28.05.2012

Kritik an der emotionalen Intelligenz

Woran ich allerdings eigentlich arbeite: emotionale Intelligenz.
Das Buch von Goleman lese ich mittlerweile zum x-ten Male. Ich habe mir immer wieder Notizen dazu gemacht, mal mehr von Aspekt der reinen Information, mal von den Textmustern her, die Goleman verwendet.
Im Moment pflücke ich die Logik bestimmter Textpassagen auseinander, einmal mit dem Hintergrund der Logik von Dewey und einmal mit der Mythentheorie von Barthes.

Die Ergebnisse meiner bisherigen Aufzeichnungen müssten zu einer Unfähigkeitserklärung unserer Kultur führen, einen ernsthaft reflektierten Umgang mit Emotionen zu etablieren. Selbst Goleman! Den ich nicht schlecht finde.

Wo liegen also die Probleme?
(1) Emotion und kognitiver Prozess. Ein erstes Problem ist die fehlende Betrachtung, wann wo und wie Emotionen im Denkprozess eingreifen und damit präzisere Postulate, wann man Denkmuster, wann Handlungsmuster aufbauen sollte und wann man Emotionen einfach hinnehmen sollte. Im übrigen wird in der Trainer-Literatur selten (ich möchte sogar behaupten: nie) zwischen Mustern der Wahrnehmungsverarbeitung und Handlungsmustern unterschieden, obwohl diese beiden, auch wenn sie praktisch zusammenhängen, getrennt werden können, analytisch natürlich nur.

(2) Kohärenz. Das zweite Problem führt mich zu einem Theoriestück, das zunächst vollkommen außerhalb einer "Neurophysiologie" oder Psychologie der Emotionen liegt: die Unterscheidung von Textkohärenz und Textkohäsion. Mit Textkohäsion bezeichnet Barbara Sandig (Textstilistik des Deutschen, 387) die im Text durch Signale hergestellte Strukturierung, also das, was ein Textproduzent macht, wenn er dem Leser einen zusammenhängenden Text liefern möchte. Mit Textkohärenz dagegen werden all jene Operationen des Lesers bezeichnet, um sich einen Text zusammenhängend zu machen. Die Diskussion des Begriffes "Konnotation" in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts verweist darauf, wie schwierig es ist, hier eine Trennlinie zu ziehen.
Was ist nun ein emotionaler Prozess? Zunächst eine Operation im Denken, die gar nicht so emotional ist, sondern im wesentlichen kognitive Anteile enthält (und zwar sowohl Wahrnehmungsmuster als auch Handlungsmuster) und sich immer auch mit der Umwelt verbindet, d.h. für uns modernen Menschen: mit der Kultur. Schon die Bezeichnung "emotionaler Prozess" ist falsch. Und die Auftrennung in eine emotionale und eine rationale Seele, wie sie Goleman postuliert, kann nicht nur von Seiten der Psychologie aus bestritten werden, sondern erweist sich auch als durch und durch unpragmatisch.
Was passiert im konkreten emotional-kognitiven Prozess? Es gibt nur ein Ineinander, in dem sehr momenthaft eher die Emotion oder eher die Kognition führend ist. Und letzten Endes ist dieser Prozess immer eine Art Kopplung mit dem Umweltzusammenhang, bzw. dem kulturellen Zusammenhang. Und hier kommen die Begriffe von Kohärenz und Kohäsion ins Spiel: die Kultur bietet mir eine gewisse Form der Kohäsion, aber eben nie eine vollständige, rationale oder logische, sondern eben eine, die sich über Zusammenhänge darstellt. Trotzdem muss ich als Individuum auch Operationen der Kohärenz nutzen, denn eine Kultur ist nie aus sich heraus zusammenhängend: ich muss (aktiv) meine eigenen Fähigkeiten, Zusammenhänge herzustellen, nutzen.
So muss man, wenn man die "emotionale Intelligenz" betrachtet, keine Theorien darüber aufstellen, ob und wie sich Emotionen fördern lassen, sondern wie man mit diesem emotional-kognitiven Prozess zu Kohärenzen (mit der Kultur) kommt (und selbstverständlich nie mit der ganzen Kultur, sondern mit der Kultur, wie sie mich umgibt).

(3) Rationale und emotionale Seele. Dieser Begriff des kulturellen Zusammenhangs antwortet auch darauf, warum ich den Begriff der Rationalität oder Logik nur äußerst vorsichtig verwenden würde. Rational erscheint uns nämlich zuerst das, was uns die Kultur als Zusammenhang nahelegt, weshalb Zusammenhang der grundlegendere Begriff ist und Rationalität vermutlich eine Mystifizierung.
Dasselbe gilt aber auch für die so genannte "rationale Seele": diese wird weitestgehend mit dem wachem Bewusstsein gleichgesetzt. Doch auch hier gibt es weniger eine echte Rationalität, als einen erlernten "Geschmack" für Zusammenhänge. Die Rationalität zehrt nur noch von den Mythen, die uns die Vernunftsphilosophie und deren kleinbürgerlichen Abkömmlinge hinterlassen hat.
Indem Goleman die Emotionen und die Kognitionen durch seine emotionale und rationale Seele quasi räumlich komplett trennt, trennt er auch emotionale und rationale Operationen, so als gäbe es zwei verschiedene Wahrnehmungsweisen, die man bei gesteigerter Intelligenz auswählen könnte. Tatsächlich aber wirken im Denkzusammenhang verschiedene Elemente zusammen und erschaffen so einen Kreislauf, der, gemäß den späten Neukantianern und den Gestaltpsychologen, mehr ist, als die Summe seiner Teile (siehe dazu zum Beispiel Uexküll: Theoretische Biologie, und hier das ganze achte Kapitel).
Mit Kohärenz bezeichne ich also (in diesem Fall) die Fähigkeit des emotional-kognitiven "Kreislaufes", in der Umwelt zusammenhängend (aber nicht rational) und Zusammenhänge schaffend zu handeln. Es ist also kein logischer Begriff, keiner, der für mehr Qualität sorgt, keiner, in dem Vernunft oder Rationalität oder gesunder Menschenverstand steckt, aber ein komplexeres Erklärungsmuster, warum und wie Menschen in einer Situation auf die eine oder andere Weise reagieren. Aber es erklärt auch, warum uns die eine oder andere Reaktion als befremdlich erscheint: wir sehen nicht den Zusammenhang und wie der Mensch (in seinem Inneren) versucht, diesen Zusammenhang zu stiften.
Wichtig bleibt dabei vor allem, wie wir hier, als Pädagogen und Trainer, Eingriffsmöglichkeiten sehen. Und hier kann man eigentlich die ganze Literatur über emotionale Intelligenz, trotz oftmals anderen Behauptungen, auf einen Nenner zurückführen: eingegriffen wird immer in kognitive Zusammenhänge. Die Emotion lässt sich nicht verändern, nur der Prozess, wie die Emotion zu Kohärenz führt, also der grundlegende Regelkreislauf.

(4) Weibliches und männliches Denken. Hier kann man dann auch jegliche Gleichsetzung von männlichem mit rationalem Denken, weiblichem mit emotionalem Denken den Kampf ansagen. Vor allem können hier alle biologistischen Theorien dadurch ausgehebelt werden, dass zwar Emotionen im konkreten Denkprozess durchaus eine unterschiedliche Rolle spielen könnten, und damit auch mögliche unterschiedliche geschlechtsspezifische Ausprägungen; aber in dem Kreislauf der Kohärenz treten ganz andere Qualitäten in den Vordergrund.
Ich erinnere mich dieser Stelle immer nur sehr gerne an meine "Feministin", die ihr Schweigen, ihre Unfähigkeit zu diskutieren, gerne mal mit der Aussage: ich sehe das ganze eben emotional! begründet hat. Bedenkt man aber, dass Emotionen eher dazu da sind, bestimmte Wahrnehmungsmuster auszuwählen, dann ist diese Aussage eigentlich so zu übersetzen: kritisier nicht meine Auswahl (von Wahrnehmungsmustern), sondern nimm gefälligst hin, wie ich dich wahrnehme und ordne dich mir unter. Es ist eine pure Machtaussage, eine Denkfaulheit und eigentlich auch eine Unfähigkeit, sozial zu handeln.
Aber ähnliche Effekte findet man auch bei Trainern und natürlich möchte ich hier keineswegs sagen, dass Frauen von solchen stupiden Aussagen besonders viele Vorteile haben. Man trifft sie genauso bei Männern (wobei mir hier die Erfahrung fehlt, mit einem Mann in einer so intimen Beziehung gelebt zu haben, dass ich darüber konkrete Aussagen treffen könnte, die meine Erfahrung mit einer gewissen Frau konterkarieren könnte). Aber man hört ja so einiges und erlebt auch so einiges mit, wenn auch nur mit mehr oder weniger Distanz.

Bücher: Sloterdijk, Tarde

Da ich sowohl von meinem eigenen Herren als auch von meinem anderen für Pfingsten versetzt worden bin, hatte ich viel Zeit, mich mit Büchern zu beschäftigen. Vom Freitag bis Samstag habe ich mir das wundervolle Buch Mythen des Alltags als Kommentargrundlage auf den Schreibtisch gelegt. Ich hatte dieses Buch zwar schon, aber in der alten, reduzierten Auflage. Mittlerweile gibt es diese neue Übersetzung mit sämtlichen Mythen, bzw. Glossen. Ach ja: Autor ist Roland Barthes, erschienen ist es bei Suhrkamp. Sehr empfehlenswert, wenn auch der theoretische Anhang den einen oder anderen Erstleser intellektuell überfordern dürfte: zu fremd ist die Denkweise der Semiologie, wenn man sich nicht längere Zeit damit beschäftigt hat.

