10.02.2009

Suche und Verdacht (Krimis schreiben)

Indizien

Mit den Indizien hat es etwas seltsames auf sich. So verweist ein abgebrochener Fingernagel zugleich auf einen Menschen und auf eine Handlung, in der er diesen abgebrochen hat. Man kann das Indiz doppeldeutig nennen, doch nicht in dem Sinne, dass man wählen müsste, sondern in dem Sinne, dass sich der eine Verweis mit dem anderen verbindet und sie sich gegenseitig stützen.
Es gibt bei den Indizien andere, schwerwiegendere Doppeldeutigkeiten. Ein abgebrochener Fingernagel steht für einen bestimmten Menschen, der sich in einer Gruppe möglicher Menschen verbirgt. Ist dieser Nagel gelb und eingerissen, dann besteht die Gruppe wahrscheinlich aus rauchenden und handwerklich arbeitenden Menschen. Aber welcher von ihnen ist es?
Wir können zumindest folgendes festhalten: 1. Indizien stehen sowohl zum Täter als auch zum Tathergang in einem metonymischen Verhältnis; 2. Indizien sind doppeldeutig, weil es eine Differenz zwischen Gattung und Exemplar gibt; 3. Indizien selbst sind Mischgegenstände, die sich in weitere Details auflösen können, die als weitere Indizien eine Rolle spielen.




Indizien im Kriminalroman

Betrachten wir Indizien in einem Kriminalroman. Indizien liefern Hinweise, in welchem Umfeld der Täter zu suchen ist. Sie strukturieren einen Suchraum. Der eigentliche Sinn von Indizien, ihr narrativer Sinn sozusagen, ist das Kristallisieren eines Bildes, dem Bild des Täters, dem Bild des Tathergangs. Indizien folgen diesem Übergangsstadium und verlieren sich in der Ikonographie des Verbrechens. Ikonische Zeichen, indexikalische Zeichen.
Deleuze/Guattari haben folgende Aufteilung vorgeschlagen: indexikalische Zeichen sind territoriale Zeichen; ikonische Zeichen sind reterritorialisierende Zeichen. Sagen wir salopp dazu, dass indexikalische Zeichen ein Ding dingfest gemacht haben. Dieser Tatort weist diese und jene Spuren auf. Man lichtet sie ab, sammelt sie in sterilen Tüten, schickt sie zur Untersuchung ins Labor, gießt ihren Abdruck in Gips. Indizien markieren ein Territorium

Dagegen sind ikonische Zeichen solche, die etwas einfangen, jemanden dingfest machen wollen. Fotografien, Phantombilder, Karten: alles Zeichen von Milieus, die in Unruhe geraten sind, die in Gefahr sind zu fliehen. Bilder aus dem Fotoalbum, über denen man seufzt: Früher war ich jung, aber die Jugend floh mich.



