30.06.2012

Adorno und die Müdigkeit

Sollte eigentlich nicht so sein: dass man bei der Arbeit mit Adorno von einer fast existenziellen Müdigkeit befallen wird. Trotzdem ist das bei mir heute so. Ich habe mich einer unliebsamen Aufgabe gewidmet, die nur Linguisten einfallen kann: ich habe intensiver zu den logischen Strukturen und zur Begriffsverwendung Kommentare verfasst, vor allem zu den ersten 15 Seiten der Minima Moralia. Wie immer bei solchen Arbeiten liegt mein geliebter Polenz (Deutsche Satzsemantik, Berlin 1988) offen dabei, obwohl dieses Buch für mich nach und nach seinen Wert verliert.
In vielem kann ich Polenz mittlerweile nicht mehr folgen, bzw. geht er mir nicht genügend auf meine Bedürfnisse ein: so habe ich heute auch Übergänge zwischen Satzverknüpfungen bei Adorno untersucht, zum Beispiel zwischen kopulativen und disjunktiven, die in das rhetorisch-logische Arsenal von Adorno grundlegend dazugehören (eine Übersicht über diese semantischen Klassen findet ihr hier: semantische Klassen). Zu diesen Aspekten sagt Polenz überhaupt nichts. Er liefert hier grundlegende Werkzeuge (weshalb ich ihn immer noch gut finde), aber keine weitergehenden Erläuterungen, die in Richtung Argumentation oder Narration gehen.
Am wichtigsten sind (bei Adorno) die explikativen Verknüpfungen. Adorno spezifiziert immer soweit, dass er einen modernen Archetypus herauskristallisiert. Dies wird zum Beispiel besonders deutlich in seinem Fragment "Fisch im Wasser" (Minima Moralia, 23-25), wo er die Händlerqualitäten der Beziehungsverwalter angreift und deren Instrumentalisierung und Selbstinstrumentalisierung er als reaktionär und gewissenlos, aber gewissenlos auf selbstverblendete Art und Weise, brandmarkt. Solche Beziehungsverwalter werden dadurch zu Archetypen einer postkapitalistischen Gesellschaft.
Es ist auch klar, dass die explikativen Verknüpfungen generell in einem philosophischen Text einen wichtigen Raum einnehmen: sie dienen der Definition auf der einen Seite und der Erläuterung des Begriffsgebrauchs auf der anderen Seite, sind also zentrale Elemente des wissenschaftlichen und philologischen Arbeitens. Auffällig bei Adorno ist jedoch, dass diese explikativen Verknüpfungen häufig wertend sind und häufig auch mit einer Geisteshaltung oder einer Emotion konnotiert oder denotiert sind (besonders häufig sind Wörter aus dem Bereich von Wut und Angst).
Diese explikativen Verknüpfungen führen bei Adorno oft zu einer Fallunterscheidung, die entweder komitativ (miteinander geschehend) oder disjunktiv (trennend) ist, wobei sich diese beiden Arten der Verknüpfung rein semantisch nicht gut trennen lassen. So schreibt Adorno in seinem ersten Fragment "Für Marcel Proust" vom materiell Unabhängigen, der einen intellektuellen Beruf ergreift und nicht der Arbeitsteilung des Geistes gehorcht. Damit wird der Status solcher Intellektueller fraglich: sie gehorchen nicht der Departementalisierung des Geistes. Andererseits funktioniert die Verteidigung der intellektuellen Arbeitsteilung nur, wenn man mit dem Finger auf solche Dilettanten zeigen kann. Die Trennung des Berufsgelehrtentums, dem Adorno ein Einverständnis mit der geistlosen Geistigkeit unterstellt, von dem grenzüberschreitenden Müßiggänger, der sich von der Notwendigkeit des Geldverdienens nicht verschandeln lässt, ist nicht so vollständig, dass man hier zwei verschiedene Typen vermuten darf, die ohne Beziehung nebeneinander herleben. Vielmehr gibt es hier so etwas wie logische Schichten: oberflächlich gesehen ist der Berufsintellektuelle mit dem versierten Dilettanten nicht zu vergleichen; eine solche Beziehung stellt sich disjunktiv dar. Beim zweiten Blick allerdings wird diese Beziehung komitativ: die Arbeitsteilung des Geistes und die Missachtung dieser Arbeitsteilung sind zwei Seiten derselben Medaille. Semantisch gesehen verbindet Adorno zwei semantische Verknüpfungen situativ, die durch die Brille einer formalen Logik nicht miteinander verknüpft werden dürften.

Besonders schön (und darum kreist mein derzeitiges Arbeiten auch) sind die Passagen über Schein und Ausdruck in der Ästhetischen Theorie, die mir für Adornos Denken im wesentlichen auch methodische Aussagen zu sein scheinen.

28.06.2012

In Büchern kritzeln

Wie ich es hasse, wenn irgendwelche Leser in irgendwelche Bücher hineinkritzeln, die ihnen nicht gehören. Neulich habe ich mir die Einführung in Herbert Marcuse (Junius-Verlag) ausgeliehen. Und hier hat jemand kleine, flotte Kringelchen um Wörter gemacht, die bedeutsam zu sein schienen, zum Beispiel um ein "so". Noch besser aber ist das Nietzsche-Buch, das ich zur Zeit ausgeliehen habe. Hier fand jemand den Inhalt so toll, dass derjenige (oder diejenige) so ziemlich alles unterstrichen hat, was der Autor geschrieben hat.
Ich dagegen empfehle den Kommentar: das simple Abschreiben von Zitaten, das Hinzufügen einer Überschrift und die eigenen Gedanken dazu (stichwortartig oder in Form einer Mindmap) sind wesentlich bessere Lesetechniken als dieses flüchtige Unterstreichen.

27.06.2012

Kant und der Penisneid

Sachen gibt es! 
Mein Blog wurde gesucht und gefunden mit dem Stichwort: "Gehst du zum Weibe, vergiss nicht die Peitsche.", ein herrlich schlecht interpretiertes Zitat von Nietzsche. Nun bin ich auf jeden Fall neugierig geworden, wo ich was über dieses Zitat geschrieben habe. Ich habe also gegoogelt, nicht meinen Blog gefunden, dafür aber die Behauptung, Kant oder Freud habe den Frauen Penisneid unterstellt. 
Nehmen wir an dieser Stelle einfach mal Freud und lassen Kant beiseite.

Ich habe zu diesem Nietzsche-Satz in meinem Artikel Eine stets gleiche Rhetorik? einen kurzen Kommentar verfasst.

