30.01.2012

Machenschaften des Sinns

Wer sich seinen unfreiwillig unterhaltsamen Blog antut, wird jedoch darüber nicht besonders überrascht sein: die allzu übliche esoterisch-narzisstische, sexistische, überdies leicht ins Faschistoide abdriftende Kost eben - wenig bis gar nichts dort zeugt von einer gewissen Reflexion oder gar Ansätzen (selbst-)kritischen Denkens (Vorerst erspare ich Ihnen Links und Zitate). Stattdessen krude Macht- und Reinheitsfantasien.
Schreibt jemand in einem Kommentar zu John Asht "droht".
Ja und nein.

Probleme der Literaturwissenschaft
Die Literaturwissenschaft hat mit Sicherheit ein Problem. Im weitesten Sinne kann man sagen, dass sie den Sinn von Texten untersucht. Nun ist dieser Sinn während des ganzen 19. Jahrhunderts, von Schelling an (aber eigentlich schon bei Kant) auf eine probeweise empirische Basis gestellt worden. Spätestens seit Husserl muss man den Wertmaßstab von Sinn (guter Roman, weil "viel" Sinn, schlechter Roman, weil "wenig" Sinn) in Frage stellen. In der kognitiven Psychologie (siehe John Anderson: Kognitive Psychologie) entsteht der Sinn erst beim Lesen. Texte haben keinen Sinn. Aber sie machen eben Sinn, wenn sie gelesen werden. Um dem Text einen Sinn zu geben, brauche ich Muster. Und solche Muster sind Gewohnheiten, angelernte Gewohnheiten, was zusammengehört und was nicht.
Nun entsteht hier ein erstes Problem: in Texten macht es sowohl Sinn, gewöhnliche Lesemuster zu bedienen, als auch mit ihnen zu brechen. Michael Crichton bedient mit seinem Buch Lost World sicherlich konventionelle Lesemuster, aber er tut es hervorragend. Friederike Mayröcker bedient mit ihrem Roman mein Herz, mein Zimmer, mein Name sicherlich keine konventionellen Lesemuster. Und hier muss ich vorsichtiger sagen: ich finde sie hervorragend.
Schon hier zeigt sich dann ein weiteres Problem. Texte sind zwar anschaulich, aber salopp formuliert anschaulich als schwarze Striche auf weißem Grund. Der Sinn von Texten dagegen ist nicht anschaulich. Man kann zwar einen Text "zitieren", aber man kann nicht den Sinn eines Textes zitieren. Den Sinn, den man in einem Text sieht, muss man entfalten. Die Literaturwissenschaft hat hier das Problem, dass sie nur eine sehr fragwürdige Basis des empirischen Beweises hat. 
Auch Lesemuster haben ein Problem: wenn sie aus Gewohnheiten entstanden sind, dann kann ich auch einen Text deshalb nicht verstehen, weil ich die passenden Gewohnheiten noch nicht besitze. Dann müsste ich sie erst erlernen. So erlerne ich seit zwanzig Jahren die Gewohnheit, Friederike Mayröcker zu lesen und traue mich heute noch nicht, über sie zu schreiben. So hatte ich neulich mit Robert von Oz eine Diskussion, der zwar von üblichen Geschichtsstrukturen abweichen möchte, aber als er einen Tipp von mir haben wollte, wie er eine Stelle ausgestalten soll, konnte ich ihm nicht viel dazu sagen: ich kann ja niemandem vorschreiben, wie er mit konventionellen Mustern brechen muss und ob dann eine Vermittlung beim Leser gelingt.

Faschistische Sprache I
Was die faschistische Sprache angeht: diese entsteht durch Strukturen im Sinn. Es ist also garnicht so einfach, eine Sprache als faschistisch zu bezeichnen. In meiner pädagogischen Vergangenheit habe ich immer wieder Unterhaltungen mit jungen Neonazis gehabt, deren einer Einwand so lautete: Aber mein Großvater war auch bei den Nazis und der ist ein ganz toller Mensch. Nun konnte ich diesen Einwand immer leicht verstehen. Auch mein Großvater war in der NSDAP und - wie er das selbst gesagt hat - auch "glühender" Anhänger. Und auch für mich war mein Großvater einer der tollsten Menschen in meinem Leben. Allerdings hat mein Großvater mir diese Ansicht einfach gemacht: er selbst hat seine Haltung im Dritten Reich als Fehler angesehen und hat gesagt, dass er die ganze Verwerflichkeit des Systems hätte sehen können, aber nicht sehen wollte. Er hat dann auf seine Art und Weise versucht, Verantwortung dafür zu übernehmen. Ob das gelungen ist, mag dahingestellt sein. Die Essenz aus diesen Beispielen kann man allerdings so formulieren: macht ein Mensch die faschistische Sprache oder macht die faschistische Sprache den faschistischen Menschen? Und wenn letzteres der Fall ist: wo liegt dann die Verantwortung des Einzelnen?
Hier scheint es mir zwei Strategien der Opposition zu geben: (1) die Aufklärung über die Probleme der Sprache, also ungefähr das, was ich gerade versuche, oder (2) die poetische Revolution, also das bewusste Andersgestalten von Sprache, eventuell: das Anders-erleben-machen der Sprache.
Dasselbe Problem haben wir auch bei sogenannten faschistischen Schriften: sind diese Schriften für sich faschistisch oder werden diese nur faschistisch gelesen? Anders gefragt: ist Hitlers Mein Kampf ein faschistisches Buch oder wird es nur (aber eben nicht von allen Menschen) faschistisch gelesen? Und noch anders gefragt: Gäbe es nicht auch Lesegewohnheiten, die aus dem Grundgesetz ein faschistisches Pamphlet machen könnten (auch wenn das zunächst unwahrscheinlich erscheint)?

