10.12.2008

Plotten: Thesen & Prämissen

Gestern Nacht habe ich weiter an meinem Text zu Artemis Fowl geschrieben. Ich ordne die einzelnen Abschnitte alphabetisch an und erzeuge dadurch ein Geflecht, bei dem es nicht sinnvoll ist, am Anfang zu beginnen und am Ende aufzuhören. Zudem überschneiden sich die einzelnen Abschnitte, so dass man teilweise die Dinge doppelt liest, nur immer aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Grund für diese Überschneidungen ist sicherlich auch, dass eine Erzählung immer aus zahlreichen Ebenen besteht. Und wenn man eine Ebene von der anderen trennen möchte, kann man dies analytisch tun. Dann arbeitet man wissenschaftliche Begriffe gut aus. Oder man macht dies perspektivisch. In diesem Fall geht man von einem bestimmten Mittelpunkt immer wieder ins Umfeld und dem, was mit diesem Mittelpunkt zusammen hängt.
Da ich hier keine systematische Abhandlung der Erzählung liefern möchte, nicht am Beispiel von Artemis Fowl und nicht generell für Erzählungen, bleibe ich bei einer perspektivischen Trennung. Dadurch entstehen kleine Essays.

Thesenromane

Heute abend habe ich übrigens an einem Abschnitt gearbeitet, der mich seit langer Zeit interessiert.
Es gibt ja sogenannte Thesenromane. Diese Romane "beweisen" eine These, oder machen diese "lebendig". Die Verbildlichung eines abstrakten Begriffs nennt man Hypotypose. Solche Erzählungen, die zuerst von einer These ausgehen, scheinen mir immer etwas schwerfällig. Sicher, es gibt wundervolle unter ihnen wie die Romane Brochs, Der Tod des Vergil und Die Verzauberung. Aber Broch ist eben Broch und von ihm gibt es nicht allzu viele Verwandte.
Nun finde ich bei Freys Wie man einen verdammt guten Roman schreibt mal wieder die Empfehlung, dass jeder Roman eine These haben müsse. Das ist eine Aussage, die mich eigentlich abstößt. Gleichzeitig übt sie aber einen Zauber auf mich aus. Dieser Zauber ist nun ähnlich gelagert wie der, den die Hypotypose auf mich ausübt. Im Prinzip sind ja auch Freys zentrale Aussage und die Hypotypose ähnliche Phänomene. Also habe ich mir ein Schema ausgedacht, wie man von einer zentralen Aussage zu einem Plot kommt.
Ich möchte das mal illustrieren, damit ihr euch vorstellen könnt, wie das Problem konkret aussieht.

Aus einer These einen Romanstoff entwickeln

Nehmen wir an, es gibt einen Autor mit dem Namen Stephen King. Dieser Autor liest ein Buch über die Evolution, von Stephen Jay Gould, und dieser wissenschaftliche Autor beschreibt die Mechanismen der dummen Evolution. Die dumme Evolution probiert aus und probiert aus. Einige Arten, die sich entwickeln, erweisen sich als nicht überlebensfähig und sterben aus. Andere Arten passen einige Zeit lang perfekt in ein Ökosystem. Und andere Arten wieder verändern sich zu neuen Arten, diese aber bleiben gegenüber dem Ökosystem indifferent.
Nehmen wir nun an, unserem Autor (Stephen King) fällt während des Lesens der Satz ein: Die dumme Evolution gebiert Monster.
Zufälligerweise ist der Autor nun Horrorschriftsteller und hat viel mit Monstern von Berufs wegen zu tun. Er hat jetzt eine Ausgangsthese und muss diese nur noch illustrieren. Und hier greift jetzt das Genre ein.
Das Gesetz des Genres erlaubt es nicht, auf jede erdenkliche Art und Weise mit der These umzugehen. Im Horrorroman gibt es immer den common man. Er ist das Opfer, aber auch die Gegenthese des Monsters. Damit dieser gewöhnliche Mensch den Horror begreifen kann, muss King zuerst eines tun: er muss die dumme Evolution, die sonst Jahrtausende und länger dauert, beschleunigen. Sehr beschleunigen. Und um der Leser Willen, sollte dieser Zeitraum sogar eher sehr kurz sein, sagen wir drei, vier Wochen. Um diese Beschleunigung plausibel zu machen, braucht King eine Ursache, einen Auslöser. Und was wäre in einem Horrorroman plausibler als ein außerirdisches Raumschiff? Dieses treibt die Menschen in der Umgebung recht rasch in eine solche dumme Evolution.
Jetzt gibt es allerdings ein anderes Gesetz im Horror, und das lautet: es muss ein finaler Kampf stattfinden. Und dieses Gesetz verträgt sich nicht mit der dummen Evolution. In der dummen Evolution verschwinden die Arten nach und nach, sei es durch neue Mutationen, oder weil sich die Art nicht durchsetzen kann. Doch das ist nicht so wichtig, wenn eine Zeit lang die zentrale These genügend Stoff liefern kann.
King hat übrigens noch einen glorreichen Einfall. Er bezieht sich nicht auf die Evolution von Arten, sondern auch auf die Evolution von Werkzeugen. Während ein ganzes Dorf mehr und mehr in den Bann dieser beschleunigten, dummen Evolution gerät, haben die Einwohner Einfälle. Sie fangen an, kleine Geräte zu bauen, die das Leben verbessern und die ihnen ihre Wünsche erfüllen. Diese Art der dummen Evolution ist nicht nur biologisch, sie ist auch sozial. Und hier schafft es King dann wesentlich besser gesellschaftskritisch zu sein: denn wer hätte sich nicht über die eine oder andere unnütze Erfindung geärgert, die sich rasch massenhaft verbreitet hat und die teilweise unverständliche, teilweise missbräuchliche Auswirkungen hat?
Auf diese Art und Weise formt sich aus der Ausgangsthese nach und nach ein Plot.