26.06.2012

Die seltsamen Blüten populärwissenschaftlicher Darstellungen

Sonntagabend habe ich mit der Kommentierung eines Buches begonnen, das mich sichtlich nervt. Sichtlich natürlich nicht für euch. Aber ich saß am Sonntag schimpfend auf meinem Balkon und gesehen hat das mein Sohn.
Das Buch stammt von Friedhelm Schwarz und heißt ›Muster im Kopf‹. Ich hatte es bereits als recht missglückten Versuch bezeichnet, "die Neurophysiologie philosophisch zu wenden" (Zwischenbericht aus dem privaten Leben).
Was mich hervorragend stört, sind die Argumentationsgänge dieses Autors. Er gleitet viel mehr, als dass er argumentiert. Und ein Problem daran ist mit Sicherheit, dass Begriffe und fachliche Strukturen wenig ausgearbeitet werden. Ich kann es nur noch einmal sagen: wer argumentieren will, muss zunächst die Begriffe scharf erfassen. Ansonsten entstehen eher Suggestionen, die sich auf Worthülsen stützen.
Dies möchte ich an einem Beispiel deutlich machen:
"Zum Glück sind die Menschen von Geburt an mit der Eigenschaft ausgestattet, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden. D.h. allerdings nicht, dass der Mensch von Natur aus gut ist, sondern es heißt, dass bestimmte genetische Veranlagungen zur Differenzierung vorhanden sind, die dann durch die Umwelt entsprechend der Gesellschaft und Kultur ausgeformt werden."
(Schwarz, Friedhelm: Muster im Kopf. Reinbek bei Hamburg 2006, Seite 26)
Der erste Satz ist schon äußerst befremdlich, zielt er doch auf ein moralisches oder wissenschaftliches Vermögen, das gleichsam angeboren sei. Der zweite Satz verknüpft sich nur lose mit dem ersten. Die Fähigkeit, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, zielt für mich schon assoziativ nicht auf eine Moral oder eine moralische Persönlichkeit. Zwar lehnt auch der Autor dies ab, aber alleine dieser Sprung zur moralischen Persönlichkeit ist doch merkwürdig.
Der zweite Halbsatz des zweiten Satzes bringt lediglich eine Plattitüde ins Spiel, etwas, das in unserer Gesellschaft zu einem Glaubensbekenntnis herabgesunken ist: die Gesellschaft präge in irgendeiner Art und Weise das Denken mit, aber genetisch sei es ja auch ein bisschen (also das Denken). Einen zentralen "Witz" (also einen geistreichen Dreh) der Entwicklungspsychologie, nämlich, dass die genetische Veranlagung prozessuale Strukturen unseres Denkens vorgibt, erwähnt der Autor gar nicht. Zum Teil schwankt er deshalb recht hilflos zwischen einer inhaltlichen Veranlagung des Denkens und einer formalen hin und her.
Die inhaltliche Veranlagung des Denkens ist eine typische Vorannahme primitiver Menschen und findet sich häufig im rassistischen Diskurs. Hier wird behauptet, dass bestimmte Denkinhalte genetisch geprägt sind, zum Beispiel die Vorliebe für wissenschaftliches Denken in der arischen Rasse (was Adolf Hitler irgendwo, mit anderen Worten, in seinem Buch ›Mein Kampf‹ schreibt). Noch hübscher allerdings hat das meine "Lieblingsrassistin" mal mir gegenüber ausgedrückt: dass nämlich mein Interesse an der Philosophie vererbt sei.
Schwarz jedenfalls führt solche Begriffe wie "genetische Veranlagung" oder "Kultur" recht unbedarft ein und kann deshalb auch nur in Belanglosigkeiten stecken bleiben. Diese fehlende Begriffsbildung bedingt allerdings zusätzlich, dass das Buch insgesamt kaum eine Struktur hat. So wird zum Beispiel immer wieder auf bestimmte Aspekte des unbewussten Wissens verwiesen, ohne dies einmal gründlich zu diskutieren. Auch die oft beschworene "Macht des Unbewussten" gerinnt zu einem Glaubensbekenntnis, wenn sie nicht weiter ausgeführt wird.

An dem Zitat von Schwarz fällt mir aber besonders die Formulierung "durch die Umwelt entsprechend der Gesellschaft und Kultur" auf, deren Gehalt entsprechend der wenig definierten Begriffe auf eine Tautologie hinausläuft: Gesellschaft und Kultur werden gleichgesetzt, während die Umwelt aus eben dieser Gesellschaft und Kultur besteht.
Die rhetorische Figur dahinter ist die Tautologie, wie sie deutlicher in dem Satz "Geschäft ist Geschäft." zu finden ist. Roland Barthes schreibt dazu:
Die Tautologie ist jenes sprachliche Verfahren, das darin besteht, Gleiches mit Gleichem zu definieren (»Theater ist Theater«). Man kann darin eine jener magischen Verhaltensweisen erkennen, mit denen sich Sartre in seiner »Skizze zu einer Theorie der Emotionen« beschäftigt hat. Man flüchtet in die Tautologie ebenso wie in Furcht, Wut oder Traurigkeit, wenn einem die Erklärungen ausgehen. Das zufällige Aussetzen der Sprache wird magisch mit dem gleichgesetzt, was man für einen natürlichen Widerstand des Objekts zu halten beschlossen hat. In der Tautologie liegt ein doppelter Mord: Man vernichtet das Rationale, weil es uns widersteht; man vernichtet die Sprache, weil sie uns verrät. Die Tautologie ist eine Ohnmacht zum rechten Zeitpunkt, eine heilsame Aphasie, sie ist ein Tod oder, wenn man will, eine Komödie, die empörte »Vorführung« der Anrechte des Realen auf die Sprache. Als magische kann sie sich wohlgemerkt nur hinter einem autoritativen Argument verschanzen. So antworten die Eltern dem quengelnden Kind auf seine Warum-Fragen schließlich: »Das ist so, weil es eben so ist« oder noch besser: »Warum? Darum! Punkt!« Dieser uneingestanden magische Akt vollzieht zwar die sprachliche Geste der Rationalität, gibt sie aber sogleich auf und glaubt, mit der Kausalität quitt zu sein, weil er das einführende Wort geäußert hat. Die Tautologie bezeugt ein tiefes Misstrauen gegen die Sprache; man verwirft sie, weil sie einem fehlt. Doch jede Verwerfung der Sprache ist ein Tod. Die Tautologie legt den Grund für eine tote, eine unbewegliche Welt.
Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 2011, Seite 308
So scheint eine wichtige Strategie in der populärwissenschaftlichen "Argumentation" die Entleerung der Begriffe zu sein, die nur noch durch das suggestive Argument (Barthes nennt es das autoritative Argument) gestützt werden. Beides bedingt sich natürlich: je weniger man Begriffsbildung treibt, umso mehr muss man suggestiv argumentieren und je suggestiver man argumentiert, umso eher werden die Begriffe ausgehöhlt.

24.06.2012

Zwischenbericht aus dem privaten Leben

Cedric
Cedric ist da. Wie immer besetzt er meinen Computer, wenn er da ist (da mein Computer grafikstark ist, macht ihm das "Daddeln" darauf sehr viel Spaß). Er ist letzten Sonntag von einem zweimonatigen Aufenthalt aus Frankreich zurückgekommen, der ihn nicht so begeistert hat. Allerdings war er auch nicht unzufrieden. Montag waren wir im Block House Steaks essen. Mittwoch auf Donnerstag war er wiederum bei mir. Ich habe Dampfnudeln gemacht. Ich fand sie sehr lecker, Cedric war nicht so begeistert. Heute gab es Gulasch.
Zur Zeit liest er den neunten Band von "A Game of Thrones". Bewundernswert finde ich, wie kritisch (aber auch hartnäckig) er diese Fantasy-Saga begleitet.
Schön finde ich auch seinen noch sehr jungenhaften Charme und seine zurückhaltende Ironie. Er ist noch nicht gebildet genug, um seiner Ironie eine gesellschaftskritische Schärfe zu geben, aber da er dies auch irgendwie spürt, erscheint er nicht als arrogant. Was ihn zu einem sehr sympathischen Gesprächspartner macht.
(Das sind natürlich auch die Vaterfreuden, die man sich so gönnt.)

Lesen
Die letzten Tagen habe ich ein paar liebgewonnene Texte wiedergelesen, allen voran das Buch Entstellte Ähnlichkeit von Sigrid Weigel. Außerdem habe ich mir die Mühe gemacht, die Zitate aus diesem Buch in meinem Zettelkasten mit Seitenzahlen zu versehen.
Gelesen und halbwegs durchkommentiert habe ich auch Friedhelm Schwarz Muster im Kopf. Warum wir denken, was wir denken. Dabei handelt es sich um einen recht missglückten Versuch, die Neurophysiologie philosophisch zu wenden. Manche Behauptungen sind einfach hahnebüchen, so, dass man früher von drei Lebensabschnitten im Leben der Menschen sprechen konnte, während es heute fünf seien. Erikson ist in den 40er Jahren schon differenzierter und begründeter gewesen.
Gelesen habe ich natürlich auch Walter Benjamin und, wie ihr an den letzten Artikeln in meinem Blog sehen könnt, Adorno. Besonders bei Benjamin hat mich der Abschnitt über die Bohème in seiner Baudelaire-Schrift beschäftigt und Ich packe meine Bibliothek aus. Wer den Abschnitt über die Bohème kennt, wird sich nicht wundern, dass ich in den 18. Brumaire von Marx hineingeschaut habe, den ich nach wie vor für einen der wunderbarsten Texte von Marx und einen der ganz großen Texte der deutschen Philosophie halte. Den Unkenrufen unbelesener Neoliberaler zum Trotz.
Schließlich habe ich eine Monografie über Nietzsche gelesen (rororo). Ein nettes, aber insgesamt unbedeutendes Bändchen. Der Anspruch des Buches, dass sich Werk und Leben Nietzsches gegenseitig erhellen könnten, wird nicht erfüllt. Man kann nur sagen: was für ein Glück. Denn das Leben hat noch nie als Schablone für ein Werk getaugt. 