Der unsichtbare Dritte

Suchen wir einige Beispiele. In Hitchcocks Der unsichtbare Dritte zeigt uns der Regisseur einen Mann in seiner Welt, indem er ihn Stück für Stück aus Indizien zusammensetzt. Dieser Mann, Thornhill (Gary Grant), besteht aus einer belebten Stadt, einem Bürohochhaus, einer Sekretärin, einem Terminkalender, Arbeitsbesprechungen, einer Mutter, einer gewissen Rücksichtslosigkeit, flotten Sprüchen, und so weiter und so fort. 
All diese Indizien lassen sich auf Thornhill nieder und setzen sich fest, während dieser auf dem Weg zu einem Arbeitsessen ist. Freilich kommen wir an dieser Stelle in eine gewisse Verlegenheit: Thornhill ist eindeutig ein Territorium, eine als Werbefachmann getarnte Maschine, die sich in einem sozialen Gefüge niedergelassen hat und dort fleißig vor sich hin schnurrt. 
Trotzdem besteht die ganze Einführung aus ikonischen Zeichen: man geht eng nebeneinander her, man lächelt sich zu, klopft sich auf die Schulter, zückt den Bleistift, deutet auf etwas Geschriebenes. All dies also sind Reterritorialisierungen, die Thornhill einfangen und festhalten. Warum aber sollte Hitchcock (oder jeder andere) ein Territorium reterritorialisieren? 
Die Antwort ist einfach: Thornhill mag sein Territorium bewohnen, sich in seinem Milieu bewegen, aber der Zuschauer kann dies noch nicht. Deshalb sind wir hier auf eine Mischung aus Zeichen angewiesen: ikonische Zeichen, die sich rasch und konfliktlos in indexikalische Zeichen wandeln. Wir finden hier, hinter diesem Satz, die bekannte Empfehlung für das Romanschreiben: Show, don't tell! Wir finden hier auch den tieferen Grund für diesen Ratschlag. Jede Behauptung, jeder verknappende Eingriff, jede Zusammenfassung nutzt einen drittes Typus von Zeichen, die Symbole. Symbole haben sich von den Gegenständen, den Territorien gelöst. Sie bilden eine frei flottierende Masse an Zeichen, die mehr den Grammatiken gehorchen als den Gegenständen. Mit einem Wort: sie lenken von den Identitäten ab, die Unterhaltungsgeschichten so nötig haben, sie verlassen die Welt der Dinge und gehen über in die Welt der Belehrungen, Wünsche und Behauptungen. Symbole deterritorialisieren.
Wenn Joan Rowling schreibt:

Im Ligusterweg Nummer 4 war mal wieder bereits beim Frühstück Streit ausgebrochen. Ein lautes Kreischen aus dem Zimmer seines Neffen Harry hatte Mr. Vernon Dursley in aller Herrgottsfrühe aus dem Schlaf gerissen.
»Schon das dritte Mal diese Woche!«, polterte er über den Tisch hinweg. »Wenn du diese Eule nicht in den Griff kriegst, fliegt sie raus!«
Harry versuchte, übrigens nicht zum ersten Mal, die Sache zu erklären.
»Sie langweilt sich«, sagte er. »Sonst fliegt sie doch immer draußen rum. Könnte ich sie nicht wenigstens nachts rauslassen?«
»Hältst du mich für blöde?«, raunzte ihn Onkel Vernon an, während ein Stück Spiegelei in seinem buschigen Schnauzbart erzitterte. »Ich weiß doch, was passiert, wenn diese Eule rauskommt.«
Er wechselte ernstere Blicke mit seiner Gattin Petunia. Harry wollte widersprechen, doch seine Worte gingen in einem lang gezogenen, lauten Rülpser unter. Urheber dessen war Dudley, der Sohn der Dursleys.

Rowling, Joan: Harry Potter und die Kammer des Schreckens
dann beginnt sie mit einem Symbol (Streit), als Zeichen eines noch nicht weiter erklärten Umstandes. Dann aber führt sie den Leser rasch auf das Territorium, auf das Konfliktgefüge zu, indem sie Einzelheiten bringt, indem sie beschreibt. Ebenso Symbol ist der Satz "Harry versuchte ... die Sache zu erklären." Ganz anders würde sich die Stelle lesen, hätte Rowling folgendes geschrieben:
Im Ligusterweg Nummer 4 war mal wieder bereits beim Frühstück Streit ausgebrochen. Onkel Vernon war mal wieder der Geduldsfaden gerissen und schrie Harry an. Schuld daran war Hedwig, Harrys Eule. Sie musste den ganzen Tag und die ganze Nacht im Käfig hocken und langweilte sich entsetzlich. Und deshalb kreischte sie manchmal.
Okay, es mag schwierig sein, einen Text zu verhunzen, den viele Leser so gut kennen. Aber versuchen Sie hier gleichsam ohne Wissen zu lesen. Hätte Sie die Stelle interessiert? Hätten Sie sich ein erstes Bild machen können? Wahrscheinlich nicht.
Rowling, wie viele andere Autoren, nutzt das Symbol als eine Art Spannungszustand, der sich durch die konkrete Schilderung auflöst. Nach und nach schält sich jetzt das Territorium heraus, das Haus der Dursleys, mehr aber noch ihre Bewohner.
In Der unsichtbare Dritte wird kaum etwas anderes gemacht: Der Titel des Films, der Nimbus des Regisseurs, die aufreizende Filmmusik zu Beginn sind nichts als Symbole, Ankündigungen, Versprechungen. Mit den ersten Einstellungen schließlich bewegt sich der Film in konkreten Milieus. Ein erstes Ding wird eingefangen, eine erste Maschine: Thornhill.