(Nachtrag: entstanden ist unter anderem auch eine halbe Glosse zu Ursula von der Leyen, deren einen kämpferischen Auftritt ich letzte Woche auf youtube gefunden habe und die (für mich) mal wieder nichts anderes macht, als in etwa zu sagen: Die bürgerliche Familie hat sich gemacht, damit sie die CDU (also die Ursula) wählen kann, denn U steht für Ursula, also Union.
Übrigens hat mich diese Darstellung dann doch sehr an das Lied Modern things von Björk erinnert, in dem sie singt: They (the modern things) just waited in a mountain for the right moment ... to multiply and take over. - So ähnlich scheint sich Frau von der Leyen nämlich die Glückseligkeit der bürgerlichen Familie vorzustellen: seit Anbeginn der Vertreibung aus dem Paradies hat diese irgendwie in einer Kaverne des Matterhorns darauf gewartet, dass das richtige Signal käme und als sich dann die erste rechtsbürgerliche Partei gründen wollte, ist sie aus ihrem Versteck gehupft und hat geschrieen: Hurra, und hier sind eure Wähler!)

Dann habe ich mir noch drei weitere Bücher gekauft: 
Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Ein schönes Buch, in dem ich bisher aber nur herumgestöbert habe. Wollte man es einordnen, dann ist es eine postmoderne Religionsphilosophie; doch das wäre zu viel oder zu wenig gesagt. Das, was ich bisher gelesen habe, korrespondiert zumindest sehr eng mit Kants "Kritik der praktischen Vernunft" und der darauf folgenden "Metaphysik der Sitten" (in der Kant seine Staatslehre, Rechtslehre und Religionslehre dargestellt hat). 
Das zweite Buch stammt von dem französischen Soziologen Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung. Dieses Buch ist mir in gewisser Weise sehr gut vertraut, weil ich mich mit Deleuze so intensiv beschäftigt habe. Seit drei Jahren existiert dieses Buch in einer deutschen Übersetzung und als Taschenbuch, ebenfalls vom Suhrkamp-Verlag. Irgendwie konnte ich mich nicht dagegen wehren, es zu besitzen.
Das dritte Buch ist ein Kommentarband zu Gabriel Tarde von Christian Borch und Urs Stäheli: Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Wiederum im Suhrkamp Verlag. Reingelesen habe ich nur in den Aufsatz "Urbane Nachahmung" von Christian Borch, der allerdings einen umfangreichen Kommentar nötig hätte, um all die Fäden weiterzuspinnen, die der Autor hineinflicht.

Das emotionale Gehirn

… sehe aus wie "ein Beigel, aus dem unten ein Stück herausgebissen ist" (Goleman, 28), was wahrscheinlich daran liegt, dass unten, im Stammhirn, das Zentrum für unser Hungergefühl sitzt.
Ohne Zweifel hat mich diese Information sehr viel emotionaler gemacht und mir gleichzeitig vertiefte Einsichten in die neurophysiologische Verstrickung der Emotionen gebracht.

24.05.2012

Nicht zu fassen! Emotionale Intelligenz

"Schreiben Sie doch mal ein Buch über emotionale Intelligenz!", sagte heute Morgen eine Klientin zu mir, die gerade ihre Masterarbeit schreibt und mit der ich vor zwei Wochen über die Verbindung von Emotionen und Kognitionen gearbeitet habe und deren Verbindung mit wissenschaftlich orientierten Denkprozessen.
Besagte Klientin hat sich daraufhin einige Bücher über die emotionale Intelligenz gekauft und sich versucht, in das Thema einzuarbeiten. Über diese Bücher hat sie sich dann heute Morgen bei mir reichlich aufgeregt. Was uns in herzliches Gelächter ausbrechen ließ, war folgende Kapitelüberschrift eines ersten Kapitels in einem dieser Bücher:
Tipp 1: Lernen Sie mit ihren Gefühlen umzugehen!
Ja was denn sonst? Emotionale Intelligenz lernt man nicht dadurch, dass man Brötchen backt. Und wieder einmal meine Frage: wie viel Gedanken machen sich eigentlich diese ganzen Trainer und Coaches und eigentlich nicht populärwissenschaftlich, sondern nur noch esoterisch schreibenden Ratgeberautoren, wenn sie über die emotionale Intelligenz nachdenken? Offensichtlich viel zu wenige!

Jedenfalls bin ich gerade wieder an diesem Thema dran.
Eines der größten Probleme scheint mir die unklaren Begrifflichkeiten zu sein. Natürlich sind alle sozialen Kompetenzen miteinander vernetzt, wenn niemand genau weiß oder genau definiert, was wir uns unter bestimmten sozialen Kompetenzen vorzustellen haben. Mit anderen Worten: wir haben es mit einer wolkigen Begrifflichkeit zu tun.
Und hier müsste man einfach mal unhöflich sein und sagen: ich respektiere eure Art, diese Wörter so zu benutzen, nicht. Und dann nonchalant klare Begriffe mit klaren Definitionen zu schaffen.

Du, der an der Bratsche, ist das nicht der Sarrazin?

"Ja, komisch. An der Posaune sitzt er noch mal."

Auch so kann man einen Wagner-Abend gestalten.

Die Berliner Philharmoniker haben unter der Leitung von Simon Rattle die Walküre konzertant aufgeführt. Wagner mag ich zwar mittlerweile ganz gerne, aber für so lange und große Opern habe ich mich eigentlich noch nie begeistern können und daran hat sich bis heute auch wenig geändert. Was das Orchester allerdings heute Abend geschafft hat, zusammen mit den Sängerinnen und Sängern, war wirklich großartig.
Ich habe den Ring 1997 (soweit ich mich erinnere) in einem Gastspiel in Hamburg gesehen und das damals als ziemliche Qual empfunden. Für mich war das eher eine Pflichtübung in Kultur, denn ein Genuss. Oder ich war einfach noch nicht reif genug. 
Jedenfalls habe ich die Aufführung heute Abend sehr genossen. Nicht zuletzt lag das aber an der Interpretation. Christiane Peitz schrieb gestern im Tagesspiegel, Rattle gehe "expressionistisch zu Werke"; jedoch seien die Sänger zu laut: sie würden "kaum die Chance für Zartheiten, Zwischentöne, Farbnuancen" nutzen. Und gerade das habe ich nicht so empfunden. 
Rattle hat sicherlich "expressionistische" Züge an Wagners Oper deutlicher hervorgehoben. Was auch immer das heißt! Man kann ja noch in irgendeiner Art und Weise die bereits hochindividuelle romantische Musik in bestimmten stilistischen Mitteln vergleichen (aber man höre sich den Unterschied zwischen den geistlichen Werken eines Franz Liszt und eines Max Reger an); bei der so genannten expressionistischen Musik dürfte dies allerdings schwer werden. Und so ist die Behauptung, die Interpretation der Berliner sei expressionistisch, schon allein deshalb nicht nachvollziehbar, weil Peitz nicht sagt, in welchem Sinne expressionistisch.
Klar aber wurde, dass Rattle die einzelnen Passagen scharf gegeneinander konturiert. Wo man auch einen fließenderen Übergang in den tonalen Feldern hätte erwarten können, bricht Rattle diese auf und setzt sie (nicht immer) als Kontraste nebeneinander, was mich allerdings mehr an impressionistische Werke erinnert hat, zum Beispiel an die Images.
Wie auch immer: musikalisch gesehen war der Abend ein großer Erfolg (zumindest für mich). Diese konzertante Version ist empfehlenswert. Bleibt nur zu hoffen, dass Rattle sie regelmäßig aufführt.

23.05.2012

der Tunnelblick und die Theorie

Das langsame, analytische Denken (System 2) ist also anstrengend, kostet mentale Energie, so dass man unbewusst dazu neigt, es zu umgehen. Hierzu ebenfalls ein Beispiel aus dem Buch. Es wurden die Urteile von Richtern untersucht. Die Forscher fanden heraus, dass die Urteilssprüche weniger mit den individuellen Fällen und stattdessen mehr mit dem Tagesablauf der Richter zu tun hatten. Die Richter haben viel mehr Leute auf Bewährung entlassen, wenn der Fall früh oder nach der Mittagspause dran kam. Die schlechtesten Chancen hatten Häftlinge, wenn ihr Fall verhandelt wurde und die Richter schon mehrere Stunden gearbeitet hatten. Hier wurden die meisten Bewährungsanträge abgelehnt.

Kahnemann erklärt dieses Phänomen mit mentaler Müdigkeit. Er sagt, dass die Arbeit von Richtern in erster Linie langsames, analytisches Denken beansprucht. Dies ist aber anstrengend und laugt die mentalen Energiereserven aus. Deshalb ist es eine menschliche Reaktion der Richter, irgendwann im "Standard-Modus" zu denken. In diesem Fall mit der Überlegung: er sitzt schon im Gefängnis, also lieber nichts dran ändern.
Dieses Zitat von Falk Müller aus seiner Rezension zu dem Buch ›Schnelles Denken, langsames Denken‹ von Daniel Kahneman fand ich sehr hübsch. Und es bringt natürlich auch ein Problem auf den Punkt, den manche meiner Leser immer wieder mit mir haben: Sie finden meine Texte anstrengend. Manche geben auch offen zu, dass sie meine langen Texte nicht zu Ende lesen.

Automatisieren

Es gibt allerdings noch eine andere Betrachtungsweise, die unter anderem den Begriff des analytischen Denkens torpediert.
Alles, was wir häufig tun oder häufig denken, automatisieren wir. D.h., dass wir bestimmte Muster verinnerlichen und diese (wie immer auch das neurophysiologisch genau passiert) uns durch häufige Übung mehr und mehr erleichtern. Dies nennt man dann auch Kompetenzaufbau.
Es ist klar, dass ich, weil ich mich schon lange mit diesem Thema beschäftige, größere Kompetenzen aufgebaut habe, als die meisten meiner Leser. Damit soll übrigens nicht gesagt werden, dass ich intelligenter bin. Es heißt eben nur, dass ich bestimmte Denkmuster, die der Autor hier analytisch nennt, besser automatisiert haben.

Analytisch?

Im übrigen mag ich diesen umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes "analytisch" überhaupt nicht. Er wird immer einer hochintellektuellen Tätigkeit gleichgesetzt. Im Prinzip ist die Analyse aber nichts anderes als ein Urteil über die Merkmale einer Anschauung. Solche Urteile können völlig unsystematisch passieren. Ich sage zum Beispiel: "Wunderbar, wie blau der Himmel heute wieder ist!" und habe damit ein Merkmal (blau) einer Anschauung (Himmel) in ein Urteil (mein Satz) gepackt.
Einzelne Urteile zu treffen fällt mir leicht. Sollte ich aber eine systematische Beschreibung des Himmels abliefern (und zwar ausschließlich eine anschauliche), wird mir das viel schwerer fallen.