Schreiben
Meinem Lesepensum entsprechend habe ich zu sehr unterschiedlichen Themen geschrieben. Bei Benjamin und Adorno verfolge ich den Begriff der Ähnlichkeit und der Mimesis. In Adornos Texten bin ich, neben den zahlreichen (grammatischen) Rückbezügen und Vorgriffen, auf recht eigenartige Ellipsen gestoßen, die mir vorher garnicht so aufgefallen sind. Adorno scheint mit diesen Ellipsen zu spielen, indem er den (philosophisch vorgeprägten) Leser diese ergänzen lässt, selbst aber nicht davon redet, so dass sich hier über Anspielung und Konnotation eine Art verschwiegener Melodie ergibt, die den "offiziellen" Text begleitet. - Das ist übrigens wie bei Deleuze, den man dann am besten versteht, wenn man die Originale gut kennt, auf die er sich bezieht. Bei Deleuze habe ich viel zu lange gewartet, bis ich Spinoza und Bergson gelesen habe. Während meines Studiums habe ich vor allem Freud und Marx mit ihm in Bezug gesetzt. Auch Kant, der Deleuze sehr geprägt hat, kannte ich während meines Studiums nur wenig.
Vorzugsweise habe ich wieder Kommentare geschrieben. Diese ufern, wie bei mir üblich, in alle Richtungen aus. Nach und nach erobere ich mir das recht freie Spiel mit Texten wieder zurück, eine meiner Stärken während meiner Studienzeit. Das ist zugleich glücklich und, rückblickend auf die letzten fünfzehn Jahre, auch etwas bedauerlich. Ich habe mich zu sehr mit biederen, kleinkarierten Menschen verbunden, denen der Status wichtiger ist als die Revolution des Sinns.

23.06.2012

Absolute Imitation

Das Moment am Kunstwerk, durch das es über die Wirklichkeit hinausgeht, ist in der Tat vom Stil nicht abzulösen; doch es besteht nicht in der geleisteten Harmonie, der fragwürdigen Einheit von Form und Inhalt, Innen und Außen, Individuum und Gesellschaft, sondern in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identität. Anstatt diesem Scheitern sich auszusetzen, in dem der Stil des großen Kunstwerks seit je sich negierte, hat das schwache immer an die Ähnlichkeit mit anderen sich gehalten, an das Surrogat der Identität. Kulturindustrie endlich setzt die Imitation absolut. Nur noch Stil, gibt sie dessen Geheimnis preis, den Gehorsam gegen die gesellschaftliche Hierarchie. Die ästhetische Barbarei heute vollendet, was den geistigen Gebilden droht, seitdem man sie als Kultur zusammengebracht und neutralisiert hat.
Adorno, Theodor/Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Seite 139

22.06.2012

Mythischer Trotz

Ab und zu klage ich ja, dass ich Adorno immer noch nicht verstehe (man hat mir bereits widersprochen). Aber zumindest vervielfältige ich meine Trampelpfade durch dieses höchst anregende Werk. In seinem Essay zu Kafka (in: Kulturkritik und Gesellschaft I) finde ich folgende Stelle:
"Anstelle der Menschenwürde, des obersten bürgerlichen Begriffs, tritt bei ihm das heilsame Eingedenken der Tierähnlichkeit, von der eine ganze Schicht seiner Erzählungen zehrt. Die Versenkung in den Innenraum der Individuation, die in solcher Selbstbesinnung sich vollendet, stößt aufs Prinzip der Individuation, jenes sich selbst Setzen, das die Philosophie sanktionierte, den mythischen Trotz." (286)
Es ist natürlich richtig, dass die Menschenwürde ein Artefakt des idealistischen Vernunftbegriffs ist, dessen Unterbau Kant wenig gewürdigt hat, so die leiblichen Bedürfnisse (die er gesondert als eine Diät geschildert hat) oder die kulturell geprägten Bedürfnisse (hier müsste man noch einmal genauer die Maslowsche Bedürfnispyramide diskutieren, bzw. auch Werke, die mit "großen Bedürfnissen" argumentieren, zum Beispiel Osho, Hitler oder Hubbards Dianetics und aus dem ästhetischen Trotz einen nationalistischen oder salutogenetischen machen).
Das Sichsetzen führt in bestimmten Fällen vom Idealismus weg hin zu einer ästhetischen Auseinandersetzung, zu einer Produktivität. Das meint Adorno wohl mit "mythischem Trotz": der Mythos kommt hier aus der Zukunft zu dem Individuum zurück als ein "es wird sinnvoll gewesen sein", ein futur antérieure.

Dieser mythische Trotz findet sich auch in der Trotzphase des Kleinkindes. Diese ist für das Verständnis der Negation so enorm wichtig und, so kann man jedenfalls spekulieren, für den dialektischen Umgang mit der Negation in späteren Phasen des Denkens (den hoffentlich kritischen Phasen).

Man müsste diesem mythischen Trotz in der Sozialisation des Lehrers nachgehen: am Urgrund dieser Lehrersozialisation scheint mir ein erzwungenes, ästhetisches Phänomen zu liegen, das halb einer Fremdstilisierung und halb einer Selbststilisierung geschuldet sein könnte. Dies könnte an der Unsicherheit liegen, was genau der Bildungsauftrag ist, den Lehrer zu erfüllen haben. Wobei man hier nicht auf das Curriculum rechnen darf, das ziemlich genau vorschreibt, was der Lehrer zu tun hat, sondern auf den unsicheren Bildungsbegriff. Die Schule ist, und anders darf man das nicht betrachten, nicht nur eine Übungsanstalt für Kulturtechniken, sondern auch persönlichkeitsprägend und damit zu den Manifestationen gesellschaftlich geforderter Hysterie zu zählen.

Ästhetik und Masken

Marcuse ist auch deshalb für mich interessant, weil er einen Schwerpunkt auf die Ästhetik legt. Gerade finde ich bei Adorno (in seinem Aufsatz über Huxley) folgende Stelle:
Die Verhaltensweise aber, mit der der Intellektuelle, ohnmächtig in der Maschinerie des allseitig entwickelten und allein anerkannten Warenverhältnisses, auf den Schock reagiert, ist die Panik.
Huxleys ›Brave New World‹ ist deren Niederschlag, oder vielmehr ihre Rationalisierung. Der Roman, eine Zukunftsphantasie mit rudimentärer Handlung, versucht, die Schocks aus dem Prinzip der Entzauberung der Welt zu begreifen, es ins Aberwitzige zu steigern und die Idee von Menschenwürde der durchschauten Unmenschlichkeit abzutrotzen. Ausgangsmotiv scheint die Wahrnehmung der universalen Ähnlichkeit alles Massenproduzierten, von Dingen wie von Menschen. Die Schopenhauersche Metapher von der Fabrikware der Natur wird beim Wort genommen. Wimmelnde Zwillingsherden werden in der Retorte bereitet, ein Alptraum endlosen Doppelgängertums, wie er vom genormten Lächeln der von der charm school gelieferten Anmut bis zum standardisierten, in den Bahnen der communication industry verlaufenden Bewusstsein Ungezählter mit der jüngsten Phase des Kapitalismus in den wachen Alltag einbricht. Das Jetzt und Hier spontaner Erfahrung, längst angefressen, wird entmächtigt: die Menschen sind nicht mehr bloß Abnehmer der von den Konzernen gelieferten Serienprodukte, sondern scheinen selber von deren Allherrschaft hervorgebracht und der Individuation verlustig. Der panische Blick, dem unassimilierbare Beobachtungen zu Allegorien der Katastrophe versteinern, durchschlägt die Illusion des harmlos Alltäglichen. Ihm wird das Verkaufslächeln der Modelle zu dem, was es ist, dem verzerrten Grinsen des Opfers. (98-99)
Seltsamerweise (aber so seltsam ist das gar nicht) habe ich heute Morgen einen Auftrag zu einer Diplomarbeit im Fach Kunstgeschichte angenommen. Die Diplomandin schreibt über Maskierungen. Sie hat lose Gilles Deleuze als Bezugspunkt angedacht, womit ich sehr einverstanden wäre.
Man könnte sich folgendes vorstellen: eine Art Spiel mit Gegenentwürfen der Maske, eine Ästhetisierung des Gesichts außerhalb der Bedürfnisse der Kulturindustrie. Aber das wäre wohl eher eine praktische Arbeit. (Ich erinnere mich hier aber sehr gerne an die dunklen Bilder, die Nico von seinem Sohn, mir und einigen anderen Menschen gemacht hat. Diese Bilder sind fast schwarz und lassen das Porträt nur noch erahnen. Trotzdem sind sie unglaublich faszinierend.)