Wertung in der Literatur
Und hier kommen wir dann auf das Problem der literarischen Wertung zurück. Im Grund genommen kann man garnicht literarisch objektiv werten, weil diese Wertungen sich nicht an eine empirische Basis zurückbinden lassen. Dazu müsste der Sinn zitierbar sein. Zitierbar sind aber nur die materiellen Seiten des Textes, also die Schrift.

Wie also interpretieren? 
Zunächst geht es um semantische Kontraste. 
Schreibt Crichton "Im Licht des Vormittags ragten zwei gigantische Tyrannosaurier - jeder fast sieben Meter hoch - vor ihm auf." (Lost World, S. 190), dann kann man zunächst einen semantischen Kontrast zwischen Vormittag und Tyrannosaurier feststellen. Der Vormittag ist eine Tageszeit, während der Tyrannosaurus keine Tageszeit ist. 
Schließt die Eigenschaft eines Phänomens die Eigenschaft eines anderen Phänomens aus, spricht man von einer Opposition. So ist eine Leiche per Definition tot, womit zugleich eine Opposition zu lebendig besagt wird. 
Ist ein Kontrast hierarchisch, spricht man von einer Hierarchie. Solche Hierarchien bilden sich allerdings nur aus, wenn stützende Abwertungen und Aufwertungen stattfinden. Man bezeichnet das eine Buch als "Weltliteratur" und das andere als "besinnungsloses Geschwurbel". Wer ein Buch wie Peter Bretts "Das Flüstern der Nacht" liest, möchte keine experimentelle Prosa vorgelegt bekommen, sondern spannende und überzeugende erzählerische Kompositionen. Was auch immer das jetzt konkret bedeutet. 
Solche stützenden Auf- und Abwertungen sind auch konventionell, d.h. aus Gewohnheit entstanden. Wer Martin Walser auf dem Buchtitel liest, erwartet keinen Vampirporno (hoffentlich nicht! er würde enttäuscht), während ein nackter Frauenrücken, bzw. ein nackter Männeroberkörper plus (derzeit) entsprechenden Tattoos auf dem Cover geradezu suggeriert, dass es sich um eine heiße, konfliktreiche und übersinnliche Romanze handelt. Damit werden Erwartungshaltungen vorgegeben und wenn diese dann gebrochen werden (was ja an sich nicht schlecht ist), dann ist man enttäuscht. 
Allerdings spielt hier auch der Nimbus eines Autors eine große Rolle. Bretts Buch ist durchaus sehr schlecht geschrieben. Finde ich. Trotzdem hat er mit seinem Erstling einen Bestseller gehabt und der ist dann - bei seinem Zweitling - auch geschehen. Ich kenne seinen Erstling nicht. Aber sein Zweitling hat sicherlich auch von dem Nimbus des Erstlings profitiert.

