21.06.2008

Parteiprogramme

Abstrakta

Parteiprogramme sind ein Aufmarsch von Abstrakta. Da ist von Frieden, Antifaschismus, Feminismus und so fort die Rede. Was aber ist das? - Ich hatte ja schon gestern über die unausgefüllten Wörter geschrieben, die sich mal so, mal so verhalten, und zur Kreativität moniert, dass es vor allem ein Macht- und Blockadewort ist. Trotzdem sind "leere Wörter" nicht zwecklose Wörter. Sie sind - im Gegenteil - immanent wichtig.
Woran liegt das?

1. Worte unter Wörtern

Ein Wort ist ein Zeichen und ein Zeichen besteht aus drei Bestandteilen: dem Signifikanten, dem Signifikat und der Beziehung zwischen ihnen, also der Relation. Habe ich also ein Wort "Hund" als Signifikanten, bzw. als Lautbild, dann habe ich mit meiner Vorstellung eines Hundes ein Signifikat dazu. Das Signifikat wird auch Vorstellungsbild genannt. Die Beziehung zwischen dem Lautbild und der Vorstellung ist nicht durch Ähnlichkeit motiviert, sondern durch Gewohnheit und historische Entwicklungen.
Nun sind genau solche Wörter einfache Wörter. Wenn ich nicht weiß, was ein Hund ist, treibt ein freundlicher Nachbar einfach einen auf und sagt: Dies ist ein Hund! - Fortan werde ich mir vorstellen können, was ein solcher ist, wenn jemand von einem Hund redet.
Natürlich sind wir hier noch meilenweit von einer guten Verständigung entfernt. Hat mein Nachbar mir einen Pekinesen als Ersthund angeboten, werde ich bei einer Deutschen Dogge nicht an einen Hund denken. Doch das soll hier nicht das Thema sein. Wie ist es mit Begriffen wie Demokratie, Friede, Feminismus, und anderem?
Es sind Abstrakta, weil ihnen kein berührbarer Gegenstand in der Welt entspricht. Sie können definiert werden. Erst durch Worte, die ein Abstraktum nachvollziehbar machen, kommen solche Wörter für uns zu einem gewissen sinnlich-konkreten Vollzug.
Auch hier ist es kein Geheimnis, dass solche Abstrakta recht unterschiedlich gebraucht werden, ja teilweise sogar widersprüchlich oder widersinnig.

2. Der Streit um das Eigene des Anderen

Wer immer Definitionen gibt und Abstrakta aufzufüllen versucht, muss sich auf Wörter verlassen. Streichen wir die Frage nach der Richtigkeit der Definitionen weg und widmen wir uns einem höchst psychoanalytischen Problem: was transportieren die erklärenden Wörter? Dies ist natürlich auch die Frage nach dem, was wir hören, wenn wir eine Erklärung eines Wortes hören, wenn also jemand mit uns spricht.
Zunächst verkettet der Andere Wörter miteinander. Der Frieden sei dieses oder jenes, man könne ihn sich so oder so vorstellen. Aber so sehr auch die Laute geordnet sein mögen, die Vorstellungen, die er im Kopf hat, können uns nicht erreichen. Wir haben unsere eigenen Köpfe und machen uns unsere eigenen Vorstellungen. Und genau dasselbe passiert, wenn wir einem anderen Menschen etwas zu erklären versuchen: wir können ihm Worte zukommen lassen, aber unsere Vorstellungen bleiben bei uns.
Nur funktioniert Kommunikation gewöhnlicherweise so nicht: ich möchte mich nicht ständig fragen, ob ich die richtigen Vorstellungen bei meinem Gegenüber erzeugt habe. Ich erwarte einfach, dass er sich etwas ähnliches vorstellt und sitze dadurch allzu häufig einem Trugbild auf. Und genauso ist es umgekehrt: die Vorstellungen, die der Andere durch sein Reden in mir evoziert, sind notwendig andere, als jener sie zur gleichen Zeit im Kopf hat.
Man kann, wie Luhmann dies mal so schön formulierte, im Konsens oder im Dissens sein, aber damit hat man weder die gleiche, noch eine andere Ansicht. Trugbilder funktionieren in beiden Richtungen. Konsens ist lediglich ein Indikator, dass man zu etwas anderem übergehen kann, während Dissens diesen Weg zu einem anderen Thema blockiert; dann bleibt nur noch die Gründung einer neuen Partei.

