06.09.2011

immer noch Homo Faber

Der Homo Faber ist ja nicht nur deshalb ein so berühmtes Buch, weil es die moderne Identitätsskrise so gekonnt beschreibt, sondern auch wegen der unaufdringlichen, aber dichten Symbolik. Dieser symbolischen Schicht (die laut Lotman zur rhetorischen Schicht gehört, was ich allerdings nicht ganz nachvollziehen kann) folge ich zur Zeit.

Schichten

Jeder Text "besitzt" eine ästhetische Schicht (dieser Begriff findet sich bei Bachtin in dem Aufsatz Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen). Diese bezieht sich auf die Wahrnehmung; eines der berühmtesten Beispiele ist die Analyse des Gedichtes Les Chats von Charles Baudelaire durch Roman Jakobson und Claude Lévi-Strauss. Es findet sich in dem Aufsatzband Semiologie von Jakobson.
Dieses Beispiel zeigt aber auch deutlich, dass eine reine Beschreibung der ästhetischen Schicht nicht möglich ist und zwar nicht alleine deshalb, weil Gedichte aus Sprache bestehen, sondern weil die Beschreibung sprachförmig ist. Diese Beschreibung bringt sofort die Sinnhaftigkeit ins Spiel, sei es durch Pointierung, durch Zusammenfassung oder durch neue Verbindungslinien.

Ich liebe es, wie sich nach und nach Schichten freilegen, die zunächst Ereignisse, Personen, Orte betreffen, dann bestimmte Passagen, die nach und nach eine hintergründige Komplexität gewinnen und schließlich die symbolischen und rhetorischen Schichten, die eine ganz andere Anordnung zulassen, eine, die weder der Chronologie des Romans noch der Chronologie des Lesens folgt.

Hier also einige meiner Anmerkungen zum Homo Faber aus den letzten Tagen:

Wortfeld: schleimig/klebrig

Seite 33 f.: "Hitze mit schleimiger Sonne und klebriger Luft"
Seite 39: "später Mond, schleimig, Sterne sah man nicht, dazu war es zu dunstig"
Seite 42: "Die schleimige Sonne —"
Seite 45: "eine heiße Nacht mit schleimigem Mond"
Seite 69: "der Morgen war heiß und dampfig, die Sonne schleimig wie je"
Seite 126: "Mundschleimhaut"
Seite 167: "Ich finde den Motor vollkommen verschlammt von Regengüssen, alles muss gereinigt werden, alles verfilzt und verschleimt, Geruch von Blütenstaub, der auf Maschinenöl klebt und verwest, aber ich bin froh um Arbeit —"
Seite 35: "das warme Wasser war ebenfalls klebrig, nicht zuckerig, aber salzig, und die Finger stanken nach Tang, nach Motoröl, nach Muscheln, nach Fäulnis unbestimmbarer Art"
Seite 50: "das Zeug klebte in den Pneu-Rillen"
Seite 52: "die Sonne wie in Watte, klebrig und heiß, dunstig mit einem Regenbogenring."
Seite 165: "Die klebrige Luft —"
Seite 195 f.: "Unser Flugzeugschatten über Moränen und Gletschern: wie er in die Schlünde sackt, man meint jedesmal, es sei verloren und verlocht, und schon klebt er an der nächsten Felswand, im ersten Augenblick: wie mit einer Pflasterkelle hingeworfen"

Thema: das Wetter und sein Einfluss auf das Material

Wind (Wetter überhaupt) als Symbol
Die Böen können als Symbol für die unerwarteten Stöße des Lebens gesehen werden.
Seite 8 (zweimal), 19 (zweimal), 20, und das war es auch schon. (Wortfeld untersuchen!)

"Ausfall" von Sinnesorganen

Noch einmal der Ausfall von Sinnesorganen: "Jedenfalls sanken wir, der Lautsprecher knackte und knarrte, so dass man von den Anweisungen, die gegeben werden, kaum ein Wort versteht." (Seite 19)

Ironie (Lächerlichkeit):

"Meine erste Sorge: wohin mit dem Lunch?" (Seite 19)
Auch der nächste Satz hat eine komische Logik: "Wir sanken, obschon zwei Motoren, wie gesagt, genügen sollten, das reglose Pneu-Paar in der Luft, wie üblich vor einer Landung, und ich stellte meinen Lunch einfach auf den Boden des Korridors, dabei befanden wir uns noch mindestens fünfhundert Meter über dem Boden." (Seite 19 f.)
Was die Höhe des Flugzeuges mit dem Abstellen des Lunch zu tun hat, bleibt ein Rätsel.