Jedenfalls zeigt dies, dass die literarische Wertung nicht einfach zu treffen ist, will man sie mit Halt versorgen. 
Von hier aus müsste man dann semantische Reihen, pragmatische Funktionen (wozu dient eine Szene im Gesamtzusammenhang?) und so weiter erstellen; man müsste einheitliche Bedeutungsschichten (sogenannte Isotopien) erstellen, man müsste auf der expliziten Ebene (Personen, Orte, Handlungen) und auf der impliziten Ebene (rhetorische Struktur) präzise Übersichten erstellen und daraus dann eine Art "Gesamtwert" ableiten. 
Roman Jakobson und Claude Lévi-Strauss haben dies einmal für das Gedicht "Die Katzen" von Baudelaire versucht (in: Jakobson, Roman: Semiotik, S. 206-232) und Michael Riffaterre antwortet mit einem Kapitel in seiner "Strukturalen Stilistik" (S. 232-282). Dieses zwölfzeilige Gedicht veranlasst also die Autoren mal zu einem Text von 26 Seiten, mal zu einem Text von 50 Seiten. Das ist enorm!
Folgten wir Bachtin, so müsste der Literaturwissenschaftler sämtliche semantischen Kontraste und sämtliche Ebenen gleicher Bedeutung aus einem Text herausarbeiten, um darauf aufbauend Leserreaktionen abzuschätzen. Wenn das schon bei einem Werk wie dem kurzen Sonett von Baudelaire zu einer solch enormen Aufblähung im Kommentar kommt, wie würde es dann erst bei einem Roman von annähernd tausend Seiten sein? Man sehe sich dazu auch Sartres Flaubert-Monografie an, die annähernd so dick ist wie meine Ausgabe von Flauberts Werken (allerdings besitze ich eine französische Dünndruckausgabe, während mein Sartre auf dem schön dicken Papier des Rowohlt-Verlages zu finden ist). Sartre hat den Flaubert recht tendenziös gelesen. Eine objektivere Gesamtinterpretation stelle ich mir ebenfalls "enorm" vor.
Anders gesagt: wer Rezensionen haben will, muss immer mit Wertungen rechnen. Bisher hat sich zum Beispiel noch niemand in dieser ausführlichen Weise über den Wüstenplaneten (Frank Herbert) ausgelassen. Trotzdem würde niemand an dem Weltrang dieses Science-fiction-Romans zweifeln. Und doch kann man das Buch dann noch gut oder schlecht finden. Aber das ist eben, ob geschrieben oder nicht, auch nur eine Rezension.

Faschistische Sprache II
Was die Macht- und Reinheitsfantasien jenes besagten Herrn angeht, so mag ich im Moment dazu garnichts sagen. Es scheint mir der übliche Quark zu sein. 
Ich hatte neulich ein sehr nettes Telefonat mit der Inhaberin eines Kleinverlags (Reichel-Verlag), einer enorm sympathischen Frau, herzlich und gebildet. Ich schreibe, bzw. arbeite gerade zu einem von ihr herausgegebenen Buch, einem esoterischen Werk. Dieses Werk ist - meiner Ansicht nach - ein reines Machwerk. Es zeigt zu Beginn deutlich, wie ein gefühlter Kontrast durch rhetorische Strategien zu einer ideologischen Opposition umgebaut wird.
Insgesamt finde ich den Argumentationsgang "faschistisch". Da ich dazu schon seit längerer Zeit etwas veröffentlichen wollte, habe ich um Erlaubnis gefragt, dieses Buch benutzen zu dürfen. Natürlich war das der Verlegerin nicht recht. Ich habe auch gefragt, weil ich mit dem "negativen" Bescheid gerechnet habe. Und das ist in Ordnung. Weil nicht jeder, so wie ich, dieses Buch so lesen wird. Es gibt viel faschistoides Zeugs in der esoterischen Literatur. Man findet das aber auch in der Ratgeber-Literatur, insbesondere für Manager. Eine sehr bedenkliche Strömung.
Und doch auch hier noch einmal die Frage, ob ein einzelner Mensch nicht einfach nur unreflektiert auf der Strömung gesellschaftlicher Tendenzen mitgetragen wird oder ob er "faschistisch" ist. Bei den logischen Brüchen, die er in seinem Verhalten zeigt (was ja letzten Endes auch der Auslöser des "Shitstorms" war), dürfte man dies bezweifeln. Was übrigens nicht damit zusammenhängt, ob er ein guter oder ein schlechter Autor ist. (Ich mag Stefan George ganz gerne, aber was ist das für ein faschistischer Hampel; und Brecht liebe ich, aber wie der mit Frauen umgegangen ist: zum Davonlaufen, oder: zum Kommunistisch-werden.)

Ein paar Links
In den letzten Jahren hatte ich mich immer mal wieder mit ähnlichen Problemen herumgeschlagen. Besonders hübsch finde ich immer noch folgenden Artikel von mir:
Zur Ideologie und Kreativität:
Schließlich zum faschistischen Sprechen:

1 Kommentar :

Gabriele Hefele hat gesagt…

Die Überschrift ist schon mal cool! So ganz bin ich nicht zufrieden, gerade wenn Du Husserl und Sartre einbaust. Der Exitenzialismus bzw. die Philosophie des Absurden braucht keinen Sinn. Oder, um es als Quintessenz vielleicht in Kürze-Würze zu sagen: Das, was der bildende Künstler definiert mit "die Kunst liegt im Auge des Betrachters" kann man in der Literatur vielleicht gleichsetzen mit: Der Sinn liegt in der Fantasie des Rezipienten.
Bemerkt am Tag des Buches 2013 Gabriele Hefele ;-)