3. Funktion von Abstrakta

Es scheint mir hier aber noch einen dritten Weg zu geben und den nimmt die Kommunikation mit dem Umweg über die Abstrakta, jedenfalls über bestimmte Abstrakta.
Zunächst muss man dabei alle Abstrakta ausschließen, die ich in Anlehnung an die Sprechakttheorie performative Abstrakta nennen möchte. Damit sind all jene Definitionen gemeint, die eine Art vertraglichen Zustand einrichten. Wer heiratet, muss es hinnehmen, dass er eine Heiratsurkunde überreicht bekommt. Da führt kein Weg dran vorbei. Und wer jemanden einlädt, muss damit rechnen, dass dieser Mensch dann auch kommt. Türzuhalten gilt spätestens dann als grober Unfug.
Dem gegenüber sind die deskriptiven Abstrakta solche, die einen Streitwert in sich tragen. Wer Frieden will, muss mindestens sagen, wie er ihn sich vorstellt, falls es ihn dann gibt. Und wer den Feminismus durchsetzen möchte, muss davon eine Vorstellung geben, genauso wie derjenige, der ihn ablehnt.
Deskriptive Abstrakta tragen also einen doppelten Streitwert in sich: zum einen, wo die semantischen Grenzen eines Abstraktum liegen, was, im Wort, noch Feminismus ist, was nicht mehr; zum anderen, wo sich die Konkretion dieses Abstraktums aufstöbern lässt: Alice Schwarzer ist Feministin, aber ist auch Angelika Merkel eine? oder Eva Hermann? (Und natürlich ließe sich auch bestreiten, dass Alice Schwarzer eine Feministin ist.)
Diesen instabilen Zustand sollte man zunächst nicht beklagen. Mir scheint, dass er neben einigen Unannehmlichkeiten auch einige große Vorteile bringt.
Zunächst einmal absorbieren deskriptive Abstrakta Unsicherheiten mit der Sprache, indem sie erzwingen, bestimmte Wörter als sicher gegeben hinzunehmen. Wer sich über Frostschädefolgen streitet, streitet nicht über den Frost. Und wer sich um den richtigen Feminismus streitet, beklagt sich nicht über die Existenz von Frauen. Deskriptive Abstrakta machen gerade dadurch, dass sie Unsicherheiten und Streitwerte auch sich lenken, andere Teile der Sprache sicherer. Dann lassen sich die deskriptiven Abstrakta aber auch untereinander abstufen und versorgen so weite Teile der Bevölkerung mit einer einheitlicheren Unsicherheitsabstufung. Wer den Frieden gefährdet sieht, macht sich (vielleicht) nicht mehr so viel Gedanken um den Feminismus, und wer den Feminismus gefährdet sieht, macht sich (vielleicht) nicht mehr so viel Gedanken um den Ausgleich von Frostschädefolgen.
Mithin kanalisieren und ordnen deskriptive Abstrakta die momentanen Unsicherheitsvorlieben von Gruppen und Gesellschaften.