Symbol: Fahrzeuge

Überhaupt die Fahrzeuge: man könnte diese alle noch einmal auf eine symbolische Lesart überprüfen.
Beispiel: "Plötzlich war unser Fahrgestell neuerdings ausgeschwenkt, ohne dass eine Piste kam, dazu die Bremsklappen, man spürte es wie eine Faust gegen den Magen, Bremsen, Sinken wie im Lift, im letzten Augenblick verlor ich die Nerven, so dass die Notlandung — ich sah nur noch die flitzenden Agaven zu beiden Seiten, dann beide Hände vors Gesicht! — nichts als ein blinder Schlag war, Sturz vornüber in die Bewusstlosigkeit." (Seite 20)
Erstens taucht hier der Magen auf (wichtig, weil Faber daran erkrankt), dann die Bewusstlosigkeit, die die Ohnmacht auf der Toilette verdoppelt, allerdings zuvor: "beide Hände vors Gesicht", das Nicht-sehen-wollen, welches die Nüchternheit Fabers umdreht und konterkariert.
Symbolische Lesart: zum Beispiel, dass das ausgefahrene Fahrgestell und die fehlende Piste als Analogie zum Heiraten zu lesen sind: der eine will, der andere nicht.

Thema: welche Körperteile thematisiert Faber? (Nerven, Gesicht, Magen, Hände, …) und wie werden sie thematisiert?
(Auch die Körperfunktionen, insbesondere der Schweiß!)

Die Wahrscheinlichkeit und das Übliche; Erklärung über die Wahrscheinlichkeit: Seite 22

Heiß/kalt — Faber vor seiner Ohnmacht: draußen heiß, innen kalt (Seite 11); in der Wüste: tagsüber heiß, plötzlich zu kalt (Seite 23)
der Temperaturwechsel, kombiniert mit dem Licht oder mit dem Gebäude (alternativ das Fahrzeug)

Das Mathematische ist unpersönlich; die Wahrscheinlichkeit realisiert sich oder realisiert sich nicht. Das Schicksal dagegen ist auch eine Frage des Charakters, welcher Mensch man ist. Faber weigert sich, dieses Persönliche anzuerkennen. (Seite 22)
Er lehnt das Erlebnis ab. (Seite 23, 24f.)

Ebenso: die Farben des Schachs und das Schach selbst, weiß/schwarz, hell/dunkel
Schach zum Beispiel: Seite 23
Weiß/schwarz zum Beispiel: Seite 161 ("Hanna in Schwarz, ihr Eintreten in mein weißes Zimmer.")

Frau als Sphinx:

"Ich verstehe Hanna überhaupt nicht, ihr Lächeln, wenn ich frage, ihr Blick an mir vorbei, manchmal habe ich Angst, sie wird noch verrückt." (Seite 161)
(Außerdem Sphinx: Seite 142 zusammen mit Ödipus)

Doppelgänger

Der unbekannte Mensch am eigenen Telefonanschluss: noch ein Doppelgänger (Seite 163 f.)

Ereignis, Halluzination

Die realen Ereignisse werden zu Halluzinationen (Seite 165); das Erlebnis erscheint wie eine Art Hyperbel auf das Ereignis, eine Art mnemotechnischer Trick, damit es seine Wirklichkeit langfristig behaupten kann. (Dies ein eigener Gedanke)
Oder: Verdrängung? (was legt Frisch nahe?)

Natur und Technik

Die ganze Szene mit dem Nash (Seite 166 ff.): Die Nutzlosigkeit der Technik, wenn man sie nicht nutzen will.
Auch: die Natur ist der Technik nicht entgegengesetzt, sondern verdirbt sie nach und nach.
Herbert: das Kaputt-gehen-lassen (Brille, Nash, aber auch die Beziehung nach Deutschland)
Auch: des öfteren werden Personen ersetzt ("Herbert wie ein Indio!" (Seite 168)), hier der Eigenname durch eine fremde Gattung
danach: die Diskussion mit Hanna über die Technik (Seite 169)
Thema auch: Isolation/Blindheit

Thema: Spiegel

Seite 11: das farbige (= kranke) Gesicht, kurz vor der Ohnmacht (überhaupt: die Farben, im Kontrast zu schwarz/weiß)
Seite 18: die sich spiegelnde Sonne
Seite 98: das Restaurant mit den Spiegeln, die Selbstbespiegelung, die Spiegelung in achtfacher Ausfertigung, im Goldrahmen
Seite 109: Sabeth in der Spiegelung einer Vitrine (Hier ein Palimpsest: Sabeth und die etruskischen Scherben)
Seite 140: "Der Mann sieht sich als Herr der Welt, die Frau nur als seinen Spiegel." (Walters Distanz gegenüber Spiegeln = Ablehnung der Frau?)
Seite 152: sein Hemd im Spiegel sehen
Seite 170: zum ersten mal in den Spiegel sehen nach der Krankenhauseinlieferung, etwas erschrecken

Metaphern-Spiel

Seite 195: Wiederholung des Metaphern-Spiels (diesmal ohne Sabeth)

Zähne:

"Schlimm nur die Zähne. Ich habe sie immer gefürchtet; was man auch dagegen tut: ihre Verwitterung." (Seite 171)
Wortfeld: Verfall

Und weiter:
"Überhaupt der ganze Mensch! — als Konstruktion möglich, aber das Material ist verfehlt: Fleisch ist kein Material, sondern ein Fluch." (Seite 171)
Irgendwo: die Neger hätten ein ganz anderes Fleisch (Station auf Kuba?), Vergleich mit dem "amerikanischen Fleisch" (Thema auch: der schöne Wilde)

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