22.06.2012

Mythischer Trotz

Ab und zu klage ich ja, dass ich Adorno immer noch nicht verstehe (man hat mir bereits widersprochen). Aber zumindest vervielfältige ich meine Trampelpfade durch dieses höchst anregende Werk. In seinem Essay zu Kafka (in: Kulturkritik und Gesellschaft I) finde ich folgende Stelle:
"Anstelle der Menschenwürde, des obersten bürgerlichen Begriffs, tritt bei ihm das heilsame Eingedenken der Tierähnlichkeit, von der eine ganze Schicht seiner Erzählungen zehrt. Die Versenkung in den Innenraum der Individuation, die in solcher Selbstbesinnung sich vollendet, stößt aufs Prinzip der Individuation, jenes sich selbst Setzen, das die Philosophie sanktionierte, den mythischen Trotz." (286)
Es ist natürlich richtig, dass die Menschenwürde ein Artefakt des idealistischen Vernunftbegriffs ist, dessen Unterbau Kant wenig gewürdigt hat, so die leiblichen Bedürfnisse (die er gesondert als eine Diät geschildert hat) oder die kulturell geprägten Bedürfnisse (hier müsste man noch einmal genauer die Maslowsche Bedürfnispyramide diskutieren, bzw. auch Werke, die mit "großen Bedürfnissen" argumentieren, zum Beispiel Osho, Hitler oder Hubbards Dianetics und aus dem ästhetischen Trotz einen nationalistischen oder salutogenetischen machen).
Das Sichsetzen führt in bestimmten Fällen vom Idealismus weg hin zu einer ästhetischen Auseinandersetzung, zu einer Produktivität. Das meint Adorno wohl mit "mythischem Trotz": der Mythos kommt hier aus der Zukunft zu dem Individuum zurück als ein "es wird sinnvoll gewesen sein", ein futur antérieure.

Dieser mythische Trotz findet sich auch in der Trotzphase des Kleinkindes. Diese ist für das Verständnis der Negation so enorm wichtig und, so kann man jedenfalls spekulieren, für den dialektischen Umgang mit der Negation in späteren Phasen des Denkens (den hoffentlich kritischen Phasen).

Man müsste diesem mythischen Trotz in der Sozialisation des Lehrers nachgehen: am Urgrund dieser Lehrersozialisation scheint mir ein erzwungenes, ästhetisches Phänomen zu liegen, das halb einer Fremdstilisierung und halb einer Selbststilisierung geschuldet sein könnte. Dies könnte an der Unsicherheit liegen, was genau der Bildungsauftrag ist, den Lehrer zu erfüllen haben. Wobei man hier nicht auf das Curriculum rechnen darf, das ziemlich genau vorschreibt, was der Lehrer zu tun hat, sondern auf den unsicheren Bildungsbegriff. Die Schule ist, und anders darf man das nicht betrachten, nicht nur eine Übungsanstalt für Kulturtechniken, sondern auch persönlichkeitsprägend und damit zu den Manifestationen gesellschaftlich geforderter Hysterie zu zählen.

4 Kommentare :

jaellekatz hat gesagt…

Hallo Frederik,

in der Schule gibt es einen heimlichen Lehrplan und vor über dreißig Jahren wurde darüber auch noch relativ offen gesprochen, genauso wie über das Begehren zwischen Lehrer und Schüler (Wenn ich heute diese Dinge lese, denke ich manchmal, die Autoren würden mehr als verprügelt, wenn sie diese Ansichten offen mitteilten). Seitdem sich alles nur noch um die messbare Verbesserung dreht, im Sinne einer ökonomischen Verwertbarkeit, ist die Menschlichkeit aus dem Blick geraten. Wie so oft.

Hans Hütt hat gesagt…

"Das Sichsetzen führt in bestimmten Fällen vom Idealismus weg hin zu einer ästhetischen Auseinandersetzung, zu einer Produktivität. Das meint Adorno wohl mit "mythischem Trotz": der Mythos kommt hier aus der Zukunft zu dem Individuum zurück als ein "es wird sinnvoll gewesen sein", ein futur antérieure."

Ich lese bei Ihnen ja immer mal wieder mit. Manchmal wundere ich mich. Manchmal nicht.

Ihre Interpretation scheint mir nicht schlüssig. Und vielleicht hilft ein Lektüretipp weiter, weil sowohl in der Figur des "Mythos des Trotzes" als auch in dem Sichsetzen eine Interaktion zustandekommt, die nach meinem Eindruck der Zürcher Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler am besten beschrieben hat in seinem Buch Technik. Zur Dialektik der psychoanalytischen Praxis.