4. Zwei Probleme mit Abstrakta

Ein erstes Problem von Abstrakta - sieht man einmal davon ab, dass Unsicherheit immer auch ein Problem ist - dürfte sein, dass deskriptive und performative Abstrakta durcheinander geworfen werden. Wer heiratet, rechnet mit der Heiratsurkunde, aber nicht immer damit, dass ab nun tägliches Essenkochen angesagt ist. Und wer einen florierenden Betrieb kauft, rechnet nicht mit perfekt gefälschten Bilanzen und einem unausweichlichen Ruin. Dies dürfte dann auch so ziemlich alle Abstrakta heimsuchen: man ruft die Demokratie aus, aber niemand kann etwas damit anfangen; oder man deklariert sich selbst als demokratisch und gebietet deshalb dem anderen zu schweigen. - Man könnte hier dann so etwas wie eine ethische Regel für deskriptive Abstrakta aufstellen: man darf sie nicht als abgesichert verwenden.
Ein zweites Problem von Abstrakta besteht in ihrer Stellung zueinander. Man kann das im Konkreten immer wieder erleben: wird eine Diskussion zu "konkret" oder wird ein Abstraktum zu deutlich "unsicher", weichen manche Menschen auf andere Abstrakta aus. Das heißt, hier werden die Kanalisierungen von Unsicherheiten genutzt, um den Unsicherheitswert nicht zu plastisch werden zu lassen. "Das ist ein weites Feld!", sagt der Vater von Effi Briest und absorbiert damit eine Diskussion durch eine Metapher, die auf den Umgang mit Unsicherheiten in der Gesellschaft gemünzt ist. Hier verkorkt die Metapher buchstäblich das Erscheinen eines Symptoms. Und zeigt es dadurch natürlich dem aufmerksamen Leser: Was ist das weite Feld anderes als ein Feld, wo man sich ohne Richtschnur und Leitpunkt verläuft?

Die Rangfolge deskriptiver Abstrakta bleibt tatsächlich ein Kriegsschauplatz: steht der Friede zuerst und die funktionierende Wirtschaft danach, oder ist es zuerst die funktionierende Wirtschaft und dann der Friede? sind es die Zwänge des Arbeitsmarktes, die den Menschen zu höheren Leistungen antreiben, oder sind es die höheren Leistungen, die dem Arbeitsmarkt Zwänge auferlegen?
Doch auch hier scheint es so etwas wie eine ethische Regel zu geben. Zumindest in meiner Erfahrung können Menschen, die gerne auf andere Abstrakta ausweichen, kaum das Wagnis der Konkretion eingehen. Obwohl dies häufig genug gerade von solchen Menschen gefordert wird, scheinen sie einen Unwillen, ja eine Unfähigkeit zum Konkreten zu haben, und damit einhergehend ein geradezu schizophrenes Verhältnis von Theorie und Praxis. Dies mag sich auf das Verhältnis von Pflichtbewusstsein und Demokratie beziehen, oder auf das Verhältnis von Emotionalität und Abstraktion. Und wenn ich dies hier so lapidar in den Raum werfe, bleibt es natürlich unverständlich in diesem konkreten Fall, es sei denn, ich würde auf eine Geschichte zurückgreifen, in der ich erzähle, unter welchen Umständen zwei Abstrakta zusammengeworfen wurden. Allerdings habe ich hier eine so schöne Anekdote erlebt, dass ich sie nicht verschweigen möchte:
Während meines Studiums kam eines Tages eine Mitstudentin an, kopfschüttelnd, und meinte, sie habe an dem Morgen zusammen mit einem anderen Studenten ein Referat über die Rolle des Vaters in der Familie gehalten. Mit diesem Studenten war keine Zusammenarbeit möglich, also auch keine Absprache, außer, dass man sich die Sitzung teilen wollte. Der Student begann sein Referat mit den Worten: Nachdem das Patriarchat 1945 abgeschafft wurde ... - ein Flüstern unter den anwesenden Mitstudenten und eine irritierte Wortmeldung: Warum ist das Patriarchat denn 1945 abgeschafft worden? - woraufhin der Student fragte: Ja, bist du denn nicht für den Frieden?

