11.12.2012

Mikrologik IVd: Zimmer 1408 (Stephen King)

Ich habe zwischendurch etwas gekränkelt und dann die liegen gebliebene Arbeit aufholen müssen. Deshalb meine immer nur kurzen Stippvisiten im Blog. Außerdem habe ich mich etwas intensiver mit Herz von Midlothien auseinandergesetzt. Ich dachte mir, ein etwas älterer und spannender Erzähler wäre vielleicht auch mal ganz gut. Aber dieser Roman ist wiederum so symbolisch, dass er den normalen Spannungsgesetzen, also denen des modernen Spannungsromans, nicht folgt. Er eignet sich also nur schlecht für das, was ich darstellen möchte.
Hier noch einmal die Links zu den vorhergehenden Blog-Artikeln:

Zimmer 1408 (in: King, Stephen: Im Kabinett des Todes. Seite 463-513)

Moderne deutsche Spannungsliteratur scheine ich auch nicht zu besitzen (außer drei Romanen von Zoe Beck  und einer ganzen Menge schlecht geschriebener Thriller, die es nur als Kindle gab/gibt). Also greife ich doch wieder auf die guten alten amerikanischen Autoren zurück. Diesmal King. Wer die Geschichte weder aus dem Buch noch aus dem Film kennt: Protagonist ist ein mäßig erfolgreicher Autor, der Orte des Spukes untersucht und beschreibt, diesmal eben das Zimmer 1408 in einem Hotel. Der Direktor des Hotels versucht ihn davon abzubringen. Am Anfang verweigert er ihm sogar überhaupt die Möglichkeit, das Zimmer zu mieten. Der Autor muss sich diese Möglichkeit durch seinen Rechtsanwalt erkämpfen.
Beginnen wir erstmal wieder mit der Makroebene der Motiviertheit. Wie viele Gespenstergeschichten, basiert diese auch auf dem Spruch „curiosity killed the cat“. Der Drang, etwas Unbekanntes zu erforschen und dabei ein Geheimnis zu lösen steht einer tödlichen und befremdlichen Macht entgegen. Nicht umsonst könnte man zum Beispiel Conrads Herz der Finsternis fast als eine Gespenstergeschichte bezeichnen.
Auf jeden Fall gibt es auf Seiten des Protagonisten eine starke Eigenmotivation. Irgendjemand ist eigentlich immer „fast besessen“ (Besessenheit bedeutet eine Motivation über den gesunden Menschenverstand hinaus). Dies ist die Position des Autors in dieser Kurzgeschichte. Er will auf Teufel komm raus das Geheimnis des Zimmers ergründen. Auch die Position des Hotelmanagers ist sehr deutlich: er will eigentlich um jeden Preis den Journalisten davon abhalten, eine Nacht in dem Zimmer zu verbringen.
Es gibt aber noch einen dritten Handlungsträger: das Geisterzimmer selbst. Und hier wird es sehr schwierig, Motive anzugeben. Wollte das Zimmer nämlich einfach nur seine Bewohner umbringen, ginge das wesentlich schneller. Wozu also der ganze Hokuspokus? Man weiß es nicht. Der Spuk ist ein Phänomen, dessen Motiviertheit man nicht kennt.
Auf der Mesoebene der Motiviertheit fallen bei einer Kurzgeschichte wie dieser oftmals die großen Motiviertheiten und die Szenen-Motiviertheiten zusammen. Der Hotelmanager zum Beispiel hat eigentlich nur einen einzelnen Wechsel seines Bedürfnisses und damit einen einzelnen Wechsel seines Motivs. Zunächst möchte er den Autor aus dem Zimmer draußen halten, dann willigt er missmutig ein, weil er sowieso nichts anderes tun kann.

Die Szene selbst (Seite 466-467)

