wir uns ein anderes Beispiel an. In seiner Kurzgeschichte Der blaue Karfunkel lässt Conan Doyle seinen Sherlock Holmes die Spuren eines Hutes lesen. Erst später spielt der Hut dann in einem Kriminalfall eine Rolle.
Sehen wir uns aber den Beginn an:
In der Absicht, ihm schöne Festtage zu wünschen, hatte ich meinen Freund, Sherlock Holmes am zweiten Morgen nach Weihnachten besucht. Angetan mit einem purpurroten Schlafrock lag er müßig auf dem Sofa; rechter Hand befand sich ein Pfeifenständer in seiner Reichweite, und gleich daneben lag ein Stapel offensichtlich frisch gelesener, zerknitterter Morgenzeitungen.
Zwei weitere, ähnlich lange Sätze führen die Beschreibung weiter aus.
Hier haben wir eine klassische Trivialisierung: Holmes ruht zwischen seinen Gegenständen, die allesamt zu ihm passen und auf seine Tätigkeit als Detektiv hinweisen. In keiner Weise wird erklärt, warum er gerade so müßig auf seinem Sofa liegt. Erst später findet sich ein Motiv: er denkt nach.
Nun ist die Geschichte so aufgebaut, dass Holmes zunächst seinem Freund Watson ein Beispiel der Deduktion gibt. Das heißt, er stellt die Spuren am Hut vor und zieht daraus Schlüsse. Dies ist natürlich auch ein erzählerischer Trick. Indem Holmes sich vor Watson aufspielt, führt er eine der Personen in die Geschichte ein, die wir Leser noch nicht kennen.
Natürlich ist es auf den ersten Blick klar, dass der Mann überaus intellektuell veranlagt ist, und weiter, dass er vor drei Jahren ganz wohlhabend war, wenn er auch nun schlechte Zeiten durchmacht. Er besaß Weitblick, hat davon aber heute weniger als früher, was auf einen moralischen Rückschritt deutet; dieser wiederum, wenn wir ihn zusammen mit dem Niedergang seiner Lebensumstände betrachten, scheint darauf hinzuweisen, dass bei ihm schlimme Einflüsse am Werk sind - vermutlich Alkohol.
Auch dies ist eine Trivialisierung. So sensationslustig diese Deutung durch Holmes ist, sie verankert den ungewöhnlichen Hut in seiner Umgebung.

Nun ist der Hut nicht der einzige Gegenstand, der an diesem Tag zu Holmes gekommen ist. Peterson, ein Dienstmann, hat den Hut und eine Gans in der Nacht aufgegabelt, und da er die Gans zurückbringen möchte, bringt er Holmes den Hut, um daraus den Besitzer abzuleiten.
Dann kommt die Wende in der Geschichte. Zunächst weiß Holmes nicht, wer der Besitzer ist. Deshalb empfiehlt er Peterson, die Gans zu essen, bevor sie schlecht wird. Als dieser aber die Gans brät und anschneidet, fällt aus dem Hals ein lupenreiner Diamant, eben jener blaue Karfunkel, nach dem die Geschichte benannt ist. Dieser Diamant wurde kurz zuvor gestohlen. Jetzt interessiert sich Holmes natürlich dafür, wie der Karfunkel aus dem Hotelzimmer seiner Besitzerin in den Hals der Gans kommt. - Und hier ist der Besitzer des Hutes gefragt.
Jedenfalls wird über eine typische Detektivmethode nicht nur der Hut in eine soziale Situation eingefügt, sondern zugleich die Person, der Hutträger angekündigt. Und damit ist das Sprungbrett für die Verbrecherjagd vorbereitet. Wenn nun der Mann tatsächlich auftaucht, um seinen Hut zurückzuholen, muss er nur noch Holmes Annahmen bestätigen.

Es ist übrigens naheliegend, dass die Trivialisierung oft über Metonymien läuft.
Sehen wir uns eine solche an:
... ist auf den ersten Blick klar, dass der Mann überaus intellektuell veranlagt ist. ...
und als Begründung gibt Holmes an:
"Das ist eine Frage der Fassungsvermögens", sagte er. "Ein Mann mit einem so großen Kopf muss etwas darin haben."
Diese Begründung mutet natürlich heute lächerlich an. Trotzdem: sie zeigt, dass es früher üblicher war, von der (körperlichen) Verpackung auf den (psychischen) Inhalt zu schließen. Großer Kopf = intellektuelle Veranlagung. Metonymien ersetzen das eigentliche Zeichen, den Hut mit dem großen Fassungsvermögen, durch eine nachbarschaftliche Bedeutung, den großen Kopf in diesem Fall. Genauer: Holmes stellt die Metonymie so dar, als sei sie ein Argument.
Keinesfalls ist damit wissenschaftlich diese Argumentation bewiesen. Sie beruht lediglich auf Nachbarschaften, die gewöhnlicherweise so denkbar sind. Man könnte nämlich auch ableiten, dass der Hutträger einen sehr kleinen Schädel hat, aber einen Turban trägt. Dann müsste Holmes schlussfolgern, dass es sich um einen eher dummen indischen Prinzen handelt, der zudem sehr schamhaft ist, weil er seinen Turban mit einem Hut bedeckt.
Wie dem auch sei. Der Hut und sein Träger bekommen ihre Umweltbezüge und werden dem Leser so vertraut. Auch die Kriminalgeschichte hat damit einige Hinweise zugrunde gelegt bekommen, die den ungewöhnlichen Vorgang nachvollziehbarer werden lassen.