Systematische Urteile

Der Hintergrund von systematischeren Urteilen wird durch Begriffe gebildet und aufgebaut. Begriffsbildung ist der grundlegende Mechanismus des Kompetenzaufbaus. Sie strukturieren die Wahrnehmungen (und damit auch die Urteile) und die Handlungen. Das ist zwar etwas oberflächlich formuliert, zeigt aber, dass der grundlegende Mechanismus seit Kant, eigentlich schon Leibniz und, wenn man etwas großzügig ist, sogar schon seit Aristoteles bekannt ist.
Neu allerdings, jedenfalls relativ neu, ist, dass die Kognitionspsychologie heute bestimmte Phasen beim Begriffsaufbau unterscheidet. Es gibt eine Phase des Erstkontaktes: entweder nehme ich Phänomene wahr, habe für diese aber noch keinen Begriff; oder lese von einem Begriff, weiß aber noch nicht genau, wie ich mir diese anschaulich zu machen habe. Diese beiden Zustände stecken schon in dem Satz von Immanuel Kants drin, Anschaulichkeit ohne Begriffe sei blind, wie Begriffe ohne Anschaulichkeit leer wären.

Übungen

Viel wichtiger allerdings ist die zweite Phase: Hier werden Begriffe automatisiert, d.h. angewendet. Psychologisch gesehen verlieren die Begriffe damit nach und nach ihre hohes, energetisches Niveau und werden für uns leichter zugänglich, leichter gebräuchlich. Didaktisch erreichen wir das durch Übung, durch Anwendung von Begriffen auf anschauliches Material: das ist im Prinzip der Sinn vom ›Lernen mit allen Sinnen‹. Diese Anwendung von Begriffen auf anschauliches Material nennt Kant übrigens Erfahrung machen. Insofern ist auch dieses scheinbar neumodische Lernprinzip ein alter Hut. Kant hat es nur etwas anders, weniger werbewirksam ausgedrückt.

Mühseligkeit der Übung

Es ist übrigens auch ein alter Hut, dass diese zweite Phase, die Phase der Übung, von vielen Menschen gerne abgelehnt wird. Übungen sind mühsam und man muss damit rechnen, dass man bei der Überprüfung eines Begriffes anhand eines anschaulichen Materials auch mal gar nichts findet und sowieso nicht sofort. Ansonsten würde ich zum Beispiel nicht seit Jahren an einem solchen Begriff wie dem Spannungsaufbau herumarbeiten.
Werden Begriffe aber nicht geübt, wird der entscheidende Schritt vergessen: so entstehen auf der einen Seite Worthülsen (das sind Begriffe ohne Anschauung) und auf der anderen Seite der Aktionismus (man versucht mit der Anschauung umzugehen, ohne diese begriffen zu haben).
Für die Begriffe allerdings scheint es zunächst egal zu sein, ob diese mit etwas zusammenhängen, was man als Analyse bezeichnet. Jeder Begriff ist in sich aus einer Analyse entstanden (dazu muss ich nämlich die Umwelt nach ihren sinnlichen Merkmale analysieren) und jeder Begriff ist auch systematisch (insofern er einen inneren Zusammenhang aufweist).
Insofern könnte man auch behaupten, dass ein Kind, das gerade lernt, sich ein Brötchen zu streichen, dabei gleichzeitig Butter, Brötchen und Messer analysiert, d.h. diese Gegenstände nach den für einander wichtigen Merkmalen abschätzt.

Tunnelblick: Dummheit oder Trägheit?

Letzten Endes müssen die Ergebnisse von Kahneman nicht überraschen.
Wenig gebrauchte Begriffe erscheinen uns in ihrer Anwendung noch schwierig und unsicher. Die Unsicherheit verweist aber auch auf ein physiologisches Alarmniveau: unser Gehirn befindet sich mehr oder weniger in einem Zustand hoher Aktivität. Das ist anstrengend und kann nicht lange durchgehalten werden.
Was passiert? Bevor wir zu einem Tunnelblick kommen (ein Anzeichen von großer Müdigkeit), entwickelt sich in unserem Denken bereits dieser Tunnelblick. Menschen, die anfangen, müde zu werden, haben eine geringere Intelligenzleistung und dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass sie weniger Begriffe miteinander kombinieren können (was Kahneman als "mentale Müdigkeit" bezeichnet). Etwas salopp formuliert haben wir so, wenn wir wach sind, eine umfangreichere und differenziertere Theorie im Kopf, als wenn wir müde sind. Dadurch kann es zu Fehleinschätzungen kommen und zu Enttäuschungen.
Allerdings erscheint mir dies als eine ganz normale Phase in der Theoriearbeit zu sein, was allerdings viele Menschen nicht erfahren, weil sie nicht so bewusst und reflexiv mit Denkprozessen umgehen, wie Menschen, die viele und schwierige Bücher lesen.
Es mag also sein, dass dieser zeitweilige Tunnelblick und diese allererste Anstrengung und Unsicherheit sehr viel eher die Ursache dafür sind, dass Menschen vor der Theorie zurückschrecken, als die Theorie selbst. Es geht also um die Unterscheidung zwischen Dummheit und Trägheit.

Frei nach Seneca:
Es ist nicht die Theorie, die uns beunruhigt, sondern was wir über die Theorie denken.

aus der Versenkung auftauchen

Nach einigen Tagen, die ich vollkommen selbstvergessen mit meinen Kommentaren zugebracht habe, tauche ich jetzt so langsam wieder auf. Gestern habe ich es sogar geschafft, einige meiner Bücher einer Nachbarin zu bringen, wobei ich diese Bücher schon vor anderthalb Wochen bereitgestellt hatte. Aber zwei Treppen hochzusteigen ist mir zwischendurch überhaupt nicht eingefallen.

Und was habe ich konkret gemacht?

Ich habe meine Kommentare zum ersten Band von Harry Potter ergänzt, den dritten Band durchkommentiert und jetzt den vierten Band angefangen. Parallel dazu arbeite ich mit der ›Einführung in die Semiotik‹ und der ›Logik‹ von John Dewey und noch einige anderen Büchern.
Ein bisschen tragisch ist die ganze Geschichte schon alleine deshalb, weil ich parallel das Problem des sekundären Bedeutungsaufbaus (oder der Konnotation) weiterbearbeiten wollte, aber immer wieder zu den Analysen des Erzählens zurückkomme, so dass mir hier einfach kein Blog-Beitrag gelingen will.
Außerdem hatte ich die letzten beiden Tage einen leichten Knoten im Hirn, wie immer, wenn ich mich gerade in meinen Begriffen weiterbewegt habe, mir aber noch eine gute Darstellung fehlt.

Heute Nachmittag gehe ich in die Oper. Die Walküre.

Cedric, der sich im Moment (und schon seit über drei Wochen) in Frankreich befindet, geht es gut. Ich habe allerdings schon letzten Freitag mit ihm telefoniert.

Außerdem hat mir Sylvia ein ganzes Glas ihres köstlichen Bärlauch-Senfs geschickt. Das habe ich schon zur Hälfte verbraucht. An dieser Stelle ganz offiziell einen herzlichen Dank dafür.

Eine Geschichte verrätseln

Wer meinen Blog kennt, weiß, dass eine meiner langjährigen Projekte das Thema »eine Geschichte verrätseln« ist. Worum geht es dabei? Nun, zunächst geht es um eine linguistische, rhetorische und logische Beschreibung der Elemente, durch die ein Rätsel in eine Geschichte eingebaut wird und dort für den Leser wirksam wird.
Nachdem ich im November 2008 ein sehr wichtiges Zwischenergebnis hier auf dem Blog veröffentlicht hatte (Krimis plotten und schreiben: Spuren, Indizien, Rätsel), habe ich mich intensiver mit der Beziehung zwischen der Logik und der Narration beschäftigt, wobei mein Hauptbezugspunkt William van Orman Quine war, vor allem seine beiden Bücher ›Grundzüge der Logik‹ und ›Wort und Gegenstand‹. Hierzu kamen dann etliche Nebenprojekte, zum Beispiel, wie sich rein psychologisch Emotionen auf Motivationsprozesse auswirken.

Derzeit kehre ich zu den semiotischen Grundlagen zurück. Ich kommentiere zwar (seit Wochen) die Logik von John Dewey durch (sehr frei, sehr assoziativ zunächst, weshalb sich für mich hier noch keine grundlegend neuen Erweiterungen ergeben haben), parallel dazu habe ich aber Umberto Ecos ›Einführung in die Semiotik‹ durchkommentiert. Und dies habe ich jetzt dazu genutzt, die ersten vier Bände von Harry Potter noch einmal spezifischer auseinanderzupflücken. Dem sollen sich genauere und frischere Kommentare zu Andrea Camilleri anschließen.

Lange Rede, kurzer Sinn: ich bin ein ganzes Stück weit vorangekommen, aber nicht so, dass ich sagen könnte: jetzt habe ich eine wirklich gute Formel, wie man Rätsel kompetent in Geschichten einbaut.

Derzeit stellt sich mir das ganze Problem folgendermaßen:

Die Schichten eines Textes

Folgt man einem Vorschlag von Roland Barthes, dann teilt sich zumindest der erzählende Text in drei Schichten auf:
  • eine erste, syntaktische Schicht, die einfach die Abfolge von Wörtern und grundlegenden linguistisch beschreibbaren Phänomenen bezeichnet (also im Prinzip alle sprachlichen Phänomene, die grundlegend dazu beitragen, dass die Sprache nicht nur eine Struktur, sondern auch eine strukturierte Bedeutung "besitzt");
  • eine zweite, narrative Schicht; diese könnte man als den eigentlichen Ort bezeichnen, wo die Fiktion stattfindet: hier finden sich die bekannten Elemente einer Erzählung, wie sie von Schreibratgebern immer wieder aufgewärmt werden: die Personen, die Handlungen, die Orte;
  • und schließlich gibt es eine dritte Schicht, die Barthes die diskursive Schicht nennt; diese fokussiert, dass ein erzählender Text auch eine Kommunikation ist, und zwar eine Kommunikation vom Autor zum Leser.
Diese drei Schichten sind allerdings nur analytische Hilfsmittel. Es gibt wichtige Funktionen in einer Erzählung, die zu diesen drei Schichten gleichsam quer liegen. Diese möchte ich im folgenden kurz diskutieren, um dann auf das Problem der Verrätselung einzugehen.