Ebensolches kann man zum Beispiel auch immer wieder bei der Diskussion von sog. markttauglichen soft-skills sehen: es ist gar nicht so wichtig, dass ein Übergang von dem Abstraktum zu irgendwelchen Übungen geschaffen wird, solange sich nur das Abstraktum toll anhört und die Übungen einem das Gefühl geben, dass man etwas gemacht hat. Die vermittelnde Beziehung zwischen soft-skill und Übung fehlt und damit natürlich das ganze Theorie-Praxis-Verhältnis, das die soft-skills ja angeblich so gut verbinden.
Bei all diesen problematischen Erscheinungen fehlt vor allen Dingen eines: die Herleitung zwischen Konkretem und Abstraktem. Das heißt, die zweite ethische Regel müsste lauten: Bevor du zu einem nächsten Abstraktum übergehst, schalte die Herleitung zu/von einem konkreten Phänomen dazwischen.

Nicht als abgesichert wahrnehmen, aber die Herleitung wagen!, - vielleicht kann man sich mit einer solchen Doppelregel nochmal den Erkenntnismöglichkeiten und den Herstellungsbedingungen von Abstrakta annähern.

Parteiprogramme

1. Leitfunktion von Abstrakta

Parteiprogramme, um meinen einleitenden Satz zu wiederholen, sind ein Aufmarsch von Abstrakta.
Wir können uns jetzt an die Definition der Funktion von Parteiprogrammen wagen, nachdem wir einige Funktionen von Abstrakta geklärt haben.
Parteiprogramme orientieren sich an den Unsicherheiten, die eine Partei für konfliktwürdig hält und die sie als streitbar erachtet. So findet man im Parteiprogramm der Links-Partei das Wort deutsch im Zusammenhang mit dem Staatsgebiet und dem politischen Apparat, aber nicht mit einer Kultur (ob zurecht oder zu unrecht, könnte man sich natürlich streiten: Leser meines Blogs wissen, dass ich von dem Begriff der Kultur nicht allzuviel halte und deshalb natürlich auch den Begriff deutsche Kultur nicht sonderlich ernst nehme).
Dagegen liest man bei der NPD: "Die Vereinsamung der Menschen stoppen! In der Geborgenheit der nationalen Volksgemeinschaft wird es weniger Straftaten geben." Da Geborgenheit immer mit Gewohnheiten einhergeht, mit einer Leichtgängigkeit des Alltags, wird hier für eine Art Homogeneität eines "Volkes" plädiert, mithin mit einer nationalen Kultur. (Abgesehen davon, dass es eine bodenlose Blindheit gegenüber den geschichtlichen Realitäten nationaler Abschottung ist, dürfte es schwierig werden, 80 Millionen Menschen auf eine Wertegleichheit einzuschwören. Von dem Verlust an kreativem Potential mal ganz zu schweigen.)
Im Gegensatz zum Parteiprogramm der Links-Partei wird im Programm der NPD also das "kulturelle und völkische Deutschsein" als konfliktwürdig und streitbar gesehen.
Ohne hier weiter auf politische Diskussionen eingehen zu wollen, kann man für Parteiprogramme festhalten, dass sie zugleich eine Auswahl an Abstrakta vorstellen, auf die sich die politische Arbeit richten soll, als auch eine gewisse Abstufung und Untergliederung anbietet. Vergleicht man hier das Parteiprogramm der Linken mit dem Programm der NPD, können diese Untergliederungen nicht unterschiedlicher sein: die Linke bietet eine Zerstreuung, Verteilung und eine exzentrische Bewegung an, deren "Kernmythos" die Kapitalakkumulation und die Konzentration von Entscheidungsmacht ist, während die NPD eine Vereinheitlichung, Konzentration und "inzentrische" Bewegung proklamiert, deren "Kernmythos" die Einheit von Nationalvolk und Nationalkultur ist.

