10.10.2012

Bedürfnisse I: Konflikte in Erzählungen

Es ist passiert: nachdem ich gestern Nachmittag meinen offiziellen Bürotag beendet habe, habe ich  mich daran gemacht, alle Zettel zu Bedürfnissen in meinem Zettelkasten durchzukommentieren. Von dieser Arbeit konnte ich mich dann gar nicht lösen und bin erst nach Mitternacht ins Bett; und jetzt kann ich nicht schlafen, weil die Gedanken weiterhin in meinem Kopf herum rumoren.

Bedürfnis und Erzählung

Warum diese Verbindung Bedürfnisse und Erzählung?

Psychologische Kosistenz

Mir ist, schon zu Beginn meiner Selbstständigkeit, aufgefallen, wie wenig und wie schlecht Autoren mit den Motiven ihrer Protagonisten umgehen. Im schlimmsten Fall sind es völlig welt- und geschichtslose Figuren, die einfach in eine Handlung hineingeraten; im nicht ganz so schlimmen Fall haben diese Figuren eine Geschichte, die aber zu den folgenden Handlungen überhaupt nicht passt. Es geht also um psychologische Konsistenz.

Die Bedürfnispyramide

Was die Bedürfnisse angeht, so gibt es im Prinzip nur ein umfassenderes Modell, die Maslowsche Bedürfnispyramide. Wie ich schon öfter angemerkt habe, bin ich mit dieser unzufrieden. Deshalb habe ich in den letzten Jahren mit anderen Modellen herumexperimentiert, bzw. mit anderen Büchern. Sehr wichtig ist mir hier die Willensphilosophie geworden. Hier bietet mein Bücherregal vor allem Schopenhauer und Sartre an. Ein weiterer Philosoph wäre Ernst Bloch, dessen Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung man durchaus als eine Philosophie der Bedürfnisse bezeichnen kann. Ich habe mit Ernst Bloch zwar teilweise arge Probleme, aber befruchtend ist er auf jeden Fall.

Konflikte

Und die Konflikte in Erzählungen?

1 Konflikt = 2+ Bedürfnisse

Ein Konflikt basiert immer darauf, dass zwei Bedürfnisse sich gegenseitig ausschließen oder zumindest behindern. Ist nur noch ein Joghurt im Kühlschrank, und sowohl Peter als auch Manfred möchten ihn essen, dann entsteht ein Konflikt. Hätte einer der beiden dieses Bedürfnis nicht, gäbe es auch keinen Konflikt.
Nun sind Erzählungen fast immer Erzählungen von Konflikten (Ausnahmen sind manche Idyllen und Pastoralen). Und so ist es grundlegend, dass der Autor Figuren mit unterschiedlichen Bedürfnissen zusammenbringt. Hier allerdings gibt es ein deutliches Problem. Was bedeutet: unterschiedliche Bedürfnisse? Nehmen wir zum Beispiel den klassischen Fall, den Liebeskomödien dramatisieren: Zwei Männer verlieben sich in dieselbe Frau. Hier könnte man sagen, dass die Bedürfnisse selbstverständlich gleich sind, aber deren Realisierung sich ebenso selbstverständlich ausschließt.
Was in der Praxis selbstverständlich ist, zeigt in der Theorie auf ein deutliches Problem. Das Bedürfnis für sich reicht nicht aus, den Konflikt zu beschreiben.

Bedürfnis und Motiv

Schon psychologisch gesehen müssen wir zwischen Bedürfnis und Motiv unterscheiden. Das Bedürfnis steht auf der einen Seite, die man quasi-biologisch nennen könnte. Doch dieses Bedürfnis bindet sich dann an ein Motiv (eine Vorstellung), wie man dieses befriedigen könnte. Und solche Motive sind eher kulturell. Wenn man von Maslow ausgeht, gehört die Familie auf der einen Seite zu den Sicherheitsbedürfnissen und auf der anderen Seite zu den Zugehörigkeitsbedürfnisse (zweite und dritte Stufe der Bedürfnispyramide). Doch wie diese Familie dann konkret aussehen soll, damit sie die Bedürfnisse befriedigt, ist kulturell sehr unterschiedlich. Ebenso werden niedrigere Bedürfnisse durch höhere überformt. Das Bedürfnis nach Nahrung wird in unserer Kultur nicht einfach so befriedigt, sondern in mehr oder weniger ritualisierten kulturellen Formen.