Leserorientierung

Unter Leserorientierung verstehe ich die Orientierung des Lesers in den räumlich-zeitlichen Bezügen des Romans (siehe auch: Den Charakter verorten, Szenisches Schreiben). Zunächst denkt man, dies sei einfach, auch, weil es ja eine Selbstverständlichkeit ist. Tatsächlich aber ist es gar nicht so unproblematisch. Nicht nur junge Schriftsteller haben damit ihre Probleme; man findet mittlerweile in der Trivialliteratur zahlreiche Beispiele, wie dieser Aspekt komplett missachtet wird.
Eine solche Diskussion hatte ich gerade gestern wieder. Eine junge Schriftstellerin begann (nach einem Prolog) ihre Geschichte folgendermaßen (von mir leicht verändert):
Ich wurde eines Mittags in die ganze Geschichte hineingezogen. Wir hatten eine Freistunde und hatten uns in die Bibliothek zurückgezogen, um zu lernen.
Wir lernten nicht wirklich, eigentlich saßen wir faul auf unseren Stühlen herum und beobachteten einige kichernde Mädchen an einem anderen Tisch. Wäre uns nicht so langweilig gewesen, wäre das vielleicht alles nie geschehen.
Peter, ein muskulöser Junge mit kurzen, blonden Haaren, der sich zum Anführer unserer Truppe entwickelt hatte, warf uns einen Blick zu und nickte dann in Richtung Klaus. Er stand auf und sofort taten es ihm Tom und ich nach.
Dazu habe ich folgende Anmerkung gegeben:

Räumliche Bezüge aufbauen

Die folgende Erzählung kommt dann allerdings insgesamt recht überhastet daher. Das beginnt damit, dass du Orte, an denen eine Geschichte spielt, mit ein, zwei wichtigen Details ausstatten solltest. Bei dir existiert zum Beispiel die Bibliothek und existiert irgendwie doch nicht. Will sagen: sie ist ein ganz abstrakter Raum. Psychologisch gesehen ist es übrigens fragwürdig, warum dieser Haufen junger Kerle in die Bibliothek geht. Ich versuche hier mal eine Alternative zu schreiben:
"Ich wurde eines Mittags in die ganze Geschichte hineingezogen. Wir hatten eine freie Stunde, die wir damit verbrachten, müßig auf einer Bank herumzulümmeln und Studentinnen zu beobachten. Das Wetter war Ende Mai großartig. Ein reiner blauer Himmel spannte sich über den Campus und verführte die jungen Frauen dazu, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, das heißt mit soviel nackter Haut wie möglich. Wir befanden uns in bester Stimmung. Wäre es anders gewesen, wäre die folgende Geschichte vielleicht gar nicht passiert. Doch irgendwie hatte uns an diesem Tag der Hafer etwas zu sehr gejuckt.
Jedenfalls stupste mich Jesse plötzlich an und zeigte in Richtung Bibliothek. Jesse war, auch wenn das niemand von uns so gesagt hätte, der Anführer unserer Gruppe. Wenn er etwas interessant fand, dann fanden wir das auch spannend und wenn er etwas tun wollte, tat er es und wir schlossen uns an.
Das, was Jesse in diesem Augenblick entdeckt hatte, war eigentlich nichts ungewöhnliches. Quer über den Rasen hinweg befand sich der Eingang zur Universitätsbibliothek. Und dort trottete Randall, wie immer und trotz des warmen Wetters in schwarzer Kleidung, dürr und etwas vornübergebeugt, mit seiner abgewetzten Tasche. Er lief, auch das war ein sehr vertrauter Anblick, die Treppen am Eingang der Bibliothek hoch und verschwand hinter der Glastür.
»Mit dem habe ich noch eine Rechnung offen.« Damit stand er auf und wir, als habe er in uns einen passenden Schalter umgelegt, folgten ihm automatisch."
Du merkst an meiner Beschreibung (in die man durchaus noch Arbeit stecken darf: sie ist keineswegs perfekt), dass ich sehr viel mehr räumliche Bezüge nutze. Das ist sehr wichtig: was ist ein Protagonist? Ein Mensch in seiner Welt. Und das offensichtlichste Stück Welt des Protagonisten ist der Raum.

Personen charakterisieren

So bringst du zugleich den Protagonisten in eine Welt, in der er handeln kann und orientierst den Leser, so dass er eine Handlung logisch nachvollziehen kann. Im übrigen musst du nicht alles beschreiben, sondern nur ganz wichtige Details und diese wichtigen Details sind Details, die den Protagonisten charakterisieren. Den Protagonisten charakterisiert zum Beispiel, dass er sich für die Studentinnen interessiert und ihre Nacktheit. Uninteressant sind in diesem Fall, ob Bäume auf dem Campus stehen, welche Farbe die Mülleimer haben oder in welchem Zustand sich der Rasen befindet. All dies kannst du natürlich auch erwähnen, sofern es irgendwie in die Atmosphäre deiner Geschichte hineinpasst. Aber die häufig gezogene Schlussfolgerung aus dem Lehrsatz »Show, don't tell!«, man solle möglichst viele Details in seine Beschreibungen aufnehmen, ist eindeutig falsch. Falsch ist zwar auch, einen Satz wie den folgenden zu schreiben: "sie besaß immer noch das Spielzeug aus ihren Kindertagen.", wenn dann nichts mehr kommt. Aber ebenso falsch wäre es, nun 37 Spielzeuge aufzuzählen. Stattdessen pickt man sich zwei oder drei heraus:
"Sie hatte ihren braunen Teddy auf einer Kommode platziert, von wo aus er mit blind gewordenen Augenknöpfen und räudigem Fell wie ein kleiner Gott über den Schlafraum herrschte. Direkt neben ihm stand ein lädiertes Spielzeugauto, das Petra in einem fairen Kampf einem Jungen aus der Parallelklasse abgewonnen hatte. Soweit sie sich erinnerte, war das im ersten Schuljahr gewesen. Und so besaß sie noch einige andere Dinge, die die vielen Jahre nur abgewetzt und zum Teil zerdrückt überlebt hatten und wie Relikte aus biblischen Zeiten zwischen all den modernen technologischen Geräten in Petras Wohnung anmuteten."
Auch das ist bereits eine recht lange Beschreibung. Aber sie verdeutlicht besonders gut, was eine Beschreibung zu leisten vermag. Sie gibt einige konkrete Beispiele, die sich der Leser gut vorstellen kann. Außerdem charakterisiert sich hier die Frau namens Petra (es sind ihre Gegenstände und sie hat sie aufgehoben: das ist eine Charakterisierung durch Besitz und durch Handlungen). Und sie fügt der ganzen Geschichte eine Art Atmosphäre bei, die man im weitesten Sinne eine psychologische Atmosphäre nennen könnte: diese "unpassenden" Dinge aus der Vergangenheit symbolisieren häufig unbearbeitete Ereignisse aus der Kindheit und weisen in irgendeiner Art und Weise auch auf diese Ereignisse hin.
Oben hatte ich das Beispiel von den Studentinnen gegeben. Das ist zwar ein völlig gewöhnliches Detail, reicht aber aus, um eine Atmosphäre zu setzen, eine Atmosphäre der Sorglosigkeit und einer latent sexuellen Stimmung. Der Protagonist muss hier noch nicht einmal deutlich sagen, dass er an diesen Frauen interessiert ist. Alleine dadurch, dass es das erste, konkrete Detail ist, betont seine Wichtigkeit; genauso würden wir in der zweiten Beschreibung automatisch dem Teddybären eine größere Bedeutung beimessen als dem Auto.
Hier solltest du, und ich spreche jetzt für deinen gesamten Text, sehr viel bewusster Räume und Zeiten aufbauen, nicht nur, weil diese den Leser auf alltagslogische Weise orientieren, sondern auch, weil diese Räume und Zeiten zu einer Atmosphäre beitragen und, zumindest teilweise, auch die betreffenden Personen charakterisieren. Dies fehlt deinem Text an einigen Stellen zu stark, weshalb deine Figuren etwas blass wirken. Ein schöner Satz ist zum Beispiel: "Jesse, ein muskulöser Junge mit kurzen, blonden Haaren, …" O.K., hier sind die Details vielleicht etwas zu klischeehaft; aber auch das braucht man als Autor ja manchmal. Jedenfalls habe ich hier als Leser jetzt einen Anhaltspunkt, wie ich mir Jesse vorstellen kann. Die anderen jungen Männer dagegen sind recht farblos, um nicht zu sagen: abstrakt.

Infodumping

Nutzt du damit aber nicht zu viele Informationen (das sogenannte Infodumping)? Die Frage an sich ist berechtigt. Eine Information ist genau dann richtig, wenn sie eine der wichtigen Erzählfunktionen erfüllt: Leserorientierung (d.h., die Nachvollziehbarkeit von Raum und Zeit, Nachbarschaften und Abläufe durch den Leser), Charakterisierung von Atmosphären und Personen (und in einem weiteren Sinne auch von Orten), Spannungsaufbau (der Spannungsaufbau arbeitet sehr häufig mit "unwichtigen" Details, die gerade in einer Geschichte durch ihre Unwichtigkeit auffallen und dazu führen, dass der Leser sich fragt, warum der Autor dieses Detail erwähnt hat; bei dieser Technik muss der Autor allerdings dem Leser auch zeigen, dass er seine Wörter und andere Details in der Geschichte gekonnt platzieren kann, da sonst tatsächlich nur so etwas wie Infodumping herauskommt).
Die Frage ist also nicht falsch, aber leicht unvollständig. Und es passt auch nicht zu jedem Genre. Wenn du dir bestimmte humorvolle Literatur ansiehst, dann findest du Wucherungen von völlig nebensächlichen Details; diese Form des humorvollen Romans könnte man "barocker Schelmenroman" nennen; man findet ihn vom Don Quichote über Gullivers Reisen bis hin zum Schrecksenmeister von Walter Moers (im Nachwort zum Schrecksenmeister nennt Moers dies die mythenmetzschen Abschweifungen, was darauf hinweist, dass der Schelmenroman diese Textsorte als ein stilistisches und humoristisches Mittel pflegt, obwohl sie mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun haben oder nur sehr wenig). Psychologische Romane arbeiten mit mehr solcher Details, hier häufig stark auf die Personencharakterisierung bezogen. Da dein Roman in Richtung dieses psychologischen Romans geht, darfst du natürlich etwas ausführlicher sein, was deine Beschreibungen angeht. Nichtsdestotrotz sollten natürlich alle deine Wörter und die Gegenstände, die durch sie bezeichnet werden, immer noch gut ausgewählt werden. Sie sollten nicht einfach nur so in der Erzählung auftauchen.
Die Leserorientierung ist also eine wichtige und grundlegende Funktion in einer Geschichte.