Symbole und Indizien

Thornhill wird dann rasch Teil einer komplexeren Maschine. Er möchte seine Mutter anrufen, um sie an die Verabredung zum Essen zu erinnern, während gleichzeitig zwei Ganoven einen George Kaplan erwarten, den sie per Ausruf haben zum Telefon bitten lassen. Hier nun dreht sich die ganze Geschichte mit den Zeichen um. Kaplan, der in Wirklichkeit nicht existiert, soll durch ein ikonisches Zeichen (zum Telefon gehen) eingefangen werden (diesmal ganz buchstäblich). Da Kaplan nicht kommen kann, rückt Thornhill an seine Stelle. Die Ganoven versuchen nun, sich ein Bild von Kaplan/Thornhill zu machen: was weiß er, welche Informationen hat er aufgezeichnet, welche offiziellen und welche privaten Absichten kann man bei ihm gegeneinander ausspielen? "Finden Sie nicht, dass Sie mit Ihrer Schauspielerei übertreiben?", fragt der Chefganove Thornhill und offenbart so, dass er unter der Ikonographie des unschuldig Entführten die Indizien eines gewieften Agenten entdeckt.
Die Suche nach dem Täter oder dem Tathergang übersetzt indexikalische Zeichen in ikonische Zeichen. "Hier lag einer der Hobbits", sagt Aragorn in Die zwei Türme, "und hier der andere." Dann setzt der Film die Parallelhandlung ein. Man darf sich hier aber nicht verwirren lassen. Wesentlich für die Konstitution des Zeichens ist der Übergang zu einem anderen Zeichen, und die Serie, in die die Zeichen eingebunden sind. Die Ruhestätte der Hobbits ist natürlich ein Territorium. Das Gras ist zerdrückt, Arme und Beine haben Spuren in der Erde hinterlassen. Aber dieses Territorium ist begrenzt und wird von einem ganz anderen Territorium dominiert, dem der Hobbits (als "Lebewesen"), und einem dritten, ihrem derzeitigen Aufenthaltsort. Durch dieses Gefüge nehmen die einzelnen Zeichen erst ihren typischen Stellenwert in der Geschichte ein, durch diesen Stellenwert erst wird Aragorn von dem begrenzten Territorium zu ikonischen Zeichen kommen, und von diesen ikonischen Zeichen zu neuen, anderen Territorien, Schwellenterritorien zum Beispiel wie dem Fangorn-Wald.
Während die Suche also von indexikalischen zu ikonischen Zeichen übergeht, verfährt der Verdacht umgedreht und sucht aus den ikonischen Zeichen - dem Verhalten eines Mannes oder der Abfolge eines Geschehens - Indizien herauszulesen. Tatsächlich funktioniert Der unsichtbare Dritte auch deshalb so gut, weil Thorndike die Indizien in ein Ikon (Wer ist Kaplan?) umwandeln möchte, während Vandamm (der Chefganove) die Ikone in Indizien umdreht (Was will Thorndike?). Perpetuum mobile, in den sich die kleinsten Zufälle einmischen und dem Ganzen eine unerwartete Wendung geben können.
Wer ist dafür verantwortlich? Wer kann mir helfen?, so fragt der Suchende und der Misstrauische antwortet: Was soll all das bedeuten? Was ist das Motiv hinter dem Ganzen?