These und Ausnahme

Es gibt bei der Ausgangsthese noch einen Trick. Jede These stößt auf eine Art Widerstand. Bei der These Die dumme Evolution gebiert Monster muss es also Ausnahmen geben. King führt hier eine Person ein, die sich gegen die Auswirkungen des Raumschiffs als immun erweist: Jim Gardener. Jim hat durch eine Kriegsverletzung eine Metallplatte im Kopf. Er kann manchmal damit Radio empfangen und hört dann das Gedudel in seinem Kopf. Aber er kann nicht oder nur sehr schwach von dem Raumschiff beeinflusst werden. Jim Gardener ist also ein erster Widerstand gegen die These.
Dann gibt es noch die Außenwelt, die anderen Menschen, die weiter entfernt wohnen, und nur noch wenig oder garnicht von den Strahlen erreicht werden. Diese reagieren entsetzt oder auch feindselig, wenn sie durch das Dorf fahren. Diese sind der zweite Widerstand gegen die These.
Zugegeben ist dieses Beispiel nicht sehr plastisch, was die Widerstände angeht. Nehmen wir deshalb noch einmal eine These, die Frey anführt. Für den Roman Einer flog über das Kuckucksnest gibt er folgende Prämisse an: Selbst die unerbittlichste und grausamste psychiatrische Anstalt vermag den menschlichen Geist nicht zu brechen. Diese These hat auch eine gewisse Schwierigkeit, da sie doch schon einen Widerstand ausdrückt. Aber von hier aus können wir bestimmen, dass es eben doch Menschen gibt, die in der Psychiatrie zerbrochen werden. Und zu diesen gehören sowohl Patienten, als auch Pflegepersonal.
Wir haben also eine Prämisse oder These. Dann haben wir einen Widerstand, Ausnahmen, Fälle, da die These nicht greift. Beide Seiten können wir nun "bevölkern". Und schließlich können wir uns überlegen, wie wir dies in einen Plot umsetzen. Der Plot "illustriert" die Entwicklung von Personen. Die einen erscheinen am Anfang zerbrochen, befreien sich aber schließlich aus diesem Schein und leisten gegen die Unmenschlichkeit Widerstand. Andere zerbrechen vollends. Und wieder andere schaffen es von Anfang an nicht, sich zu bewegen.
Das sind natürlich nur gewisse Richtlinien für den Umgang mit Thesen/Prämissen.

Fazit

Ich habe in den letzten Stunden mehrere Thesen ausgebaut, um mein kleines Modell auszuprobieren. Es funktioniert ganz gut und es  sind einige hübsche Skizzen zu Plots entstanden. Aber mir ist noch nicht alles klar. Zum Beispiel habe ich oben das Gesetz des Genres erwähnt. Dieser Begriff ist ein Notbehelf.
Das Buch von Stephen King gibt es natürlich wirklich. Es ist Das Monstrum, eines seiner wirklich großartigen Bücher.
Falls Sie Prämissen zum Üben für das Plotten suchen, empfehle ich Zitatsammlungen oder Bücher aus der mittleren Phase von Nietzsche (Menschliches Allzumenschliches zum Beispiel).

Keine Kommentare :