In dem Schema der drei Schichten findet man sie aber in allen diesen drei Schichten wieder: auf der syntaktischen Ebene müssen diese räumlich-zeitlichen Bezüge geschrieben werden; auf der narrativen Ebene muss eine Person natürlich in einer Umwelt leben, in der sie handeln kann und in der die Geschichte sich abspielt; und schon alleine deshalb muss die Leserorientierung auch auf der diskursiven Ebene bedacht werden: damit der Leser die Handlung nachvollziehen kann, damit er Konflikte identifizieren kann, muss er zunächst die räumliche und zeitliche Logik einer Geschichte verstehen: diese ermöglicht nämlich andere Funktionen, wie zum Beispiel dem Spannungsaufbau.
In Bezug auf den Spannungsaufbau ist die Leserorientierung zwar nur ein Hilfsmittel, aber ein notwendiges. Ohne Techniken der Leserorientierung wäre der Spannungsaufbau wie der Versuch, einen Kuchen ohne Mehl zu backen.

Charakterisierung von Personen

Auch dies ist eine wichtige Funktion der Erzählung, die alle drei Ebenen umfasst. Ganz klar: ohne handelnde Personen kommt die narrative Ebene nicht aus. Auf der syntaktischen Ebene müssen diese Personen geschrieben werden: auch das ist eine Selbstverständlichkeit.

Auf der diskursiven Ebene scheint es eine kognitive und emotionale Effekte zu geben: kognitiv gesehen müssen die Handlungen der Personen und der Charakter zusammenpassen. Der Zusammenhang muss nachvollziehbar sein.
Emotionale Effekte wurden und werden häufig mit dem Begriff der Identifizierung belegt. Der Leser müsse sich zumindest mit dem Protagonisten identifizieren können. Ich halte dieses Wort allerdings für zu stark und zu grob.
Meiner Ansicht nach lässt sich dieser Begriff weiter aufteilen. Auf der einen Seite darf eine Person nicht nur kognitiv nachvollziehbar sein, sondern auch emotional. Simpel ausgedrückt: ich, als Leser, muss ein Gefühl für eine bestimmte Person bekommen.
Ein anderer emotionaler Effekt, der sich allerdings kaum wissenschaftlich beschreiben lässt, ist, dass ich bei einer guten Personenbeschreibung auch mehr oder weniger deutlich zeige, in welche Konflikte eine solche Figur geraten könnte. Dieses Konditional ist sehr bewusst gesetzt. Denn die Personenbeschreibung beschreibt explizit eben nur die Person; sie suggeriert aber die möglichen Konflikte und trägt damit zum Spannungsaufbau bei.
Das allerdings ist ein Thema, das sich mit linguistischen Beschreibungen kaum lösen lässt. Die linguistische Beschreibung stützt sich immer auf nachprüfbare, das heißt materielle Tatsachen. Und gerade diese lassen sich bei solchen emotionalen Reaktionen des Lesers kaum feststellen, geschweige denn systematisieren und in Schreibempfehlungen oder Schreibtechniken umsetzen.

So finden wir auch hier die Vermischung aller drei Ebenen.
Und genauso ist es beim Spannungsaufbau.

Spannungsaufbau

Um das Problem des Spannungsaufbaus zu verstehen (zumindest, wie es sich für mich im Moment darstellt), müssen wir auf zwei weitere Begriffe von Roland Barthes zurückgreifen: den proairetischen und den hermeneutischen Code.

Der proairetische Code

In seinem Buch S/Z beschreibt Barthes fünf grundlegende Codierungen einer Erzählung. Drei dieser Codierungen sollen uns hier nicht interessieren (obwohl sie in gewisser Weise mit den von mir postulierten Funktionen zusammenhängen): die Seme, die kulturellen und die symbolischen Codierungen.
Der vierten, proairetische Code bezeichnet alle Verhaltensweisen in einer Erzählung. Er besteht aus zwei Schichten: einmal den einzelnen Handlungen (die meist in aktiven Verben ausgedrückt werden) und einmal den "sinnvollen" Handlungsfolgen.

Barthes analysiert diese Handlungsfolgen. Dabei stellt er ein Problem fest: es gibt sozusagen keine geschlossenen Handlungsfolgen. Auch das ist eine Selbstverständlichkeit: eine Erzählung ist ein Geflecht aus Handlungen und eine Handlungsfolge verbindet sich mit einer anderen, so dass man diese nicht im eigentlichen Sinne logisch trennen kann.
Analysiert man diese Handlungsfolgen in einem Roman, muss man ein ganzes Stück weit willkürlich vorgehen. Willkürlich heißt in diesem Fall, dass man keine exakte Begründung hat (als Analytiker), warum man eine Handlungsfolge mit einer bestimmten Handlung beginnen und mit einer anderen Handlung enden lässt. Hier wären Alternativen möglich.

Dieses analytische Problem verweist aber auf eine praktische Möglichkeit: wenn jede Handlungsfolge im Prinzip auch anders einteilbar ist, dann muss man auf die prinzipielle Offenheit von solchen Handlungen schließen: sie sind beliebig erweiterbar.
Ich vermute nun, dass diese Offenheit dem Leser durchaus irgendwie bewusst ist und er so immer nur abschätzen kann, was passieren könnte. Aber irgendwie weiß er auch, dass der Autor die Handlungsfolgen immer in eine andere Richtung als die gedachte treiben kann.
Mit diesem "Phänomen" verbinde ich den Spannungsaufbau. Weil die Spannung natürlich immer auch eine subjektive Leserreaktion ist, lässt sich diese nur exemplarisch und wenig theoretisch beschreiben.

Der hermeneutische Code

Damit bezeichnet Barthes die Formulierung von Rätseln in einer Geschichte, also das, was ich Verrätselung nenne. Dazu beschreibt er grundlegende Elemente, wie ein solches Rätsel aufgebaut und gelöst wird.

Mit dem etwas unglücklichen Begriff "Thema" bezeichnet Barthes alle jene Kunstgriffe, mit denen ein Rätsel vorbereitet wird. Etwas glücklicher wäre hier der Begriff "Vorbereitung". Sehen wir uns das an einem Beispiel an:
Damit das Rätsel "wer möchte den Stein der Weisen stehlen?" sich entfalten kann, brauchen wir einen Ort, an dem der "Stein der Weisen" geschützt aufbewahrt wird. Indem Rowling einen solchen Ort einführt, bereitet sie das Rätsel vor, also die Möglichkeit, dass ein solches Rätsel in der Geschichte auftaucht. Das "Thema" ist also nichts anderes, als solche räumlichen und zeitlichen Strukturen in der Erzählung auftauchen zu lassen, die zu Konflikten und zu Rätseln führen können.

Ein anderes Element des hermeneutischen Codes ist die falsche Antwort.
So wird im dritten Band von Harry Potter die Figur "Sirius Black" als Verbrecher eingeführt. Harry liest und hört mehrfach von ihm und jedes Mal wird deutlicher, dass Sirius Black böse ist. Beim ersten Mal erscheint er in den Nachrichten, die Harry bei den Dursleys sieht: hier wird Sirius als extrem gefährlich bezeichnet. Das ist die erste falsche Antwort.
Diese wird dann wiederholt, als Harry im fahrenden Ritter Sirius Black in der Zaubererzeitung wiedererkennt. Harry erfährt hier, dass Sirius ein Zauberer ist. Aber an der grundlegenden Tatsache, dass er zusätzlich ein Verbrecher ist, wird nicht gerüttelt. Im Gegenteil: diese falsche Antwort wird wiederholt und gefestigt.
Es folgen noch einige weitere Passagen, in denen diese falsche Antwort in Variationen als eine Wahrheit ausgegeben wird, so dass das eigentliche Rätsel (nicht Sirius ist böse, sondern Wurmschwanz: diese beiden Figuren wurden aufgrund eines Missverständnisses vertauscht) durch die hartnäckige falsche Antwort von Anfang an blockiert wird.

Probleme mit dem hermeneutischen Code

Ein erstes, rein praktisches Problem bei Roland Barthes ist die fehlende Verflechtung zwischen den verschiedenen Codes. Wenn ein Kommissar einen Mord aufklären möchte, führt er natürlich verschiedene Handlungen durch, die auf die eine oder andere Weise zur Festnahme des Täters führen sollen. Diese Handlungen gehören also zum proairetischen Code. Gleichzeitig aber beziehen sich diese Handlungen auch auf ein Rätsel und gehören damit im weitesten Sinne zum hermeneutischen Code.
Es ist zwar richtig, dass man diese Codes auf der analytischen Ebene zunächst trennen kann. Es erscheint mir aber so, dass ein Rätsel diese Handlungsfolgen mehr oder weniger geschickt auf sich ausrichtet, wie ein Magnet Eisenspäne. So dass der Autor dieses Ineinandergreifen von proairetischen und hermeneutischen Codes intensiv bedenken muss, sowohl bei der Auswahl der Handlungen als auch bei der Abfolge.
Hier muss man aber auf jeden Fall noch den symbolischen Code mit dazu nehmen. Etwas salopp gesagt finden sich hier die Konflikte wieder, die in der Geschichte aufgegriffen und bearbeitet werden. Selbstverständlich ist eine Spannungserzählung ohne Konflikte gar nicht vorstellbar, weshalb der symbolische Code so wichtig ist.
Analytisch gesehen ist S/Z ein ganz wundervolles Buch. Für den Praktiker, also für den Schriftsteller, hält es allerdings einige enorme Klippen bereit. Diese fehlende Betrachtung einer Beziehung zwischen den Codes ist eine solche Klippe. Deshalb habe ich vor Jahren bereits andere Begriffe, wie zum Beispiel Leserorientierung, Spannungsaufbau, Informationsvergabe, usw. mit der Analyse von Barthes kombiniert.