Das Ganze stößt mich wieder auf ein anderes Bedürfnis, das bei mir in den letzten zwei Jahren aufgetaucht ist: wieder mehr zu Kunst und zur Musik zu arbeiten. (Immerhin habe ich es neulich geschafft, ein paar Notizen zur Rhetorik der Walküre zu schreiben.)

Adorno und Dewey: der Pragmatismus

Umwege

Immer noch beschäftige ich mich mit der Konnotation und hier insbesondere mit den Codierungen. Die Konnotation sei, so Roland Barthes, "ein gewolltes, sorgfältig ausgearbeitetes Geräusch, das in den fiktiven Dialog von Autor und Leser eindringt" (S/Z, 13).
Diese Formulierung hat mich eigentlich seit Jahren beschäftigt (bzw. die ganze Passage drumherum), seit 1996, um genau zu sein, das Jahr, in dem ich mir dieses Buch zugelegt habe.
Man kann die Konnotationen mit den Codierungen gleichsetzen, wie Umberto Eco sie benutzt (Einführung in die Semiotik), obwohl mir das ein wenig Bauchschmerzen verursacht, denn der Begriff der Konnotation wird auch bei Eco ausführlich diskutiert, aber nie eindeutig mit der Codierung verglichen.
Eine Codierung ist eine kulturelle Einheit von unterschiedlichen Elementen. Am typischsten sind "Oppositionen", die sich gegenseitig ergänzen, wie zum Beispiel Mann und Frau, Krieg und Frieden oder Mann und Maus. Typisch sind aber auch "Mengen", zum Beispiel die vier Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft), die vier Jahreszeiten, die zwölf Sternzeichen, und so weiter.
Neben solchen kulturell geprägten Codierungen gibt es aber auch sehr subjektive und flüchtige, ein Problem, das mir bei der Untersuchung des Spannungsaufbaus in Romanen immer wieder Ärger bereitet hat. Offensichtlich gibt es eine ganze Spannbreite an Möglichkeiten, den Leser zu befriedigen oder abzustoßen. Und am hilfreichsten erscheinen mir zu Zeit meine Anmerkungen zu den semantischen Gedächtnisses. Dieses bietet eine zumindest abstrakte Einteilung der Codierungen in subjektiver Form (Proposition, Skript, Image, Vernetzung).

Walter Benjamin

Von hier aus bin ich zu einer Untersuchung der Textstrategien in Benjamins Denkbildern übergegangen. Diese Denkbilder halten eine "gegenstrebige Fügung" fest oder, wie immer gerne zitiert wird, eine "Dialektik im Stillstand". Tatsächlich lassen sich diese Texte mithilfe der Formen des semantischen Gedächtnisses gut aufschlüsseln. Das semantische Gedächtnis ist selbst eine  Codierung von Codierungen (die vier Typen sind wiederum Codierungen, bzw. Mengen von Codierungen).
Nun gibt es hier immer noch das riesige Problem, wie sich eher kulturelle Codierungen von eher subjektiven, bzw. individuellen unterscheiden lassen. Bei Benjamin wird dies besonders deutlich, weil seine Denkbilder zwischen einem fast gänzlich privaten Erleben und einer weit reichenden und kritischen Bedeutung hin und her changieren.
Diese Möglichkeit hängt eng mit den Ähnlichkeitsbegriffen bei Benjamin zusammen und mit solchen Begriffen wie Entstellung oder Bild (vergleiche dazu das wundervolle Buch von Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit).

Dialektik

Diese gegenstrebige Fügung in Benjamins (späteren) Texten hat mich zu Adorno und Marcuse gebracht. Es gibt zumindest von Marcuse zwei kurze Aufsätze, die sich mit der Dialektik beschäftigen und im achten Band der Gesamtausgabe zu finden sind (194-199, 200-226). (Abgesehen davon, dass neben den beiden großen Hegel-Büchern die Logik in Marcuses Philosophie als eine "dialektische" gesehen werden darf. Dialektisch steht hier deshalb in Anführungsstrichen, weil dieses Wort durchaus uneindeutig ist. Bei den Vorsokratikern bedeutet dies eigentlich nur, dass eine Meinung begründet wird (das ›oi di apoleixeos legontes‹, das ›auf Grund von Beweisen reden‹ des Aristoteles). Später wird die Dialektik eine Kunst der Argumentation, eine Kunst, die Argumente in einen überzeugenden Zusammenhang zu bringen. Mit Hegel, spätestens aber mit Marx wird sie zum Politikum. Sie beruft sich auf bestimmte Methoden und Betrachtungsweisen, so zum Beispiel die historisch-dialektische bei Marx.)

Ähnlichkeit

Eine wichtige Auseinandersetzung in der Frankfurter Schule betrifft Schein und Wesen von gesellschaftlichen Prozessen und hier zum Beispiel das Problem der Ähnlichkeit. Im weitesten Sinne findet sich in diesem Begriff der Ähnlichkeit noch das marxsche Dogma, dass das Sein das Bewusstsein bestimme. Besonders deutlich ist dies bei Benjamin, der zum Beispiel die Bohème oder den Flaneur in Konstellationen vorführt, die diese als eine Art wahren Wesens vorführen, allerdings als ein wahres Wesen des Scheins. So ist der Flaneur ohne die Pariser Passagen nicht denkbar, nicht möglich. Nur in dieser Konstellation erscheint er, gleichsam als ein zweites System von Täuschungen, deren erstes die Ware in ihrer Isolation ist.

Pragmatismus

Die Ähnlichkeit beschäftigt mich also zur Zeit (mal wieder: auch weil ich mir das Buch ›Die Gesetze der Nachahmung‹ von Gabriele Tarde gekauft habe). Gestern Abend und heute bin ich den Spuren bei Adorno gefolgt.
Und hier kommt das eigentliche, was ich schreiben wollte, nämlich, dass ich eine relativ große Nähe zwischen Adorno und Dewey festgestellt habe. Deweys Logik trägt den Untertitel ›Die Theorie der Forschung‹ und hat sehr explizit sich die Aufgabe gestellt, herauszuarbeiten, wie Neues möglich ist. Das allerdings ist auch eine sehr zentrale Frage bei Adorno. Zu der Unterscheidung zwischen dem Pragmatismus und der Dialektik schreibt Adorno in seinem Aufsatz ›Veblens Angriff auf die Kultur‹ (Kulturkritik und Gesellschaft I):
"Die bestehende und die andere Gesellschaft haben nicht zweierlei Wahrheit, sondern die Wahrheit in dieser ist untrennbar von der realen Bewegung innerhalb des Bestehenden und jedem einzelnen ihrer Momente. Daher reduziert sich der Gegensatz von Dialektik und Pragmatismus, gleich jedem echt philosophischen, auf die Nuance. Nämlich auf die Auffassung jenes nächsten Schritts." (94)
Und formuliert im folgenden eine kantsche Frage um:
"wie ist Neues überhaupt möglich?" (95)
Adornos Kritik an Dewey, bzw. dem Pragmatismus, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Seltsamerweise ist Deweys Logik (so empfinde ich das zur Zeit) weniger positivistisch als idealistisch. Sie verortet sich zwar wesentlich historisch, kann aber in vielen Aspekten wenig über Kant hinausweisen (man vergleiche zum Beispiel das Kapitel ›Das Urteil als räumlich-zeitliche Bestimmung: Erzählung und Beschreibung‹ mit Kants transzendentaler Ästhetik).
Insofern finde ich auch Adornos Einwand gegen den Pragmatismus (zumindest bei Dewey) nur halbherzig: Dewey beschreibt die denkbaren Möglichkeiten der dialektischen Bewegung (also die Bedingungen), während Adorno die konkrete Realisierung der dialektischen Bewegung einfordert. Immerhin kann man Dewey vorwerfen, dass er, zumindest in der Logik, die gesellschaftlichen Produktivkräfte in ihrer Gesamtheit ausblendet und so gar nicht zu dem Bewusstsein kommt, dass gesellschaftliche Vorgänge an konkrete dialektische Bewegungen angelehnt sind. Nicht formal, sondern inhaltlich schränkt er die dialektischen Möglichkeiten ein.