2. Kernmythen

Ich habe von Kernmythen gesprochen, vielleicht zu Unrecht. In den Kernmythen begegnet uns ein dritter Fall von Abstrakta: den präskriptiven Abstrakta, die etwas als gegeben setzen. Der Mythos ist, laut Adorno, ein Produkt der Verdinglichung und Naturalisierung. Die Geschichtlichkeit und Kulturbeschaffenheit wird abgeschnitten, vergessen, verdrängt oder überlagert.
Damit kommen wir zu dem Unterschied zwischen dem Parteiprogramm der Linken und der NPD: während die Kapitalakkumulation und Mächtekonzentration hier weiterhin ein gesellschaftlich erzeugtes, "un"-natürliches Faktum bleibt, sind Volk und Kultur bei der NPD quasi-naturalisiert. Schon die Präambel des NPD-Parteiprogramms widerspricht sich auf's Schärfste: was als geschichtliche Erfahrung hervorgehoben wird, dem muss nicht mal mit der Negativerfahrung des Dritten Reiches widersprochen werden. Wir können hier Goethes Italienreise als positive Lust am Fremden ebenso hervorheben, wie Mackes Tunesienbilder oder Friedrich II. bonmot, Deutsch spreche er nur mit seinen Pferden. Das Eindringen fremder Begriffe in die deutsche Sprache dient ja nicht nur dem differenzierten Ausdruck, sondern auch der Möglichkeit einer lebendigen Sprachkultur. Dabei finde ich übrigens noch sehr sympathisch, das Internet als Weltnetz zu bezeichnen, obwohl natürlich das Wort "Inter-" als Zwischen, eben als ein Netz zwischen den Menschen, es besser trifft, und Weltnetz zu sehr andeutet, es sei schon für alle Menschen gleichberechtigt zugänglich. Zudem kann man ein stagnierendes "Volkstum" nicht einfach beziehungslos dem Fortschritt der Wissenschaften gegenüberstellen und der sowohl freisetzenden als auch durchaus zersetzenden Wirkung der Aufklärung. Wer wollte schon vormittags die Teilchenbewegung von Atomen spektroskopisch aufzeichnen und abends zu einer Perchten-Tanzgruppe gehen? Da verlangt man dann wohl ein wenig zu viel "koordinierter Schizophrenie" von den Menschen.
Man kann also Parteiprogramme dahingehend bewerten, ob und wie sie mit proskriptiven Begriffen arbeiten, die sich aus historischen Bedingungen ableiten, oder die als naturhaft gelten. Man kann sich zwar über die Konsequenzen, die die Linke aus der Kapitalakkumulation ziehen möchte, streiten, aber man kann der Partei nicht vorwerfen, sie mache daraus eine quasi-natürliche Begebenheit. Das wäre auch völlig kontraproduktiv, denn dann müsste die Linke ihr ganzes Programm als ein Kampf gegen Windmühlenflügel ansehen und sich der DonQuichotterie zeihen. Dagegen verharrt die NPD in einem Begriffsmythos: das Volk war früher, das Volk soll wieder sein, die NPD ist Vorreiter und Hüter dieses Prozesses.