Ein zweites, wichtiges Problem bei Barthes ist, dass er den hermeneutischen Code nicht genügend nach den drei Ebenen der Erzählung trennt.
Natürlich muss ein Rätsel auf allen drei Ebenen auftauchen: es muss auf der syntaktischen Ebene beschrieben werden, es muss für den Protagonisten etwas bedeuten und der Leser muss dieses Rätsel natürlich wahrnehmen und nachvollziehen können.
Das ist die Grundlage.

Aber, und das habe ich gerade bei meiner Diskussion in der Harry Potter-Bücher noch einmal sehr deutlich festgestellt: es gibt sehr unterschiedliche Elemente der Verrätselung auf diesen drei verschiedenen Ebenen, schon alleine deshalb, weil sie auf der syntaktischen Ebene linguistisch beschrieben werden müssen, auf der narrativen Ebene literaturwissenschaftlich und auf der diskursiven Ebene psychologisch oder rezeptionsästhetisch.
Genau das sind aber die Fragen, die sich ein Autor stellen muss, wenn er in seiner Geschichte ein schickes Rätsel aufbauen möchte, das zu einer Spannung führt. Oder anders gesagt: der Autor muss sich folgende Fragen stellen:
  • wie fange ich den Leser ein, so dass er meine Geschichte als rätselhaft und spannend empfindet? (diskursive Ebene)
  • wie kommt der Protagonist mit dem Rätsel in Kontakt und wie geht er damit weiter um? (narrative Ebene und natürlich eine Frage des Plotaufbaus)
  • wie schreibe ich ein solches Rätsel? (syntaktische Ebene, bzw. die Frage der konkreten darstellerischen Mittel)

Randbemerkung: Die rhetorische Schicht

Rhetorik spielt eine wichtige Rolle dabei, wenn es darum geht es, die drei Ebenen der Erzählung miteinander zu verknüpfen. (Den Begriff der rhetorischen Schicht entnehme ich dem Buch ›Die Innenwelt des Denkens‹ von Jurij Lotman. Allerdings gibt es ähnliche Begriffe zum Beispiel bei Bachtin und Jakobson.)
Was macht die Rhetorik?

Nun, zunächst ist sie die Kunst der Überzeugung und Überredung. Sie überzeugt, wo sie eine bestimmte Moral, eine bestimmte Handlung logisch nachvollziehbar macht, und sie überredet, wo sie den Zuhörer zu einer bestimmten Handlung oder Haltung führen möchte.
Die Trennung von Überzeugung und Überredung in gut und schlecht möchte ich hier allerdings nicht nachvollziehen. Klassischerweise wurde den Sophisten vorgeworfen, sie würden durch trickreiche Reden ihre Zuhörer nur überreden: dies sei Manipulation und, wissenschaftlich gesehen, die Vorspiegelung falscher Tatsachen. Dagegen sei die Kunst der Überzeugung auch, eine logische Argumentation auf der Grundlage der Tatsachen aufzubauen.
Gerade aber mit der Trennung der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften (spezifisch dazu: Dilthey) ist auch für die Rhetorik das Problem überzeugen/überreden wieder sehr akut geworden. Wir glauben nämlich zum Beispiel an bestimmte Allgemeinplätze, als seien dies objektive Tatsachen und gehen dementsprechend eher naturwissenschaftlich damit um. Allerdings können wir solche Allgemeinplätze unter historischen und soziologischen Gesichtspunkten häufig sehr rasch auflösen und teilweise sogar naturwissenschaftlich widerlegen.

Jedenfalls findet man alle drei Ebenen der Erzählung, wie Roland Barthes sie analysiert hat, auch in der Rhetorik wieder: die rhetorischen Lehren in ihrer Ganzheit verhandeln natürlich die diskursive Ebene. Eine Rede ist dazu da, um auf den Zuhörer in einer bestimmten Art und Weise einzuwirken. Insofern kann man für die Rhetorik auch sagen, dass sie im mündlichen Bereich die Lehre von der guten Rede ist, im schriftlichen (und erzählerischen) Bereich die Lehre von der guten, diskursiven Ebene sei.
Den Plot und seine Elemente (Personen, Orte, Handlungen), also die narrative Ebene, kann man den ersten drei Phasen der Redeplanung gleichstellen. Die intellectio als Klärung des Redegegenstandes bezeichnete dann den Entschluss, wovon der Autor überhaupt erzählen möchte; die inventio als Finden und Erfinden des Stoffes entspricht der Ausarbeitung des Settings (also des Hintergrundes einer Erzählung) und die dispositio, die Ordnung des Stoffes zu einer guten Folge, entspricht dem Plotten, also dem Entwurf einer mehr oder weniger groben Struktur, wie die Geschichte passiert.
Schließlich wird in der elocutio behandelt, wie man eine sprachlich richtige und darstellerisch angenehme Rede formuliert. Die elocutio ist die Lehre von den sprachlichen Darstellungsmitteln. Hierher gehören zum Beispiel die rhetorischen Figuren, zum Beispiel die, die ich in meinem Buch ›Metaphorik‹ dargestellt habe. Es ist klar, dass auch eine Erzählung auf solche sprachlichen Darstellungsmittel zurückgreift. Diese tauchen zunächst auf der syntaktischen Ebene auf, entweder als bestimmte, besondere Wörter, als bestimmte, besondere Phänomene im Satz oder zwischen Sätzen.

Nun ist aber auch klar, dass ich in einem Text zum Beispiel eine Metapher oder einen Vergleich nicht grundlos einbaue, sondern damit auch einen kommunikativen Effekt erzielen möchte. So dass ich die Rhetorik, bzw. die darstellenden Mittel, die in der Rhetorik gelehrt werden, zugleich auf der syntaktischen als auch auf der diskursiven Ebene betrachten muss.
Insofern kann man auch sagen, dass die Rhetorik nur deshalb funktioniert, weil sie eine Verbindung zwischen der syntaktischen und der diskursiven Ebene herstellt. Und insofern die Argumentationslehre oder Logik (dispositio) in Erzählungen die Nachvollziehbarkeit von fiktiven Handlungen, Orten und Personen behandelt, verbinden sich hier auf der einen Seite die syntaktische mit der narrativen Ebene und auf der anderen Seite die narrative Ebene mit der diskursiven Ebene.

Die Rhetorik oder rhetorische Schicht liegt also gleichsam quer zu den drei Ebenen der Erzählung und verbindet und vermischt diese.
Dann allerdings könnte man auch postulieren, dass alle meine grundlegenden Funktionen, die ich für den Spannungsroman behaupte, sich durch rhetorische (und logische) Mittel beschreiben lassen, zumindest in vitro, wenn auch nicht in vivo.
Da ich allerdings noch nicht intensiver mit Bachtin und Lotman gearbeitet habe, kann ich dazu bisher nur Einschätzungen geben. Da beide Autoren einen anderen Fokus haben (sie wollen etwas analysieren) als ich (ich bin auch auf der Suche nach einer guten, intellektuellen Praxis), bin ich mir natürlich nicht sicher, ob ich dort Antworten finden werde.

Schluss

Dies alles ist mir im Prinzip seit Jahren bekannt. Meine Arbeit hat hier allerdings dazu geführt, dass ich einzelne Probleme besser benennen und besser darstellen kann. Eine Lösung, also konkrete Handlungsanweisungen, wie man eine Geschichte spannend macht, sehe ich allerdings noch nicht.
Es gibt also keine konkreten Empfehlungen, dass man auf diese oder jene Art und Weise schreiben soll und man sich dann sicher sein kann, dass automatisch eine spannende Geschichte dabei herauskommt.
Mit anderen Worten: es gibt keine Rezepte.

Noch nicht! Man soll die Hoffnung (obwohl sie mir in diesem Fall eher wie eine Befürchtung erscheint) nicht aufgeben.

Bevor jetzt wieder irgend ein anonymer Leser meckert, die üblichen Schreibratgeber würden gar nichts anderes behaupten (nämlich, dass es keine Rezepte für den Spannungsaufbau gibt): Sicher! Was ich hier schreibe, ist rein von der praktischen Seite aus gesehen nicht neu. Man versammelt das dann ganz gerne unter dem Begriff der Kreativität und Originalität.
Was mich allerdings an diesem analytischen Vorgehen interessiert, ist, das grundsätzliche Problem (wie schreibe ich einen Roman?) aufzuspalten und aufzugliedern, so dass man es nicht mit einem einzigen, großen Problem zu tun hat, sondern eher mit vielen kleinen, und dann hoffentlich auch wesentlich konkreteren.

Und außerdem erinnert sich der eine oder andere Leser an den Spruch, den ich immer wieder gerne zitiere: Gute Wissenschaft ist mager (in ihren Ergebnissen).
Indem ich nur das in analytischerer Weise wiederhole, was Schreibratgeber als Lebensweisheit von sich geben, habe ich vielleicht nicht einen Hunger gestillt, aber vielleicht diesen Hunger verändert.

10.05.2012

Kritik von "Metaphorik"

xtme : Gute eBooks hat eine schöne, wie bei ihm/ihr (?) immer kurze Rezension zu meinem Buch geschrieben:
Wer sich mit Sprache beschäftigt – oder einfach ausdrucksvoller reden und schreiben will, der sollte sich das ansehen. Dieses Buch ist ganz klar ein Fachbuch; und hin und wieder ist es doch etwas unplastisch … so erfährt man, was eine Katachrese ist oder etwa eine metaphorische Genitivkonstruktion. Doch die vielen treffenden Beispiele und Vorschläge machen dieses Buch wirklich lesenswert! (3.421 Positionen, 285 Normseiten, 2,99 € Normalpreis)
Abgesehen davon, dass mir der Zusammenhang zwischen dem unplastischen Schreiben und wie sich daraus die Katachrese folgern lässt (die ich sehr gut erklärt habe), nicht erschließt.