Der Tatort

Letzten Endes aber muss man alles noch verwickelter betrachten. Der Detektiv findet einen Tatort vor. Er grenzt diesen Tatort ein, er sammelt die Spuren, er untersucht die Indizien. Er macht sich ein Bild vom Tatort, bis dieser ganz zum Territorium geworden ist. Dann aber geht er weiteren Verdachtsmomenten nach, geht über dieses erste Territorium hinaus, wandelt die Indizien wieder in ikonische Zeichen um, weil er nicht den Tatort, sondern den Täter sucht; und sobald die ikonischen Zeichen sich auf einer Person niederlassen, werden weitere Indizien gesucht ("Was meinst du, Harry, lügt Frau Grimschneider?" - "Sie hätte allen Grund dazu, Stephan. Schließlich ist sie die Hauptverdächtige." - "Also hat sie ihren Mann ermordet?" - "Ich habe eher den Eindruck, dass man diese Rolle von ihr erwartet." - "Welche Rolle?" - "Die der Lügnerin.").
Indexikalische Zeichen - abgebrochene Fingernägel, Lippenstift auf einer Zigarette, ein Kratzer auf der Fensterbank - können immer dann zu ikonischen Zeichen übergehen, wenn das aktuelle Territorium nicht das gemeinte Territorium ist. Hinter jedem Tatort steckt ein Täter. Ikonische Zeichen gehen in indexikalische Zeichen über, wenn sie ein Wissen verbergen, das es zu ergründen gilt. Deshalb der Unterschied zwischen Verliebtheit und Eifersucht: der Verliebte ist erotisiert vom Bild des anderen und jede Spur, die der andere legt, jedes Indiz, das er zeigt, fügt sich in dieses Bild ein; der Eifersüchtige dagegen löst das Bild des Anderen in Verweise auf, in geheime Vorgänge, in unreine Gedanken, in verschwiegene Treffen, in mutwillige und bösartige Vorbereitungen der Flucht. Ja, der Detektiv ist verliebt in den Tatort, aber er ist auch eifersüchtig auf den Mörder und die, die ihm nahe stehen und ihn durch ihre bloße Anwesenheit decken und verbergen.



Zeichen und Bewegung

Bisher also hatte ich immer geschrieben, dass indexikalische Zeichen Spuren, Indizien oder Symptome sind, als wären dies feste, dinghafte Gegenstände. Spuren verweisen auf ein vergangenes Geschehen oder Dasein und sind gleichsam der Abdruck desselben, Indizien auf ein gegenwärtiges Geschehen oder Dasein, das aber verborgen ist, und sind ein Hinweis auf dieses Verborgene, Symptome dagegen sind Verarbeitungen eines Geschehens oder Daseins durch einen komplexen Mechanismus (das "twiet-twiet" der Meise ist Symptom des Frühlings). Bisher hatte ich geschrieben, dass ikonische Zeichen Nachahmungen sind, abstrahierend oder verzerrt, von etwas, das tatsächlich vorliegt. Ob Velazquez seine Bäuerin oder Picasso seine Dora malt: ikonische Zeichen (nicht nur, aber auch).
Jetzt aber kommt alles auf die Bewegungen an, in die die Zeichen eingebunden werden. Jede Narration, jede Erzählung, jeder Roman wird von diesen Bewegungen angetrieben und transformiert die Zeichen und Zeichenketten fortlaufend, schiebt Formationen aus unterschiedlichen Zeichentypen über- und ineinander und treibt alles in eine Linie hinein, die, gemäß den Gesetzen des Spannungsromans, in einem "Höhepunkt" gipfelt. Die Zeichen werden zu Zeichen eines bestimmten Typs nur durch die Differenz zu anderen Zeichen, und ob man in dem Lippenstift auf dem Glas eine Spur oder ein Ikon sieht, hängt davon ab, welche Bewegung uns eine Erzählung nahelegt. Selbst die Bilder: Ist ein Bild von Dora eine Nachahmung der echten Dora oder ist es ein Symptom von Picassos Herrschsucht?

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