Motive in Erzählungen

Und dasselbe passiert in (guten) Erzählungen. Es ist ein Unterschied, ob eine Frau einfach nur neugierig ist, oder ob sie neugierig auf das Verhalten lebender Dinosaurier ist. Wäre die Frau nur neugierig, dann wären wahrscheinlich ihre ganzen Handlungen in Lost World recht unmotiviert gewesen. Doch nur, weil ihr Bedürfnis mit einem spezifischen Motiv zusammenhängt, kann sie sich mit anderen Menschen mit ähnlichen Motiven (aber durchaus unterschiedlichen Bedürfnissen) verbünden und gerät mit wieder anderen Menschen mit zum Teil gegensätzlichen Motiven in Konflikt.

Ich hatte vor zwei Jahren schon einmal diesen Zusammenhang intensiver an einem Krimi von Martha Grimes (Inspektor Jury schläft außer Haus) und dem ersten Buch der Wellenläufer-Trilogie von Kai Meyer diskutiert; ein drittes Buch war von Eileen Wilks (Verlockende Gefahr). Eine Systematisierung habe ich allerdings nicht hinbekommen und es ist vielleicht eines der großen Probleme, dann den Umgang mit Konflikten in Erzählungen zu unterrichten.

Trotzdem seien hier einige Tipps gegeben:
(1) Die Maslowsche Bedürfnispyramide eignet sich als Analyseinstrument trotz all ihrer Probleme. Wenn ich eine Erzählung nach ihren Konflikten analysiere, stütze ich mich in loser Weise auf Maslow. Lose heißt in diesem Fall, dass ich die Bedürfnisse nicht penibel an Maslow abarbeite, sondern ihn als Strukturierungshilfe benutze. Da das Modell wenig analytische Schärfe besitzt, geht es hier auch weniger um eine exakte Darstellung, als sich für den Zusammenhang von Konflikten in einem Text zu sensibilisieren. Dies ist auch das Ziel, das Autoren haben sollten: die Analyse dient der Sensibilisierung (aber die Analyse ist selbstverständlich noch nicht die Sensibilität).

Ist übrigens auch ganz sinnvoll, zumindest stellenweise die Analyse der Bedürfnisse, Motive und Konflikte systematisch auszuführen, das heißt so vollständig wie möglich. Um hier ein Beispiel zu geben, wie ich eine solche Analyse gestalte, zitiere ich hier einige meiner Kommentare zu dem Buch Dark Lover von E. L. Ward:
Darius hat eine Tochter, die Halbvampirin ist. Sie ist noch nicht verwandelt (das gehört wohl dazu). Für diese Verwandlung möchte er Wrath fragen, den letzten reinblütigen Vampir auf der Erde. Darius befürchtet, dass er seine Tochter genauso verlieren wird, wie seine anderen Kinder. Sein Bedürfnis ist also die Familie (vom Typ der dritten Stufe: Zugehörigkeit). Sein Motiv ist die Rettung der Tochter. Der Weg dorthin besteht darin, Wrath zu bitten, ihre Verwandlung zu begleiten.
(Position 227)

Ein wichtiges Motiv (und eins, das Maslow überhaupt nicht beachtet) ist der Hass. »„She's a half-breed, D. And you know how he feels about humans.“ Tohrment shook his head. „My great-great-grandmother was one, and you don't see me yakking that up around him.“«
(Position 239)

Die Stelle ist insgesamt ganz geschickt gemacht. Es wird nicht direkt gesagt, dass Wrath Menschen hasst.

Es gibt ritualisierte Bedürfnisse, zum Beispiel das Auffüllen der Gläser, die kaum noch als Bedürfnisse zu bezeichnen sind, da sie so selbstverständlich befriedigt werden.
(Position 239)

Solche ritualisierten Bedürfnisse gibt es auch in Bezug auf Personen, zum Beispiel wenn jemand den Ehepartner als seinen Besitz betrachtet und als eine nette, brauchbare Maschine. Von der Gesellschaft werden solche Rituale massenhaft nahe gelegt. Man erwartet sie eben nicht so sehr im Bereich der Intimität.

Die Argumentation zwischen den beiden Vampiren wägt die Wichtigkeit der Bedürfnisse ab.

(2) In der Praxis ist es ganz günstig, wenn man sich darüber klar wird, welche Bedürfnisse die Protagonisten hauptsächlich befriedigen. Sollten Sie zum Beispiel einen Zombieroman schreiben, dann ist es wichtig, sich darüber bewusst zu werden, welches hauptsächlich Bedürfnis die Zombies haben. Dies ist selbstverständlich eine physiologisches Bedürfnis: wie alle guten Monster sind auch Zombies eigentlich reine Fressmaschinen. Das macht sie auch so einfach zu handhaben.