09.05.2012

Geisteswissenschaftliche Analysen sind nicht erwünscht

Zu meinem Artikel Antithese und Spannungsaufbau hat sich fast sofort nach der Veröffentlichung ein Anonymos gemeldet, und diesen Artikel pauschal als das "blödsinnigste, was ich [also Anonymos] jemals glesen" habe. Solche Kommentare bekomme ich in schöner Regelmäßigkeit. Meist lösche ich sie, weil sie nichts zum Thema beitragen. Eine ähnliche Diskussion hatte ich im März mit einem Menschen über das Lesen (Lesen, was dasteht). Oder, von 2006, In Stuttgart wäre das nicht passiert! (auch: Was ist Kritik?)
Feynsinn hat dazu gestern einen hübschen Artikel zu diesem Thema geschrieben: Wissenschaften? War da was?
Besonders schön:
Komplexere Inhalte werden regelmäßig zu Häppchen verarbeitet, die nichts mehr zu tun haben mit den verschachtelten Aussagen, die eigentlich vonnöten wären, um Wirklichkeit abzubilden. Obendrein werden sie noch mit semantischen Triggern vermengt (“Wachstum”, “Islamisten”, “Kommunismus”), deren Effekt jede Vermittlung von Inhalten zunichte macht. 
Und, da ich mich gerade wieder intensiver mit Luhmanns Wirtschaft der Gesellschaft beschäftigt habe, folgender Abschnitt:
Worauf ich aber vielmehr hinaus will: Wo bleibt eine Wirtschaftswissenschaft? Warum gibt es keine? Wo sind die kreativen Modelle alternativen Wirtschaftens? Wo der Streit um die stimmigen Ideen für ein nachhaltiges Wirtschaften, frei von den Dogmen des Kapitals?

Antithese und Spannungsaufbau

Letzte Woche habe ich mich daran gemacht, den dritten Band von Harry Potter auf die ›Verrätselung‹ durchzukommentieren. Mit Verrätselung bezeichne ich all die Textabschnitte, die sich auf ein Rätsel oder Geheimnis beziehen. Der französische Philosoph und Semiologen Roland Barthes nennt dies: hermeneutischer Code.
Zu den Ergebnissen, die Barthes in seinem Buch S/Z vorstellt, gibt es wenig zu sagen (oder im Gegensatz: sehr viel). Die Verrätselung ist eng an die Argumentation gebunden, vor allem aber an die Misshandlung der Argumentation. Dies werde ich hier nicht vorstellen (zu Argumentation als Grundgerüst eines Krimis siehe Krimis plotten und schreiben: Spuren, Indizien, Rätsel).

Mir ist bei der Lektüre von S/Z allerdings eine rhetorische Figur über den Weg und in die Hände gelaufen: die Antithese. Die Antithese wird von Barthes im Rahmen des ›symbolischen Codes‹ abgehandelt; mir ist allerdings ihr Bezug zum Spannungsaufbau bei der Arbeit an Harry Potter sehr viel deutlicher geworden.

Die Antithese

Was ist eine Antithese? In meiner Liste der rhetorischen Figuren definiere ich diese folgendermaßen:
Zusammenstellung eines Widerspruchs oder einer entgegengesetzten Entwicklung: „Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein.“, „Die linke Hand würgt ab, was die rechte zu ernähren sucht.“
Heinrich Plett gibt in seiner Systematischen Rhetorik folgendes Beispiel einer Antithese (von Schiller):
"Zeigt mir der Freund, was ich kann, lehrt mich der Feind, was ich soll, …"
Und hier wird deutlich, dass die Antithese nicht nur einen Widerspruch formuliert, sondern dass sie zuallererst zwei Merkmale parallelisiert: im letzten Fall (dem Zitat von Schiller) zum Beispiel "Freund" mit "können". Und ebenso wird "Feind" mit "sollen" gebündelt.

Die Parallelisierung

Zwischen den beiden semantischen Wirkungen der Antithese besteht ein Wechselverhältnis: Sie setzt einige Merkmale in eine Opposition zueinander, indem sie diese trennt; und zugleich verbindet sie die Merkmale, die "auf der gleichen Seite" stehen.
Sehen wir uns das an einem Beispiel an, an dem Beispiel, mit dem auch Roland Barthes seine Erläuterung veranschaulicht:
Ich war in eine jener tiefen Träumereien versunken, wie sie jeden, auch einen frivolen Menschen, inmitten noch so rauschender Feste erfassen. Die Uhr des Elysee-Bourbon hatte gerade Mitternacht geschlagen. In einer Fensternische sitzend und hinter den herabwallenden Falten eines Moirévorhangs verborgen, konnte ich nach Belieben den Garten der Villa betrachten, in deren Räumen ich den Abend verbrachte. Die vom Schnee nur unvollkommen bedeckten Bäume hoben sich schwach von dem graugetönten Hintergrund ab, einem wolkenverhangenen Himmel, den der Mond mit fahlem Weiß überzog. In dieser phantastischen Umgebung schienen sie irgend wie Gespenstern gleich, kaum verhüllt in ihren Grabtüchern; ein gigantisches Bild von dem berühmten Totentanz. Wenn ich mich dann nach der anderen Seite wandte, konnte ich den Tanz der Lebenden bewundern. Ich blickte in einen herrlichen Salon mit gold- und silberschimmernden Wänden, strahlenden Kronleuchtern, von Kerzen in Glanz getaucht. Dort wogten und schwärmten hin- und herflatternd die hübschesten Frauen von Paris, die reichsten, mit höchsten Titeln geschmückten, glanzvollsten, prunkend im Gefunkel ihrer Diamanten, mit Blumen auf dem Kopf, an der Brust, im Haar, über die Kleider hingestreut oder an ihren Füßen zu Girlanden gewunden. Sanftes Erzittern, wollüstige Schritte ließen die Spitzen, die Seidenstickereien, den Musselin um ihre zarten Gestalten wallen. Hier und dort drangen allzu lebhafte Blicke durch, ließen die Lichter das Feuer der Diamanten verblassen und brachten schon entfachte Herzen zur Glut. Auch war manche bedeutungsvolle Kopfbewegung, die dem Liebhaber galt, zu erspähen und ablehnende Gesten gegenüber dem Ehegatten. Die Stimmen der Spieler, die bei jedem überraschenden Wurf lauter wurden, das klingende Aufschlagen der Goldstücke mischten sich mit der Musik und dem Gemurmel der Unterhaltungen. Um diese von allem, was die Welt an Verführungen bieten kann, trunkene Menge noch mehr zu betäuben, wirkten eine Wolke von Düften und der allgemeine Taumel auf die betörte Einbildungskraft ein. So hatte ich zur Rechten das düstere, schweigende Bild des Todes, zu meiner Linken die sittsamen Bacchanale des Lebens; hier in ihrer Trauer die kalte, trübsinnige Natur, dort von Freude erfüllte Menschen. Ich selbst, der ich mich auf der Grenze zwischen zwei so ungleichen Bildern befand, die, auf mannigfache Weise wiederholt, Paris zu der amüsantesten und am meisten zum Philosophieren anregenden Stadt machen, fühlte es in mir wie ein Sammelsurium, halb Lust und Betrübnis. Mit dem linken Fuß folgte ich dem Takt der Musik, den rechten glaubte ich schon im Grabe zu haben. Tatsächlich war mein rechtes Bein eiskalt von der Zugluft, die einem die eine Körperhälfte gefrieren lässt, während die andere die feuchte Hitze der Salons verspürt. An Ballabenden kommt das häufig vor.
(zitiert nach Barthes, Roland: S/Z. Frankfurt am Main 1994, Seite 217; dies ist der Beginn der Novelle Sarrasine von Honoré de Balzac)

Die Vermischung der Antithese

Balzac verteilt hier nicht nur geschickt die Merkmale einer Antithese, sondern führt auch deren mögliche Vermischung ein: besonders stark ist natürlich die Grenzposition vom Körper des Erzählers: dieser ist in sich selbst zerrissen: Lust und Betrübnis, Hitze und Kälte, Musik und Grab.
Zu Beginn dieser Passage gibt uns Balzac allerdings einen ganz anderen Körper, der ebenfalls eine Vermischung darstellt: das ist der Moirévorhang. Ein Moiré ist ein Stoff, der aus zwei verschiedenen Farben gewebt ist. Je nach Lichteinfall tritt die eine oder die andere Farbe hervor. Nun ist ein Text selbst ein Moiré: je nachdem, wie er interpretiert wird, erhält der Text eine andere Färbung. Der Erzähler und der Leser sind in dieses Moiré verstrickt; die Erzählung besteht nicht darin, die Antithese aufzulösen. Die Ausnahme ist natürlich das Ende der Erzählung: Gerade in Spannungsromanen wird der Feind überwunden, der Mörder gestellt; die Geschichte endet im Idyll (Idylle = Abwesenheit der Antithese).

Doch die Lust an der Erzählung besteht dann nicht darin, dass der Protagonist seine Belohnung und seinen Frieden erhält, sondern im Kampf gegen den Bösewicht; dies kann man als ein "Abschmecken" der Antithese bezeichnen: mal überwiegt die eine Seite der Antithese, mal die andere.
Das Zitat von Balzac führt noch drei weitere Vermischungen ein: die Träumerei, in die der Erzähler versunken ist, und die diese Betrachtung erst "ermöglicht"; dann das Amüsement (die Antithese macht Paris zu der amüsantesten Stadt) und die Philosophie (die potentiell die Antithese aufhebt).