21.06.2012

Amazon ... grrr!

Neulich hatte ich mir "den Hirschberger" aus der Bibliothek ausgeliehen. Hirschberger? Natürlich den Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie I + II. Das Werk ist für die Philosophie bis ins 20. Jahrhundert äußerst brauchbar. Etwas zu theologisch angehaucht, aber als Einführung in die Philosophiegeschichte kaum zu überbieten.
Nun, ich habe mir vor einigen Tagen das Werk über Amazon bestellt und zu meinem Ärger nur den ersten Band erhalten. Das war allerdings der Fehler von Amazon, nicht der des Verkäufers. Amazon hatte einfach eine falsche Betitelung gewählt. Daraufhin habe ich den zweiten Band nachbestellt und extra noch einmal den Verkäufer angeschrieben, ob dies auch der zweite Band sei. Der allerdings wusste das nicht mehr, weil die Ware schon bei Amazon lagerte.
Was bekomme ich heute? Beide Bände. Jetzt habe ich also den ersten Band doppelt.

18.06.2012

Sklavenhaltung in Deutschland

Manchmal ist es bedrückend, was sogar noch in Deutschland passiert. Vorhin bekam ich den Anruf von einer Frau, die wissen wollte, ob sie in einem bestimmten Fall zur Polizei gehen solle. Hintergrund ist folgender: in der Nachbarwohnung lebt ein Ehepaar, der Mann wohl Alkoholiker, die Frau (so erzählte mir die Anruferin) sehr naiv (man könnte eine Lernbehinderung vermuten). Gestern, so erzählte die Anruferin, hätte es mal wieder einen furchtbaren Streit gegeben, der lautstärkemäßig vor allem vom Mann geführt wird. Später habe sie die Frau im Flur getroffen, mit sichtbaren Blessuren und humpelnd.
Die Nachbarin wusste auch, dass die Frau nur für den Einkauf die Wohnung verlassen darf und kein eigenes Geld zur Verfügung hat (zum Beispiel für die notwendigste Kleidung).

Eigentlich dürfte man hier überhaupt nicht zögern. Solche Fälle sind einfach zu eindeutig, um hier nicht die Polizei zu rufen.
Was mich daran so entsetzt, ist, dass so etwas in Deutschland immer noch möglich ist. Und leider weiß ich aus meiner Erfahrung als Kommunikationstrainer auf einer Mehrwertnummer-Hotline (zum allgemeinen Verständnis: Astro- und Sexhotlines), wie prekär die Lage mancher Ehepartner ist. Es gibt auch Männer, die sehr unter ihren Frauen leiden und es mag sein, dass hier eine wesentlich größere Dunkelziffer besteht, da Männer eher dazu neigen, ihre Hilflosigkeit in sich selbst zu vergraben. Doch meine meisten Problemfälle (98 %) waren Frauen. 
Übrigens musste ich meinen Kartenlegerinnen und Astrologinnen auch erstmal beibringen, dass sie in bestimmten Fällen die Kundinnen einfach dazu anleiten müssen, zur Polizei zu gehen. Alle Beschwichtigungsversuche bei Gewalt in der Ehe sind nur das Einverständnis mit einer Straftat. Und das kann nicht sein.

Was mich weiterhin entsetzt, ist die Unsicherheit der Nachbarin, ob sie sich hier einmischen soll.
Natürlich soll sie! Sie muss ja nicht selbst dazwischengehen, sondern nur die Polizei rufen.

Im übrigen darf man, selbst wenn man hilft, keine Dankbarkeit erwarten. Opfer ehelicher Gewalt driften häufig in eine Gewohnheitsabhängigkeit hinein, die mögliche (bessere) Alternativen ausblendet. Solche Alternativen werden manchmal alleine deshalb nicht gesehen, weil die Erkenntnis, zehn Jahre seines Lebens (manchmal noch länger) mehr oder weniger als Sklavin eines völlig rücksichtslosen Mannes gelebt zu haben, zu schmerzhaft ist, um ertragen werden zu können.
Oftmals richtet sich die Wut der Erkenntnis dann gegen jene, die den Missstand aufgedeckt haben.

Und wie bin ich zu diesem Anruf gekommen? Die Anruferin hatte sich mein Buch über ›Emotionale Manipulation‹ gekauft. Dabei war sie zum ersten Mal auf die Idee gekommen, dass ihre Nachbarn vielleicht eine etwas zu befremdliche Beziehung führen. Sie hat mich kontaktiert, um sich abzusichern.

Ein kleiner Nachtrag für alle unsere besserwissenden Maskulinisten:
Ja, es gibt auch Gewalt gegen Männer durch ihre Ehefrauen. Nein, der Feminismus ist keine Pseudotheorie, die den Frauen alle Rechte der Welt zuschaufelt. Und es gibt von dieser Seite aus auch (meines Wissens) keine Argumentationen, die die Gewalt gegen Männer rechtfertigen.
Es lohnt sich also nicht, dumme oder anfeindende Kommentare zu hinterlassen, wie einseitig mein Artikel wäre und dass die Frauen doch (sozial oder biologisch) an ihrer Lage schuld seien.

16.06.2012

Wahre Strafe

Als der Beamte dieser Aufforderung folgte und sich als Polizist zu erkennen gab, warf der aggressive Jugendliche die Waffe weg. Anschließend wurde er seiner Mutter übergeben.
Gefunden im tagesspiegel online. Hier!
Könnte man das nicht auch mit al-Assad, Peres, etc. tun: einfach zurück zur Mutter?

Gleise

Etwas launisch hatte ich vorhin Melusine Barby vorgeschlagen, eine Metaphorologie des Gleises zu schreiben. Natürlich habe ich sofort meinen Zettelkasten aufgeschlagen und hier ein hübsches Zitat gefunden, das sich zwar wenig für eine solche Metaphorologie eignet, aber sehr schön die Probleme anspricht, die auch Melusine in ihrem Artikel Diesen Text gibt es nicht (jenseits der Transzendenz) darstellt.

Das Zitat stammt von Niklas Luhmann, aus seiner Schrift ›Soziologie der Moral‹ (erschienen im Sammelband ›Die Moral der Gesellschaft‹, zu finden auf Seite 83, Hervorhebungen von mir):
Die Gesellschaft ist nicht die Gattung Mensch, nicht die Menschheit, sondern ein Kommunikationssystem, das die auf physisch-chemisch-organisch-psychischen Grundlagen gegebenen Potentiale der Menschheit selektiv integriert und in der Steuerung dieser Selektivität seine eigene Wirklichkeit und seine eigene Systemautonomie hat.
Diese Selektivität hat man freilich immer gesehen. Man hat sie aber normativ begriffen und damit auf ein Gleis geschoben, das zu ihrer Behandlung und Begründung in Begriffen der Moral führte und dort endete. Die Gewinnmarge einer neuen, systemtheoretischen Begrifflichkeit erreicht man, wenn man erkennt, dass die Binnenselektivität des Menschen, das, was ihn als organisch-psychische Einheit konstituiert, nicht identisch ist mit der, und ganz anders verläuft als die soziale Selektivität des Kommunikationssystems. Die System/Umwelt-Differenz trennt mithin nicht einfach Fakten, sie trennt und rekombiniert Selektivitäten.
Im Anschluss hieran kann man deutlicher sehen, wie der Mensch als beitragende Umwelt in soziale Systeme »interpenetriert«. Der originäre, gesellschaftskonstituierende Beitrag der organisch-psychischen Einheit Mensch besteht nicht etwa darin, daß diese Einheit im großen und ganzen friedfertig, gutwillig und normkonform handelt und so die Ordnung erhält (was als Tatsache natürlich nicht bestritten werden soll). Vor aller schematischen Bewertung dieser Art, die immer schon und immer nur im Gesellschaftssystem konstituiert wird, konstituiert dieses selbst sich auf der Außenbasis von Systemen mit hochkomplexer, feinregulierter Selektivität. Diese Systeme [gemeint sind die psychischen Systeme, bzw. Bewusstseinssysteme] tragen zunächst einfach die Tatsache bei, daß sie ihre Zustände ständig wechseln können und ständig wechseln müssen; sie tragen sozusagen ihre Lebendigkeit bei. Sie können eben deshalb aber kein funktionales Element, geschweige denn ein Teilsystem der Gesellschaft sein. Sie bringen die dafür notwendige Stabilität nicht auf. Ihr Beitrag ist gerade Instabilität, die es ermöglicht, ein anderes System, nämlich ein soziales System über Selektionsprozesse aufzubauen.