3. Semantische Regulierung

Trotzdem kann man Abstrakta, auch die des Volkes, nicht so einfach ablehnen. Zwei realistische Problemstellungen sind darin zumindest enthalten: die Frage, in welcher Weise ein Staat und die Bürger eine Einheit bilden, sei diese wie auch immer marginal; und die andere Frage ist natürlich, welche Zukunft man anstreben soll, wenn man nicht einfach auf Altbekanntes zurückgreifen möchte.
Diese Fragen möchte ich hier natürlich nicht lösen. Ich möchte hier eher das Augenmerk darauf lenken, dass Abstrakta Beiträge anziehen und diese, oft sehr konflikthaft, regulieren. Sie ordnen also Teilgebiete der historischen Semantik. Hier gilt es nicht nur, einen Interessenkonflikt zu entscheiden, sondern zunächst das grundlegende Problem zu verstehen. Und nur, weil bestimmte Abstrakta im Parteiprogramm der NPD auftauchen, heißt das noch lange nicht, dass die dahinterstehenden Probleme null und nichtig wären. Hier ist nur der Umgang mit den Abstrakta falsch. Bei der NPD sind Volkstum und Kultur Einheitsbegriffe. Man muss sie aber als Problembegriffe begreifen.
An solchen Stellen muss man sich dann auch mal - bei aller Parteilichkeit - auf den Beobachterstandpunkt zurückziehen und untersuchen, welche Beiträge ein deskriptives Abstraktum anzieht und wie die Ordnung dieser Beiträge aussieht. Man muss also feststellen, welche semantischen Regulierungen ein solcher Begriff erzeugt und ob diese Regulierung Lücken lässt, paranoide Grenzen, hysterische Ziele und zwanghafte Embleme herausbildet. Denn ein offener Krieg um das Ja oder Nein eines Abstraktums ist unfruchtbar und Ja wie Nein verdinglichen das Problem, wie übereifrige Zielsetzungen an dem Problem vorbeitaumeln und gebetsmühlenhaftes Wiederholen von Überzeugungen wenig Denk- und Merkwürdiges enthalten kann, also auch wenig Lösungspotential.
Parteiprogramme bilden einen Teil solcher semantischer Regulation. Ihr Verhältnis zu anderen Beiträgen zu bestimmten Themen ist vom Beobachterstandpunkt aus ebenso wichtig, wie die konkretisierenden Beispiele, die dazu gegeben werden und die praktische Umsetzung im Problembereich eines deskriptiven Abstraktums.

Abschluss

Da ich immer noch und immer wieder um (Teil-)Funktionen der Sprache kreise, ist dieser Beitrag selbstverständlich einer Suchbewegung verpflichtet, mithin etwas, was man so schön als problemorientiert bezeichnet.
Kernaussagen dieses Textes sind, dogmatisch zusammengefasst:
  • Abstrakte Begriffe lassen sich in performative, deskriptive und proskriptive Abstrakta unterscheiden.
  • Performative Abstrakta bezeichnen etwas Hergestelltes und meist auch "irgendwie" vertraglich, bzw. gesetzlich geregeltes.
  • Deskriptive Abstrakta beschreiben etwas nicht Wahrnehmbares. Sie bedürfen der Konkretion, um nachvollziehbar zu sein.
  • Die Funktion von deskriptiven Abstrakta besteht in der Kanalisierung und Konzentration von Unsicherheitsvorlieben und Streitwerten. Sie erschweren zudem den Übergang zu anderen Themen, gerade dadurch, dass sie Unsicherheiten und damit Konflikte anziehen.
  • Die Koordination deskriptiver Abstrakta dient der Ordnung von Unsicherheiten und damit der Ordnung von Diskussions- und Konfliktbedarf.
  • Proskriptive Abstrakta bilden Ausgangspunkte einer Diskussion oder eines Programms. In ihnen werden Unsicherheiten - im Gegensatz zu deskriptiven Abstrakta - absorbiert, verdrängt oder ausgelagert.
  • Werden proskriptive Abstrakta als naturhaft behandelt, bilden sie Bestandteile von Mythen.
  • Abstrakta regulieren konflikhaft Semantiken. Diese Regulation gilt es zu erfassen und zu überprüfen.
Als weitere Untersuchung empfiehlt sich hier, diese Thesen konkreter auf Parteiprogramme und auf die politische Praxis zu beziehen. Denn wie ich hier an anderen Beispielen gezeigt habe, muss man natürlich auch meine eingeführten Begriffe als Problembegriffe führen, das heißt, sie immer wieder auf Konkretes zurückwenden. - Und selbstverständlich bin ich kein Politologe. Mit der Gefahr, mich hier also fürchterlich blamiert zu haben ...

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