Kontrast und Opposition

Als Kontrast bezeichne ich sinnliche Unterschiede: Grün steht im Kontrast zur Farbe Rot; das laute Geräusch steht im Kontrast zum leisen Zischen.
Eine Opposition dagegen beinhaltet eine Wertung: ehrlich und unehrlich, arm und reich, gut und böse. Solche Oppositionen lassen sich nicht direkt wahrnehmen, sondern nur aus der Wahrnehmung erschließen. Wird die eine Seite einer Opposition bevorzugt, handelt es sich um eine hierarchische Opposition (oder einfach: Hierarchie); wird die eine Seite der Opposition als gefährlich oder schädigend wahrgenommen und implizit oder explizit als auszumerzend bezeichnet, geraten wir in den Bereich der paranoiden Opposition (dem Freund-Feind-Denken). Allerdings bezieht sich die paranoide Opposition immer auf deutlich soziale Phänomene: Rauchen zum Beispiel ist äußerst schädlich; wer gegen das Rauchen ist, ist noch lange nicht paranoid.

Antithese: Oppositionierung

Die Antithese verknüpft nun Wertungen mit Kontrasten. Anders gesagt: Sie führt die Wertung in die sinnliche Welt ein. Der Garten der Villa (in der Novelle von Balzac) wird zum Ort des Todes, der Salon zum Ort des (überschäumenden) Lebens. Besonders deutlich wird dies an der Gegenüberstellung von "Totentanz" und "Tanz der Lebenden".

Die Verteilung der Antithese

Schaut man sich an, wie Rowling die Antithese nutzt, so findet man einen gleichen Gang, nur mehr oder weniger über den Text verstreut: im dritten Band taucht zum Beispiel ein Hund auf und die Frage ist, was dieser Hund in Wirklichkeit ist und was er will. Zunächst verwechselt Harry ihn mit dem Grimm, der in der Zaubererwelt ein Todesomen ist, ein Gespensterhund, der auf Friedhöfen spukt und all denjenigen erscheint, die bald sterben. Dann wird aber irgendwie deutlich, dass dieser Hund etwas anderes ist. Schließlich stellt sich heraus, dass er die Gestalt von Sirius Black ist, die er als Animagus (dies sind Zauberer, die sich in ein bestimmtes Tier verwandeln können) annehmen kann. Durch eine weitere Verwechslung erscheint Sirius Black als böse; in Wirklichkeit ist er gut.

All dies wird über den Text verstreut. Schauen wir uns eine bestimmte Stelle an, die erste, in der der Hund auftaucht und wie Rowling hier eine Bedrohung andeutet und in die "sinnliche" Welt eingeführt:
Ein komisches Prickeln im Nacken gab ihm das Gefühl, er würde beobachtet. Doch die Straße schien immer noch menschenleer und kein Fenster der großen, quadratischen Häuser war erleuchtet.
Er beugte sich wieder über seinen Koffer, doch fast sofort stand er erneut auf, die Hand um den Zauberstab geklammert. Er ahnte es eher, als dass er es hörte: Jemand oder etwas stand hinter ihm, im schmalen Durchgang zwischen dem Zaun und einer Garage. Harry spähte in die Dunkelheit hinein. Wenn es sich nur bewegen würde, dann würde er sehen, ob es nur eine streunende Katze war - oder etwas anderes.
»Lumos«, murmelte Harry und an der Spitze seines Zauberstabes erschien ein Licht, das ihn fast blendete. Er hielt den Zauberstab hoch über den Kopf, und die rau verputzten Mauern von Nummer zwei glitzerten plötzlich; die Garagentür schimmerte und dazwischen sah Harry ganz deutlich die mächtigen Umrisse von etwas sehr Großem mit weit aufgerissenen, glühenden Augen.
Harry wich zurück - er stieß mit dem Bein gegen seinen Koffer und stolperte.
(Harry Potter und der Gefangene von Askaban, Seite 37-38)
Zunächst schwingt in der Phrase "komisches Prickeln im Nacken" etwas wie eine Bedrohung mit, allerdings äußerst flüchtig. Auch das "beobachtet werden" konnotiert eine schlechte Absicht: wer jemanden heimlich beobachtet, möchte meist einen Vorteil zu erringen; vom Standpunkt der Erzählung aus gesehen gehört er damit auf die andere Seite der Antithese, der Seite, die den Protagonisten bedroht. Harrys Gefühl wird ein zweites Mal beschrieben.

Dann kommt eine erste Beschreibung dieser "Bedrohung": "die mächtigen Umrisse von etwas sehr Großem mit weit aufgerissenen, glühenden Augen". Das Gestaltlose oder wenig Gestaltete ist die klassische Gestalt des Gespenstes (dies jedenfalls schreibt Brittnacher in seiner Ästhetik des Horrors). Doch wir kennen das auch aus dem Alltag: plötzlich befindet sich irgendetwas in unserer Umgebung, was dort nicht hingehört und von dem wir nicht wissen, welchen Sinn es macht: wir sind fasziniert und abgestoßen zugleich.
So ist ein typischer Kontrast, der in Filmen gerne benutzt wird, der Bettler, der plötzlich in einer Situation mit wohlhabenden Menschen auftaucht, siehe zum Beispiel "City Lights" von Charlie Chaplin oder auch "Stirb an einem anderen Tag" aus der Bond-Reihe. Diese Menschen (also die Bettler) sind keine "wirklichen" Menschen, sondern Gespenster, die auf unheimliche Weise durch den Reichtum gleiten und diesen heimsuchen.

Als drittes fungieren die "weit aufgerissenen, glühenden Augen" als Anspielung auf die Gier. Man denke hier an den Wolf aus dem Märchen "Rotkäppchen". Auch die Gier verweist auf eine Gefahr: sofern sie sich auf den Protagonisten richtet, bedroht sie ihn, möchte ihn im wörtlichen oder übertragenen Sinne auffressen.

So verbildlicht Rowling die Antithese. Und durch diese Verbildlichung werden zunächst keine scharfen Oppositionen eingeführt, sondern der Konflikt eher "angespielt" und angedeutet (vergleiche: Metaphorik. Strategien der Verbildlichung).

Die Bedrohung

In einer Erzählung wird eine Bedrohung etabliert, wenn es (a) eine Antithese gibt, (b) diese Antithese hierarchisch gegliedert ist (meist ist der Protagonist moralisch legitimiert) und (c) die andere Seite der Antithese (der Feind, der Gegner) die Möglichkeit hat, diese Antithese zu seinen Gunsten zu entscheiden oder aufzulösen: der Mörder kommt unbestraft davon, der weiße Ritter verliebt sich doch in Gabi, der dunkle Herrscher vernichtet die verteidigenden Armeen.

Der Erzähler hat die Aufgabe, eine Antithese in seine Geschichte einzuflechten und diese immer wieder mit der erzählten Welt zu parallelisieren. Er hat die Aufgabe, den Protagonisten bedrohende Handlungen zu schildern und welche Handlungen der Protagonist ausführt, um diese Bedrohungen abzuwehren. Schließlich muss der Erzähler den Sieg über den antithetischen Zustand schildern.
Das sind freilich nur ganz grobe Schemata: in Endzeit-Romanen zum Beispiel gibt es keinen wirklichen Sieg, sondern nur ein vorläufiges Entkommen, siehe zum Beispiel Zombie-Romane.

Schluss

Der Spannungsaufbau enthält noch einige weitere Elemente. Ich habe hier nur kurz (und mit recht wenigen Beispielen) die überaus wichtige Antithese herausgegriffen; ich habe allerdings beiseitegelassen, dass ein guter Spannungsroman nicht nur aus einer Antithese besteht, sondern meist mehrere vereint und sich diese Antithesen in zentrale und periphere aufteilen lassen. Ich habe die Technik der falschen Antithese nicht genauer beschrieben: so wird der Hund, der im dritten Band von Harry Potter auftaucht, falsch beschrieben, nämlich als unheimlich und vermutlich feindselig, obwohl er in Wirklichkeit gut ist. Es gibt außerdem eine enge Beziehung zu dem Rätsel (und der Verrätselung von Geschichten) und zu dem, was ich seit zwei Wochen die leere Metonymie nenne.

Was diese Beziehung zwischen der Antithese und dem Rätsel angeht, so sehe ich hier noch nicht wirklich klar, bzw. habe noch keine klare Darstellung gefunden. Das liegt unter anderem auch daran, dass das narrative Rätsel (zum Beispiel: was ist das für ein Hund?) durch eine gewisse Missachtung von Argumentationsschemata erzeugt wird: es gibt aber keine Typologie von Argumentationsbrüchen, zumindest nicht für die narrative Argumentation. An dieser Typologie arbeite ich gerade. Aber es wird noch einige Zeit dauern, bis ich hier zu einem brauchbaren Ergebnis gekommen bin.

Der plurale Text

"Je pluraler der Text ist, um so weniger ist er geschrieben, bevor ich ihn lese." (Barthes, Roland: S/Z, Seite 14)

07.05.2012

Fahre hin, Schurke!

Aus einer Laune und Gelegenheit heraus habe ich letztes Jahr zum Thema Lager gearbeitet. Daraus ist eine sehr nette Arbeit entstanden. Seltsamerweise (aber was heißt das schon) war ein wichtiger Bezugspunkt dieser Arbeit der Roman »Das Waldröschen« von Karl May. Gerade habe ich ein ganz anderes Thema: das Glück. Und wiederum ist es dieser äußerst seltsame Roman, der mich im Moment beschäftigt.
Von allen Romanen Mays gilt dieser als einer der schlechtesten, als rassistisch, stumpfsinnig nationalistisch und sexistisch. Gerade finde ich folgende Stelle:
Er legte seine Büchse auf Mariano an und drückte los. Der junge Mann aber war vorsichtig gewesen. Als der Schuss krachte, warf er seinen Leib zur Seite und die Kugel flog an ihm vorüber. Im nächsten Augenblicke riss er den Säbel aus der Scheide.
»Fahre hin, Schurke!«
Zugleich, als er diese Worte rief, hieb er den Räuber mitten über den Kopf, dass jener zusammenbrach. Der Hieb war so furchtbar, dass der Säbel zerbrach; daher zog Mariano das Pistol, sprang vom Pferde und hielt es dem anderen Räuber auf die Brust. Dieser, anstatt sich zu ergeben, erhob die eigene Waffe; da krachte Mariano's Schuss und Henricord stürzte zu Boden. Die Kugel war ihm in die Stirn gedrungen.