22.10.2012

Singularität der Erfahrung

Ich bin mal wieder gesprungen, diesmal zu Husserl und Waldenfels. Ein wenig liegt das daran, dass mich im Moment Kant eher ermüdet (er wächst mir aus den Ohren heraus). Allerdings fülle ich im Moment meinen Zettelkasten mit alten Notizen auf. Und dazu gehörten auch einige Anmerkungen zu Büchern von Waldenfels.

Ich hatte bereits vor einigen Tagen auf die Wichtigkeit der Erfahrung hingewiesen. Eine meiner letzten Notizen (zu Waldenfels: Grenzen der Normalisierung. Frankfurt am Main 1998) kommentiert eine Passage von Seite 45:
Zur Singularität der Erfahrung: man muss auf dem Unterschied zwischen Erfahrung und Wissenschaft beharren, damit die Erfahrung nicht „durch Regelapparate aufgeschluckt“ wird.
Solche Regelapparate bilden sich immer (möchte ich behaupten), wenn die Lebenswelt unter ein Ziel gestellt wird, also ihre Horizonthaftigkeit verdrängt wird.
(zu Seite 45) 
Tatsächlich bin ich immer wieder erstaunt, wie wenig die Menschen darüber reflektieren, dass sie zum Beispiel nur lesen, wenn sie lesen und dass sie nur aus ihrer Perspektive lesen. Es ist eine seltsame Zeit! Heute muss immer alles absolut sein, immer alles ideal. Doch der alte Begriff der Idealität bedeutet nichts anderes, als ein Begriff, der nicht durch Abstraktion aus der Erfahrung abgeleitet werden kann, also nicht deduziert werden kann. Vielmehr muss er induziert werden, um überhaupt eine gewisse Haltbarkeit zu bekommen und selbstverständlich haben wir es hier mit einem Zirkel zu tun: die Anwendung des Begriffes führt nicht notwendig zu bestimmten Anschaulichkeiten; und die Anschaulichkeit kann nicht notwendig unter diesen Begriff subsummiert werden.
Die Liebe ist ein solcher Begriff, eine solche Idealität. Ein sich küssendes Pärchen unter einem Regenschirm kann die Liebe zwar veranschaulichen. Aber die Liebe kann aus dieser Szene heraus nicht abstrahiert werden (nicht wissenschaftlich). Das küssende Pärchen ist den Symbolen zuzurechnen, die „nur“ indirekt und metaphorisch verbildlichen.
So gibt es zwischen der Idee und ihren Symbolisierungen eine Ableitungslücke, die man als jeweils historisch bezeichnen kann (die Liebe wurde vor 200 Jahren ganz anders dargestellt als heute und es gibt auch immer eine gewisse unvereinbare Vielfalt in dieser Darstellung, heute sowieso). Dieser Unbegründbarkeit müssen wir Aufmerksamkeit schenken. Wir können nicht einfach solche Begriffe (wie die Liebe, die Gerechtigkeit, die Demokratie, die Gewissenhaftigkeit, usw.) definieren und bräuchten dann damit keine Erfahrungen mehr machen. Sondern wir müssen auf diesen Primat der Erfahrung und des ständigen Umbaus der Idee beharren.

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