Der Übertragungswiderstand betrifft beide Akteure im analytischen Prozess. Den Lehrer (und seine "Sozialisation") aus der lehrenden Interaktion herauszulösen verstellt den Blick auf blinde Flecken seiner Praxis.

Beste Grüße, HH

Frederik Weitz hat gesagt…

Liebe Jaelle!

Dieser Begriff des "heimlichen" Lehrplans ist allerdings auch ein sehr suggestiver, der manchmal sogar paranoid gebraucht wurde (und wird). Er suggeriert, dass es eine Art Macht gäbe, die diesen Lehrplan erstellt. Genau aber dieser Beweis lässt sich kaum liefern.
Zumindest in der Systemtheorie kann man aber hier mit der so genannten strukturellen Latenz argumentieren: etwas sehr grob gesagt schafft diese strukturelle Latenz die Bedingungen für kommunikatives Handeln. Damit würde man dem Problem des heimlichen Lehrplans nie entkommen: man kann nicht den Bedingungen des Kommunizierens entkommen und trotzdem weiter kommunizieren. Die Frage ist dann aber, welche gesellschaftlichen Bedingungen auf die strukturelle Latenz des Unterrichtens Einfluss nehmen und hier kann man durchaus andere Möglichkeiten vorschlagen.
Richtig ist, dass vieles, was heute politisch in der Schule passiert, die ökonomische Verwertbarkeit im Blick hat. In der Wissenschaft werden zurzeit allerdings andere Probleme diskutiert. So spielt die so genannte Modellierungskompetenz in vielen aktuellen Arbeiten der naturwissenschaftlichen Didaktik eine wichtige Rolle. Hier geht es um die Anwendbarkeit von Theorie und die Strukturierung in der Praxis. Auch dies könnte man als eine Verwertbarkeit ansehen; andererseits aber geht es auch auf die Frage zurück, wie Anschauung, begriffliches Denken und tätige Praxis füreinander da sind und damit auf einen Problemkomplex, den ich nicht missen möchte.
Was mich allerdings verwundert, ist nicht der Fokus auf eine Didaktik des Modellierens, sondern, dass bestimmte Aspekte einfach ausgelassen werden. So suche ich in Berlin immer noch Lehrer, die ihren Schülern einen ordentlichen Zugang zu einer halbwegs wissenschaftlichen Interpretation von Texten bieten. Die einzige Lehrerin, die ich hier kenne, war die ehemalige Deutschlehrerin meines Sohnes (bei der jetzigen kann ich das nicht so genau sagen). Gerade für die soziale Relevanz von naturwissenschaftlichem Wissen genügt es aber nicht, einfach nur naturwissenschaftlich zu argumentieren. Und genau hier schleichen sich "Entproblematisierungen" ein, die dann langfristig und sozial strukturell zu Problemen führen können. Schon jetzt finde ich es immer wieder schlimm und eigentlich auch sehr beschämend, dass die Schüler teilweise nur noch nach Faktenwissen fragen und den Prozess der Erarbeitung, der Interpretation und des Spiels mehr oder weniger ausblenden. Das ist teilweise auch die Schuld von Elternhäusern, in denen nicht abwägend diskutiert wird. Aber es ist natürlich auch ein Problem der Schule, wenn zum Beispiel eine kritische Bestimmung von Medien, Inhalten und Quellen nicht gepflegt wird.

Frederik Weitz hat gesagt…

Sehr geehrter Herr Hütt!

Ich muss gestehen, dass ich Ihren Einwand nicht nachvollziehen kann. Das liegt zum einen an meiner recht kurzen und eher suggestiven Argumentation, die ja auch kaum mehr als ein Denkanstoß ist.
Deshalb kann ich auch nicht wirklich etwas mit Ihrem Begriff der "schlüssigen Interpretation" anfangen. Es ist zwar sehr freundlich von Ihnen, meinen Text als nur nicht schlüssig scheinend zu bezeichnen. Tatsächlich sind aber die logischen Sprünge in diesem Text sehr deutlich.
Eine solche Ästhetik des Widerstandes interessiert mich sehr. Ich fürchte allerdings, ich könnte sie selbst mit wesentlich längeren und besser argumentierenden Texten kaum umreißen.

Was die Psychoanalyse angeht und den so genannten Übertragungswiderstand, so stehen diese Begriffe irgendwie auf meiner Liste zukünftig zu lesender Bücher. Morgenthaler allerdings wäre nicht meine erste Wahl, sondern eher die lacanianische Schule.

Liebe Grüße,
Frederik Weitz