Der Autor sitzt ein letztes Mal in dem Büro des Hotelmanagers. Und ein letztes Mal versucht dieser, den Journalisten zu einer anderen Meinung zu bewegen. Der Autor heißt übrigens Mike Ensslin, der Hotelmanager einfach Mr. Olin. Um später besser verweisen zu können, nummeriere ich die Sätze durch.
(1) Mike setzte sich vor den Schreibtisch. (2) Er hatte erwartet, Olin werde dahinter Platz nehmen, aber Olin überraschte ihn. (3) Er setzte sich in den Sessel neben Mike, schlug die Beine übereinander und beugte sich dann über seinen straffen kleinen Schmerbauch nach vorn, um den Humidor zu berühren.
(4) »Zigarre, Mr. Ensslin?«
(5) »Nein, danke. Ich rauche nicht.«
(6) Olins Blick fiel auf die Zigarette hinter Mikes rechtem Ohr – in einem flotten Winkel geparkt, wie in alten Zeiten ein Witze reißender Reporter seinen nächsten Glimmstängel genau unter dem im Band seines weichen Filzhuts steckenden PRESSE-Ausweises hätte parken können. (7) Die Zigarette war so sehr Teil seiner selbst geworden, dass Mike im ersten Augenblick wirklich nicht wusste was Olin anstarrte. (8) Dann lachte er, nahm sie, nahm sie herunter, betrachtete sie und sah wieder zu Olin hinüber.
(9) »Hab seit neun Jahren keine einzige mehr geraucht«, sagte er. (10) »Mein älterer Bruder ist an Lungenkrebs gestorben. (11) Nach seinem Tod habe ich das Rauchen aufgegeben. (12) Die Zigarette hinter dem Ohr …« (13) Er zuckte mit den Schultern. (14) »Halb Affektiertheit, halb Aberglauben, denke ich. (15) Wie das Hawaiihemd. (16) Oder die Zigaretten, die manche Leute auf ihrem Schreibtisch stehen oder an der Wand hängen haben – in einem verglasten Kästchen, auf dem IM NOTFALL SCHEIBE EINSCHLAGEN steht. (17) Ist 1408 ein Raucherzimmer, Mr. Olin? (18) Nur für den Fall, dass ein Atomkrieg ausbricht?«
(19) »Es ist tatsächlich eines.«
(20) »Nun«, sagte Mike nachdrücklich, »das bedeutet eine Sorge weniger bei der Nachtwache.«
Rituale. Unter dem Aspekt der Motiviertheit kann man Rituale als feststehende Handlungsweisen sehen, die auf feststehende Weise irgendetwas befriedigen. Obwohl solche Rituale wahrscheinlich immer auf Bedürfnissen beruhen, verschwinden diese. Das Ritual ist sein eigenes Bedürfnis. In diesem Fall zum Beispiel: sich geordnet im Büro des Hotelmanagers hinsetzen.
Überraschung. In Satz (2) wird die Motiviertheit direkt angesprochen. Mike hatte erwartet …, aber Olin … — Solche kleinen Brüche, die kaum etwas Dramatisches darstellen, sind hervorragend zur Charakterisierung geeignet. Olin gibt sich nicht von oben herab. Er baut auch keine Distanz auf (was passieren würde, wenn er sich hinter den Schreibtisch setzen würde). Ein Stück weit im folgenden Dialog wird klar, dass er versucht, Mike auf der Ebene des Kumpels zu erwischen und ihn dadurch von einer Übernachtung abzuhalten. An dieser Stelle aber zeigt er vor allem eine gewisse Coolness. Er hat es nicht nötig, sich als Manager aufzuspielen.
Ab dieser Stelle, Satz (4) bis (16), wird nun die sehr private Motiviertheit von Mike erzählend auseinandergefaltet. Die Zigarette wird in ein Gespinnst aus kleinen Informationen eingeflochten. King macht sowas gerne. Es gibt immer wieder solche Gegenstände, deren Geschichte und deren Erlebnisse erzählt werden. Wenn ich mich recht erinnere (ich bin jetzt zu faul, nachzuschauen), dann nennt Genette dies Digression, die Abschweifung. Sie dienen weniger der Geschichte selbst, also dem Plot, als der Charakterisierung.
Die ganze Passage ist allerdings auch deshalb so günstig, weil sie sehr dicht an den sinnlichen Wahrnehmungen dran bleibt. King schafft es, anhand einiger weniger Aussagen eine ganze Szenerie aufzubauen: Mikes Schusseligkeit, der Tod seines Bruders, der mehr oder weniger erfolgreiche Versuch, das Rauchen durch diese eine, letzte Zigarette zu bannen.

Es mag euch vielleicht wundern, dass ich hier, obwohl es um Bedürfnisse geht, so wenig davon schreibe. Tatsächlich scheinen diese Bedürfnisse als „diffuse“ Möglichkeiten unterhalb der erzählerischen Ebene durch. Es geht hier eher darum, ein Gefühl für dieses „Schneegestöber“ winziger Motivationen zu bekommen, das gute Autoren wie selbstverständlich in ihren Text einbauen. Tatsächlich lassen sich viele dieser Motiviertheiten nicht präzise ausdrücken, ja noch nicht einmal richtig benennen.
Und trotzdem erscheint es mir sinnvoll, diesen nachzugehen und einen Text darauf hin zu lesen.

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