15.06.2012

Haare schneiden mit Kant

1790 wird schon bemerkt, dass Kants Schriften sich in Damenboudoirs fänden und dass die Friseure sich ihrer Terminologie bedienen.
(Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie II, 270)
Glückliche Zeiten müssen das damals gewesen sein.

Lesen: eine offene Praxis

Melusine Barby, deren Blog Gleisbauarbeiten ich sehr schätze, hat heute einen Beitrag veröffentlicht, dessen Tendenz meinen Arbeiten sehr entgegenkommt: Diesen Text gibt es nicht (jenseits der Transzendenz).
Lest ihn selbst!

Insgesamt kann man den Blog nur empfehlen. Es ist übrigens kein feministischer Blog, sondern ein intelligenter und deshalb natürlich doch feministisch.

Thesaurus der exakten Wissenschaften

Es ist nicht unbedingt günstig, ein Buch zu empfehlen, das derzeit vergriffen ist. Der ›Thesaurus der exakten Wissenschaften‹ ist 2001 im Verlag Zweitausendeins erschienen und von Michel Serres und Nayla Farouki herausgegeben. Im Original heißt es ›Le Trésor. Dictionnaire des Sciences‹ [Der Schatz. Wörterbuch der Wissenschaften].
Das Buch enthält auf über tausend Seiten eine Darstellung von wichtigen wissenschaftlichen Begriffen, alphabetisch geordnet, mit Verweis auf andere Einträge, Illustrationen und, sofern die Beiträge nicht besonders kurz sind, einer übersichtlichen Aufteilung. Der Schwerpunkt liegt, wie der deutsche Titel schon sagt, auf den exakten Wissenschaften, will sagen auf den Naturwissenschaften und den Strukturwissenschaften (also Mathematik und Logik).

Der Leser findet einen Abschnitt über den Urknall, das Universum, dem Wind und das Klima. Er kann sich über Gen-Kartierung, Artensterben, genetische Drift und Polymorphismus informieren. Ebenso enthält das Buch Einträge über Symmetrie, Plastizität, Kybernetik, Multimedia oder die Funktion. Insgesamt also hat die ganze Bandbreite von der Quantenphysik über die nichtlineare Logik, die Chemie, Physik und Biologie bis hin zur Astronomie, Meteorologie und wissenschaftstheoretischen Hintergründen hier ihren Platz. Sogar der Tod bekommt einen Eintrag und auch Schrödingers Katze fehlt nicht.

Die einzelnen Beiträge wurden von Experten geschrieben. Sie sind aber allgemeinverständlich gehalten. Als ich mir dieses Buch vor vielen Jahren gekauft habe, saß ich später mit einigen Freunden in Hamburg im Schanzenpark. Und irgendjemand wollte wissen, ob die Relativitätstheorie darin erklärt sei. Sie ist es natürlich. Ich begann nun vorzulesen, was der Autor dazu zu sagen hatte und als ich fertig war, konnten sogar diejenigen meiner Freunde, die sonst wenig Affinität zur Technik haben, sagen, dass sie jetzt die Relativitätstheorie wirklich verstanden hatten.
Es lohnt sich also, sich dieses Buch zuzulegen. Schwachstellen habe ich bisher noch nicht gefunden, was aber auch daran liegen kann, dass ich ein interessierter Laie und kein Fachmann bin.
Für den blutigen Anfänger gibt es aber zumindest einen Stolperstein. Die Begriffe der Informationstheorie werden häufig mit Alltagsbegriffen bezeichnet, meist aus dem Gebiet der Sprache, zum Beispiel Grammatik, Syntax oder Ähnliches. Die jeweiligen Begriffe, die sich dahinter verbergen, sind aber durchaus nicht gleichzusetzen. Wer also den Eintrag zur Grammatik liest, findet keine Darstellung einer philosophischen, sondern einer informationstechnischen Grammatik. Dies wird von dem Buch nicht deutlich genug hervorgehoben, obwohl man es natürlich aus dem Titel schon erlesen kann.

14.06.2012

Vorstellungsmassen

Eine Anmerkung von Adorno hat mich die letzten Tage zu einigen Umwegen geführt. In seinem Essay ›Sexualtabus und Recht heute‹ (in: Kulturkritik und Gesellschaft II, Seite 533-554) schreibt er (545):
Aber um diesen Wahrheitskern hat sich eine Vorstellungsmasse angesammelt, die erst einmal überprüft werden müsste, anstatt das heiliger Eifer jede nähere Besinnung unterbindet.
Adorno ist mir in vielem bis heute verschlossen geblieben. Obwohl ich mich eine Zeit lang sehr ausführlich mit der negativen Dialektik beschäftigt habe. Jedoch reizen mich seine Aussagen immer wieder, und ab und zu verfolge ich dann einen bestimmten Begriff durch meine Literatur. Interessanterweise hat dieser Begriff mich nicht von meinem eigentlichen Pfad abgebracht (ich arbeite immer noch über die Konnotation), sondern zu diesem zurückgeführt. Ich hatte vor einigen Tagen begonnen, meine Notizen und Kommentare zur ›Wut‹ in meinem Zettelkasten zu ordnen. Und dort habe ich dieses Zitat wieder gefunden. Diesmal hat es meine Aufmerksamkeit erregt.

Freud: die assoziative Verarbeitung

Eine erste Fundstelle dieses Begriffes stammt aus Freuds Studie über die Hysterie (in: Gesammelte Werke I, hier: Seite 174). Freud beschreibt, wie eine bestimmte Vorstellung nicht zu der "herrschenden Vorstellungsmasse des Ichs" passe. Dies erzeuge eine Unlustempfindung und führe zu einer Verdrängung. Auf derselben Seite beschreibt Freud die Verdrängung so: … dass eine Vorstellung absichtlich aus dem Bewusstsein verdrängt, von der assoziativen Verarbeitung ausgeschlossen werde. (174)
Wichtig an dieser Stelle ist die Formulierung "assoziative Verarbeitung". Die Vorstellung wird gleichsam aus dem Geflecht der Gedanken herausgedrängt. Damit wird sie auch von der gedanklichen Verarbeitung ausgeschlossen.
Wie brisant diese Formulierung ist, kann man vor allem an den verschiedenen Versuchen der Ideologiekritik ersehen, die sich im 20. Jahrhundert herausgebildet haben. So ist der Begriff der Konnotation, wie Roland Barthes ihn benutzt, der Assoziation sehr ähnlich. In seinem Buch Mythen des Alltags beschreibt er, wie eine solche Konnotation durch gesellschaftliche Prozesse in eine Meta-Sprache oder Metakommunikation überführt wird und so an der Mythenbildung teilhat. (Das ist alles etwas kurz gefasst und vermutlich vielen Lesern unverständlich. Ich kann Sie nur bitten, hier auf meinen Aufsatz über die Konnotation zu warten.)
Auch bei Adorno und bei Marcuse finden sich ähnliche Operationen: ein Teil der Assoziation wird herausgegriffen und als die alleinige Deutung vorgestellt. Um einen Begriff aus der Logik zu verwenden: eine Assoziation wird extrapoliert.
So wichtig hier die Verbindungslinie ist, so vorsichtig sollte man allerdings sein, die Gedanken von Freud schon als Werkzeug der Ideologiekritik zu lesen. Freud legt in seinen frühen Ausführungen zur Verdrängung noch nahe, dass der verdrängte Inhalt aus der assoziativen Verarbeitung herausfalle und sich dadurch räche, dass er als pathologischer wiederkehrt. Die Leistungen der späteren Frankfurter Schule laufen parallel zu den Arbeiten der Semiologen und Strukturalisten, zwischen einer rein psychischen Assoziation und gesellschaftlichen Bedingungen (Marx spricht hier ebenfalls häufig von Assoziation) zu verbinden. Freud konnte oder wollte dies nicht tun.