Informationsvergabe
Im Prinzip ersetzen Begriffe wie Trivialisieren und Verankerung den Begriff der Informationsvergabe. Dieser wird öfter in Schreibwerkstätten verwendet und bezeichnet die Informationen, die der Autor dem Leser zukommen lässt. Nun hat dieser Begriff aber einen großen Fehler: er ist sehr abstrakt. Man hat den Eindruck, als müsse man einfach eine Information nach der anderen herausfließen lassen. Aber wie diese Kette aufgebaut sein muss, davon ist selten die Rede.
Verankerung dagegen steht zwar auch für die Informationsvergabe, aber hier wird sehr deutlich auf eine Information in einem Gefüge, das heißt einem Text angespielt. Und genau das macht eine Information ja aus: sie greift in ein bestehendes Geflecht ein.
Natürlich kann man die Begriffe wählen, wie man will.

Hier noch einige schöne Trivialisierungen:
Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloss an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor. (Franz Kafka: Das Schloss)
Im ganzen entsprach das Schloss, wie es sich hier von der Ferne zeigte, K.s Erwartungen. Es war weder eine alte Ritterburg noch ein neuer Prunkbau, sondern eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus vielen eng aneinander stehenden niedrigen Bauten bestand; hätte man nicht gewusst, dass es ein Schloss sei, hätte man es für ein Städtchen halten können. Nur einen Turm sah K., ob er zu einem Wohngebäude oder einer Kirche gehörte, war nicht zu erkennen. Schwärme von Krähen umkreisten ihn. (ebd.)
Er war ein gut gewachsener Bursche mit tiefschwarzem, ziemlich krausem Haar, gesunden Zähnen und einer Haut, um die ihn seine Schwestern beneideten, und er hatte stets ein kindlich-heiteres Lächeln bereit. Er war flink auf den Beinen, tat ordentlich seine Arbeit, und er liebte seine Schwestern, die ihm schön und weltstädtisch vorkamen; er liebte Madrid, das für ihn immer noch etwas Phantasti­sches war, und er liebte seine Arbeit, die er im hellen Lampenlicht tat und die ihm - mit sauberer Tischwäsche, Abendanzug und ausreichendem Essen in der Küche ­- romantisch schön schien. (Ernest Hemingway: Die Hauptstadt der Welt)
Die Turmuhren auf dem Gensdarmenmarkt schlugen elf, als die Gäste der Frau von Carayon auf die Behrenstraße hinaustraten und nach links einbiegend auf die Linden zuschritten. Der Mond hatte sich verschleiert, und die Regenfeuchte, die bereits in der Luft lag und auf Wetterumschlag deutete, tat allen wohl. An der Ecke der Linden empfahl sich Schach, allerhand Dienstliches vorschützend, während Alvensleben, Bülow und Sander übereinkamen, noch eine Stunde zu plaudern.
»Aber wo?« fragte Bülow, der im ganzen nicht wählerisch war, aber doch einen Abscheu gegen Lokale hatte, darin ihm »Aufpasser und Kellner die Kehle zuschnürten«.
»Aber wo?« wiederholte Sander. »Sieh, das Gute liegt so nah«, und wies dabei auf einen Eckladen, über dem in mäßig großen Buchstaben zu lesen stand: Italiener-, Wein- und Delikatessenhandlung von Sala Tarone. (Theodor Fontane: Schach von Wuthenow)
Ein Telefon läutete in der Dunkelheit. Nachdem es dreimal geläutet hatte, knarrten Bettfedern, Finger tasteten auf Holz umher, etwas Kleines, Hartes schlug dumpf auf einen Teppich­boden, Bettfedern knarrten erneut, und die Stimme eines Man­nes ertönte:
»Hallo ... Ja, am Apparat ... Tot? ... ja ... Fünfzehn Minu­ten. Danke.«
Ein Schalter klickte, und eine weiße Schale, die an drei gold­glänzenden Ketten von der Deckenmitte herabhing, füllte das Zimmer mit Licht. Spade, barfuß und in grün-weiß kariertem Schlafanzug, saß auf seiner Bettkante. Er starrte finster das Telefon auf dem Tisch an, während seine Hände nach einem Päckchen Zigarettenpapier und einem Beutel mit Bull-Durham­-Tabak griffen, die daneben lagen. (Dashiell Hammett: Der Malteser Falke)
Man sieht also, dass Trivialisierungen oft ganz gewöhnliche Beschreibungen sind. Während Beschreibung aber die Form bezeichnet, wird mit Trivialisierung die Funktion für den Leser in den Vordergrund gestellt, mit Verankerung die Tätigkeit des Schriftstellers.

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