Komplizierter wird es bei Figuren, denen wir ein reales Leben einhauchen wollen. Diese haben nämlich eine ganze Bandbreite an Bedürfnissen und hier ist es ganz sinnvoll, wenn wir all diese Bedürfnisse auflisten und dazu schreiben, welche Motive sich an die Bedürfnisse dranhängen.
Nehmen wir zum Beispiel an, wir hätten eine junge Frau, die gerade eine recht unangenehme Beziehung abgeschlossen hat. Sie hat weiterhin das Bedürfnis nach Intimität (dritte Stufe der Bedürfnispyramide), aber durch die unangenehme Erfahrung ist das Bedürfnis nach Verlässlichkeit (zweite Stufe) wichtiger geworden. Die Frau wird also weniger nach dem Motiv des Verliebtseins vorgehen, als der Sicherheit.

Hier ist es weiterhin sinnvoll, nicht nur die zunächst für die Geschichte relevanten Bedürfnisse und Motive aufzulisten, sondern möglichst vollständig. Es gibt zwar einige physiologische Bedürfnisse, die so grundlegend sind, dass man sie eigentlich nicht aufzulisten braucht, wie zum Beispiel das Atmen. Aber grundsätzlich hilft einem diese Auflistung, die Konflikte zu dramatisieren. Ein Konflikt wird nämlich dann „dramatischer“, wenn er von einem höheren Bedürfnis zu einem niedereren Bedürfnis rutscht. Nehmen wir den typischen Fall des engagierten Kommissars. Dieser trifft auf einen Serienmörder, der selbstverständlich gegen die Moralität des Kommissars (fünfte Stufe) verstößt. Nun ist dieser Serienmörder allerdings recht trickreich. Der Fall lässt sich nicht so leicht und wie sonst gewohnt lösen und kratzt damit an der Selbstachtung des Kommissars (vierte Stufe). Unter dem Arbeitsdruck leidet das Privatleben des Kommissars (dritte Stufe) und schließlich stellt der Kommissar fest, dass seine eigene Familie in das Visier des Serienmörders gekommen ist (zweite Stufe); es kommt zum großen Show-down, in dem es um Leben und Tod geht (erste Stufe).

So vollständig werden allerdings die Stufen nicht immer durchlaufen, sogar meistens nicht. (Und Sie merken, wie kompliziert sich plötzlich die ganze Geschichte gestaltet, wenn man auf einer theoretischen Ebene erklären möchte, was man mit einer gewissen schriftstellerischen Sensibilität in wenigen Minuten abhaken kann.)

(3) Die Verbindung zwischen Bedürfnissen und Motiven ist kein Selbstzweck. Zumindest nicht in Erzählungen. Wenn Sie Figuren entwerfen, denken Sie an die möglichen Konflikte, die aus Motiven entstehen. Für Konflikte braucht man zwar nicht immer andere Personen, aber zumindest in der Unterhaltungsliteratur ist das wichtig.
Überlegen Sie sich also möglichst viele Personen, die mit diesem einen Bedürfnis und diesem einen Motiv des Protagonisten (oder einer anderen Figur) in Konflikt geraten könnten. Nehmen wir an, eine Frau hat das Bedürfnis nach Intimität und ist auf der Suche nach dem seufz-Mann. Ein möglicher Konflikt entsteht durch eine Mutter, die vor allem auf einen Mann pocht, der finanzielle Sicherheit bieten kann. Ein anderer möglicher Konflikt entsteht dann, wenn die Protagonistin diesen seufz-Mann im Ehepartner ihrer besten Freundin findet.
Falls Ihnen die Entwicklung möglicher Konflikte schwer fällt: dazu brauchen Sie die Analyse. Diese macht nicht nur sensibel, sondern liefert auch konkrete Beispiele, wie sich Bedürfnis, Motiv und Konflikt in Erzählungen vermischen.

Eine Art Fazit:

Konflikte sind der Motor einer Geschichte. Es scheint aber keine Formel dafür zu geben, wie man als Autor Konflikte zu gestalten hat, damit automatisch ein spannendes Buch entsteht. Hier muss man eher auf Maximen (Handlungsempfehlungen) zurückgreifen und auf Übungen, um sich zu sensibilisieren.
Für die Sensibilisierung halte ich den Kommentar für extrem wichtig. Kommentare bilden so etwas wie eine undisziplinierte Analyse. Schon allein der Begriff der Analyse schreckt viele meiner Kunden ab, wenn ich ihnen dieses Vorgehen vorschlage. Analyse, das hört sich nach Wissenschaft an. Und Wissenschaft sei ja nicht Praxis. Aber genau deshalb spreche ich hier ja auch von der Sensibilität (diesen Begriff habe ich in meiner Examensarbeit am Thema der Lernprozessdiagnostik ausgearbeitet). Die Sensibilität koppelt sich meiner Ansicht nach eng an analytische und systematische Arbeitsweisen. Deshalb ist der Effekt dieser Arbeitsweisen für die Praxis nicht direkt im Ergebnis abzulesen, sondern nur indirekt.

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