Freud: Traum und Traumgedanke

Auch in der Traumdeutung (Gesammelte Werke II/III) findet sich der Begriff der Vorstellungsmasse, soweit ich sehen kann zweimal.
Hier setzt Sigmund Freud dem manifesten Traum die "Vorstellungsmasse" der Traumgedanken gegenüber (284, 470). Er schreibt:
"Der Traum ist knapp, armselig, lakonisch im Vergleich zu dem Umfang und zur Reichhaltigkeit der Traumgedanken. Der Traum füllt niedergeschrieben eine halbe Seite; die Analyse, in der die Traumgedanken enthalten sind, bedarf das sechs-, acht-, zwölffache an Schriftraum. Die Relation ist für verschiedene Träume wechselnd; sie ändert, soweit ich es kontrollieren konnte, niemals ihren Sinn. In der Regel unterschätzt man das Maß der statthabenden Kompression, indem man die ans Licht gebrachten Traumgedanken für das vollständige Material hält, während weitere Deutungsarbeit neue, hinter dem Traum versteckte Gedanken enthüllen kann. Wir haben bereits anführen müssen, dass man eigentlich niemals sicher ist, einen Traum vollständig gedeutet zu haben; selbst wenn die Auflösung befriedigend und lückenlos erscheint, bleibt es doch immer möglich, dass sich noch ein anderer Sinn durch denselben Traum kundgibt. Die Verdichtungsquote ist also – streng genommen – unbestimmbar. … Die Annahme einer Verdichtung in der Traumarbeit wird überdies von der Möglichkeit des Traumvergessens nicht berührt, denn sie wird durch die Vorstellungsmassen erwiesen, die zu den einzelnen erhalten gebliebenen Stücken des Traumes gehört." (284 f.)
Dieser Effekt erinnert zunächst an ein anderes Phänomen. Wenn man einen Text interpretiert und hier möglichst eine "vollständige" Interpretation anstrebt, wuchert der Umfang der Analyse und kann wesentlich umfassender sein, als der analysierte Text. Ich erinnere an die Analyse, die Jakobson und Lévi-Strauss von Baudelaires Gedicht Die Katzen geben: zu dem zwölfzeiligen Sonnett gesellen sich über 20 Seiten Interpretation.
Offensichtlich meint Freud hier etwas ähnliches: der Analytiker deckt die Traumgedanken eines manifesten Trauminhaltes auf. Dabei beachtete er die Mechanismen der Verschiebung und Verdichtung. Während der Traum selbst sich scheinbar als solcher setzt, zergliedert die Analyse. Die Analyse des Traums arbeitet die Relationen und Strukturen heraus. Dadurch hat sie es mit wesentlich mehr Elementen zu tun, als der Traum für sich selbst beansprucht. Daher die Wucherung.

Zunächst müsste man hier zum Beispiel auf den Begriff des Scheins in der Frankfurter Schule eingehen. Dieser meint etwas ähnliches wie der Traum bei Freud. Nur wird hier die Traumarbeit ins Gesellschaftliche umgekippt. Die Ware zum Beispiel setzt sich als solche wie der manifeste Trauminhalt. Der Gesellschaftskritiker habe die Traumgedanken der Ware herauszuarbeiten.
Diese recht mystische Formulierung lässt sich einfacher fassen, wenn man diese Traumgedanken als Konnotationen liest, also als systematische Assoziationen. Die Kritik besteht dann nicht aus einer neuen Assoziation, sondern aus der Sättigung eines bestimmten Sachverhalts durch Konnotationen (zum Problem der Konnotation siehe Eco: Einführung in die Semiotik, Seite 108-113).

Assoziationszentren

In seinem Buch Erkenntnis und Irrtum schreibt Ernst Mach, dass sich verschiedene Bewusstseinszustände (zum Beispiel verschiedene Stimmungen) als Assoziationszentren erweisen, um die "die Vorstellungsmassen sich scharen, während diese Massen untereinander keinen oder nur einen geringen Grad des Zusammenhanges aufweisen" (48).
Von hier aus gibt es verschiedene Wege, diese Aussage zu interpretieren. Zunächst wäre hier an das Problem von Form und Inhalt zu erinnern. Nehmen wir hier die kantianische Fassung. Kant zeigt in seiner Kritik der reinen Vernunft, dass die Wahrnehmung zwar die Inhalte unseres Denkens liefere, die Form dieser Wahrnehmung allerdings dem Denken selbst entspringe. Dadurch entgeht er sowohl den Problemen des Empirismus als auch dem Dogmatismus.
Ernst Mach erläutert hier etwas ähnliches: die Vorstellungen selbst bilden eine unstrukturierte Masse (ähnlich den Empfindungen bei Kant); die Bewusstseinszustände ziehen diese Vorstellungsmassen in strukturierte Formen hinein. Folgt man dem, und das erscheint mir ganz sinnvoll, dann habe ich als wütender Mensch andere Vorstellungsstrukturen als als trauriger oder fröhlicher. Die Gefühle bilden gleichsam Assoziationszentren. (Dieser Gedanke treibt mich schon lange um. Es gibt ja einen Bruch zwischen den Gefühlen und der Benennung von Gefühlen. Eventuell sind Gefühle nichts anderes, als der Verweis darauf, in welchem Assoziationszentrum man sich gerade bewegt. Wie es in unserem Kopf keine Bilder von der Welt gibt, sondern nur neuronale Impulse, ich aber trotzdem ständig Bilder von der Welt "sehe", so habe ich auch keine Gefühle in meinem Kopf, kann aber trotzdem auf diese verweisen, aus welchen Gründen auch immer. Man muss hier nur aufpassen, dass man die Gefühle nicht nominalistisch betrachtet.)

Vergleicht man die Aussagen von Freud und die Aussagen von Mach, dann kann man den Traum als ein solches Assoziationszentrum sehen. Der strukturierende Mechanismus für einen solchen Traum wäre dann zum Beispiel die Wunscherfüllung. (Aber das ist nur eine Möglichkeit. Hier müsste man zum Beispiel Freud genauer lesen.)

Herbart: relationale Apperzeption

Aebli schreibt, die Apperzeption bei Herbart sei "der Vorgang der Integration neuer, durch die Wahrnehmung angeregter Vorstellungen in die vorhandenen" (Aebli: Denken. Das Ordnen des Tuns I. Seite 186).
Aebli zitiert Herbart selbst (186):
Nämlich bei der äußeren Wahrnehmung ist offenbar diese selbst das Apperzipierte; und die aus dem Inneren hervorkommende, mit ihr verschmelzende Vorstellungsmasse ist das Apperzipierende. Die letztere ist die bei weitem mächtigere; sie ist gebildet aus allen früheren Auffassungen; damit kommt die neue Wahrnehmung auch bei der größten Stärke der momentanen Auffassung nicht in Vergleich ...; und deshalb muss sie sich gefallen lassen, hineingezogen zu werden in die schon vorhandenen Verbindungen und Bewegungen der älteren Vorstellungen.
Im Prinzip haben wir hier eine Beschreibung des Kompetenzaufbaus, der bei Anderson (Kognitive Psychologie) als eine Interpretation des deklarativen Wissens durch das prozedurale Wissen beschrieben wird. Das, was ich bereits weiß oder kann, nutze ich zur Integration von neuen Sachverhalten.
Aebli zitiert außerdem Herbart in einem wichtigen Punkte: das Verhältnis zwischen den äußeren Wahrnehmungen und den Vorstellungsmassen sei relational. Hätte ich in meinem bisherigen Leben eine andere Vorstellungsmasse erworben, würde ich meine jetzige Wahrnehmung anders integrieren. Ändere ich meine Vorstellungsmassen (zum Beispiel durch bewusste Bildung), ändere ich meine Wahrnehmungsintegration.
Folgen wir diesen Gedanken, so können wir sagen, dass jede individuelle Vorstellungsmasse beschränkt ist und dass der Betreffende diese Beschränkungen nur erfährt, indem er sich bildet. Hier entsteht etwas, was man ungefähr bei Umberto Eco als unendliche Semiose findet: wie die Interpretation eines Kunstwerks ein offener Prozess bleibt, so ist die Bildung ein offener Prozess. Als solche sind weder die Interpretation noch die Bildung teleologisch (zielgerichtet). Die Ziele entstehen erst durch eine willkürliche Einteilung dieses Prozesses. So interpretiert man dann zum Beispiel den Westöstlichen Diwan, aber natürlich interpretiert man ihn nicht vollständig, sondern nur in Bezug auf die Hausarbeit, die man zu schreiben hat. Und ähnlich integriert man neues Wissen nicht vollständig, sondern nur in Bezug auf die Vorstellungsmassen, die man bereits früher erworben hat.

Kehren wir zu Ernst Mach zurück, dann sind die Assoziationszentren Metastrukturen in den Vorstellungsmassen. Solche Assoziationszentren prägen dann unsere Integration von neuem Wissen. Dann würde es einen Unterschied machen (was jeder leicht an eigenen Beobachtungen nachvollziehen kann), ob ich ein Wissen im Zustand der Freude, der Wut, der Trauer oder der Angst neu lerne.

Schließlich sei noch folgende These erlaubt: behandeln wir das Wissen wie Freud die Träume in der Traumarbeit, so müssen wir sämtliche (sofern das möglich ist) Gedanken, sämtliche Assoziationen in einen Zusammenhang bringen, mit anderen Worten: wir müssen unser Wissen vernetzen.
Dieser Begriff der Vernetzung, der ja so wichtig ist, wird häufig auf rein praktische Sachverhalte bezogen, meist in der Abfolge: vormachen, durcharbeiten, anwenden. Dieser Gedanke ist zwar sicherlich ein Kerngedanke, aber nicht die einzige Möglichkeit der Vernetzung. Umgekehrt ist der Begriff der Konnotation in Bezug auf solche Vernetzungen zu lesen. Er allerdings schließt eine Vernetzung durch Praxis schon alleine deshalb aus, weil er ein literaturwissenschaftlicher Begriff ist.
Für die Literaturwissenschaft hat sich hier für mich vor langer Zeit das Problem ergeben, dass die wissenschaftliche Analyse und die praktische Tätigkeit zwei zwar verschränkte, aber nicht deckungsgleiche Felder bilden und das ein guter Literaturwissenschaftler noch lange nicht gut schreiben kann.

Wie strukturiert eine Vorstellung die Interpretation?

Ein Nebeneffekt zu meiner Arbeit über die Konnotationen ist die Frage, wie Vorstellungen, bzw. Bilder, eine Interpretation beeinflussen. Dies hängt zwar eng mit der Konnotation zusammen, kann aber durch diese nicht erklärt werden. Hier greife ich zur Zeit auf die Typen des semantischen Gedächtnisses zurück.
Relativ einfach scheinen mir die Propositionen selbst zu sein. Zur Erinnerung: die Proposition ist (in der Psychologie) das mentale Abbild eines einfachen Satzes. Diese die Interpretation strukturierende Vorstellung in Form einer Proposition findet man zum Beispiel in dem Begriff der "geheimen Glaubensüberzeugung", der in bestimmten Therapien, aber auch Coaching-Theorien eine wichtige Rolle spielt. Parallel dazu kann man den Begriff des Enthymems untersuchen, der ja nichts anderes als ein fraglos vorausgesetzter Mittelsatz in einer Schlussfolgerung ist.

In diesem Zusammenhang sind also meine Überlegungen entstanden, die die Vorstellungsmassen betreffen. Sie ordnen sich wiederum in den größeren Zusammenhang einer narrativen Argumentation ein. Wie ich bereits mehrmals geschrieben habe, ist die narrative Argumentation gerade deshalb so schwierig, weil sie viele Voraussetzungen nicht explizit erläutert, sondern sich beim Leser schlichtweg darauf stützt, was dieser schon weiß.

09.06.2012

Der manipulative Charakter

Der manipulative Charakter — jeder kann das an den Quellen kontrollieren, die über jene Naziführer zur Verfügung stehen — zeichnet sich aus durch Organisationswut, durch Unfähigkeit, überhaupt unmittelbare menschliche Erfahrungen zu machen, durch eine gewisse Art von Emotionslosigkeit, durch überwertigen Realismus."
Adorno, Theodor: Erziehung nach Auschwitz. in ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Seite 683
Zu meiner Arbeit über emotionale Manipulation hätte ich eigentlich auch etwas Kulturkritisches schreiben sollen. Insbesondere die Begriffe der Wut und des Schwindels bei Adorno eignen sich dafür; aber auch Marcuse nutzt den Begriff der Wut in einem ähnlichen Sinne. Allerdings habe ich mich nicht getraut, hier meine bisherigen Arbeiten zusammenzufassen und vorzustellen.
An einer anderen Stelle spricht Adorno von manipulierten Vorstellungsmassen (Adorno, Theodor: Sexualtabus und Recht heute. in ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Seite 545). Für mich stellt sich die Frage, welche strukturellen Bedingungen der Gesellschaft auf der einen Seite den manipulativen Charakter erschaffen, auf der anderen Seite manipulierbare Vorstellungen nutzen und so eine Homogenität der Entfremdung erschaffen. Allerdings hat mich das auch wieder zu Walter Benjamin geführt, von dem der Begriff des Vorstellungsraumes kommt.
Insgesamt werde ich noch einiges an Arbeit hineinstecken müssen: die Frankfurter Schule ist mir zu wenig vertraut. Das Gesamtwerk von Marcuse habe ich mir gerade erst gekauft, Kracauer steht auf meiner Liste (sein Buch Ornament der Massen kenne ich zum Beispiel noch gar nicht), ebenso Horkheimer.

05.06.2012

Emotionale Manipulation

Eigentlich bin ich noch dabei, mein Büchlein über "Emotionale Intelligenz" zu schreiben. Zwischendurch habe ich allerdings einen anderen Text verfasst, zur "emotionalen Manipulation". Dieser Text hat mich eigentlich das ganze Wochenende in eine Art Schreibrausch versetzt, immer irgendwie (tolles Wort!) verknüpft mit leicht depressiven Gefühlen. Ich sehe zunehmend mehr Menschen und erlebe es auch häufiger als früher, die sich auf recht unsolidarische Art und Weise in sich einigeln oder - diese Klage von mir ist ja nicht neu! - sich narzisstisch aufblähen, ohne hier ein Fundament bieten zu können. Die Werbebotschaft übernimmt die Realität.
Letzte Woche habe ich mir auch das Gesamtwerk von Herbert Marcuse gekauft. Es ist ein bedrückend schönes Werk. Am Wochenende habe ich "Der eindimensionale Mensch" (Bd. 7) und einige Aufsätze von ihm gelesen, unter anderem den zu Aggressivität aus Bd. 9, den ich, obwohl er 50 Jahre alt ist, entsetzlich aktuell finde.

Den Text zu emotionalen Manipulation habe ich mittlerweile für Kindle formatiert und hochgeladen.
Sehr geärgert hat mich, dass Kindle im Hintergrund wohl die Modalitäten geändert hat. Mein Format ist nicht so übernommen worden, wie ich das haben wollte. Die letzten vier Stunden habe ich alles mögliche ausprobiert, um eine schönere Optik hinzubekommen. Aber selbst andere, besser formatierte Bücher werden zur Zeit beim Hochladen verunstaltet.
Schade!
Ich hatte gedacht, mit KF8 wird die ganze Sache auch für Laien einfacher und flexibler zu handhaben. Dem ist wohl nicht so.

02.06.2012

Moonrise Kingdom

Zu Moonrise Kingdom, dem neuen Film von Wes Anderson, hätte ich etwas schreiben sollen (sobald ich ihn gesehen habe). Melusine Barby hat allerdings auf ihrem Blog Gleisbauarbeiten so bezaubernd über diesen Film geschrieben, dass mir nicht anderes übrig bleibt, als dorthin zu verweisen.