30.12.2013

Jahrestage V

Ihr gefällt es, wie er gastweise am Tisch zwischen den beiden Fenstern sitzt und sich nach ihrer Schule erkundigt, weil er davon wissen will, nicht aus Vormundspflicht. Sie hat mit ihm reichlich verabredet, ob es nun um ungläubige Blicke schräg von unten geht oder um Lügeversuche bei steifem Gesicht oder darum, dass sie oder er an manchen Stellen sagen müssen: was ich lediglich tat, um New York reinzuhalten; was immer an der Reihe ist.
Johnson, Uwe: Jahrestage II, 31. Dezember 1967, Seite 534

Es war mir ein inneres Blumenpflücken - LeFloid trifft Wickert

YouTube sorgt, neben den selfpublishern und einigen wichtigen Blogs für eine enorme Bewegung in der Medienszene.

Ein recht harmonisch laufendes Interview zwischen Ulrich Wickert, dem Urgestein der Abendnachricht, und LeFloid, dem Protagonisten der YouTube-Bewegung, findet ihr hier: Mehr YouTube würde der ARD gut tun.

LeFloid sagt übrigens sehr richtig, dass er Kommentare verfasst, keine Nachrichten. Dass er gute Kommentare verfasst, das ist das eine; dass darüber die Nachrichten selbst bei vielen Menschen verschwinden, das andere. Man kann LeFloid nun nicht vorwerfen, dass er aus den Nachrichten ethische Erkenntnisse herauszieht. Dazu sind Nachrichten letzten Endes da. Problematisch wird nur, wenn dieses Sich-moralisch-Verhalten die einzige Anteilnahme am Mediengeschehen wird.

Ein guter Geschmack an der Information: das ist die Grundlage für ein gutes moralisches Bewerten.

Neulich hatte ich eine Anfrage für ein Skript zur Situation der modernen Familie in Deutschland. Genauer gesagt ging es um Nachbesserungen an einem Text. Gestutzt habe ich bereits in der Einleitung. Hier wurde die uralte Tradition der Familie beschworen. Ich habe da nachgefragt, von welcher uralten Tradition er hier genauer reden würde (da ja schon nicht klar war, wie er Familie definiert hat). Und er meinte dann zu mir, so wie es immer gewesen sei: Vater - Mutter - Kind.
Diese Form der Familie, die kleinbürgerliche, ist aber eindeutig eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Ich fände das Ganze nun nebensächlich, wenn das irgendjemand auf der Straße sagen würde. Schlimmer finde ich, wenn dieser Mensch in einem Beruf arbeitet, der sich mit der „guten Struktur“ der Familie beschäftigt. Mit Familien ist es so ähnlich wie mit der Medienszene. Es gibt dieses klassische Erscheinungsbild nicht mehr oder nur noch selten. Aber unsere Gesetze und die öffentliche Moral schützen hier eine Form, die nach und nach verschwindet. Das ist die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist, dass die neuen Formen, die sich finden lassen, zum Beispiel die Position des fürsorglichen Stiefvaters, nicht geschützt werden und es hier keine Rechtssicherheit für solche Menschen gibt, es sei denn, sie wird privat geregelt, im Falle des Stiefvaters zum Beispiel von der Mutter aus.

Auf dem Weg zum Nerd

Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich das mal sage: aber ich befinde mich auf dem Weg, ein Computer-Nerd zu werden.

Das ganze Wochenende habe ich an der Verbesserung der Videos herumgearbeitet und zumindest einige Fortschritte gemacht.
Solche Fortschritte sind immer genau dann sehr unangenehm, wenn man merkt, dass man vorher unglaublich viel Zeit auf Sachen verschwendet hat, die man viel schneller und besser hätte hinkriegen können. Wenn man sie denn vorher entdeckt hätte.

Nun: dafür werde ich mir in Zukunft noch einiges an Gedanken machen.

Ich habe das ganze Wochenende nicht gelesen. O.k., ein bisschen doch.
Ein paar Seiten bei Hannah Arendt; und mein lieber Onkel hat mir tatsächlich die Safranski-Biografie über Goethe geschenkt, sogar mit einer Original-Unterschrift, natürlich von Safranski, nicht von Goethe. Und darin habe ich auch herumgeschmökert.

Obligatorisch: die Tagespolitik.
Bisher hatte ich das Ganze eher von der Rhetorik aus betrachtet. Seit etwa einem Jahr gärt und rotiert bei mir das Interesse an der Ethik und der politischen Philosophie. Viel Zeit, mich damit zu beschäftigen, habe ich nicht gehabt. Das ist eigentlich sehr schade.
Und als einen guten Vorsatz für das neue Jahr wage ich es gerade nicht zu nehmen. Es kommt einiges auf mich zu.

26.12.2013

Und die sechste Folge meines Video-Kurses

Die ersten Videos stehen im Netz. Die Resonanz ist 100%ig positiv. Klar: waren ja bisher auch nur sechs Stimmen. Und da ich erst seit etwa zwei Wochen ernsthaft online stehe und erst seit letzten Samstag auch Werbung mache, ist noch nicht viel passiert. Wer aber wollte das den Menschen über die Feiertage verübeln? Ich nicht.

Heute habe ich das sechste Video veröffentlicht. Dabei sind wir dann beim zweiten Video zu dem Planungsmodell, mit dem ich am liebsten arbeite. Vor allem verstehen das die Menschen auch am besten.

Hier der Link zu der Playlist.

24.12.2013

Konsumterror und der innere Schweinehund

Es ist Weihnachten! — Und an dieser Stelle erstmal allen Lesern und Leserinnen eine schöne und ruhige Zeit.

Ich bin in den letzten Tagen nicht zur Ruhe gekommen. Nachdem ich ein bisschen Luft hatte und von meinen Videos auch etwas Abstand nehmen konnte, habe ich mich intensiver mit dem System von YouTube beschäftigt. Das ist im Hintergrund ganz schön umfangreich und komfortabel. Die meisten Menschen wissen das gar nicht, da sie es selbst nicht nutzen. Verwunderlicher ist, dass es auch häufig nicht von den Video-Anbietern genutzt wird. Ich habe mir jetzt eine erste Übersicht verschafft und muss das ganze ein wenig ruhen lassen, um zu schauen, wie ich das genauer gebrauchen werde.

Ob ich in Weihnachtsstimmung bin? Überhaupt nicht.
Seit Mai oder Juni beschäftige ich mich mit einigen Klassikern der Kulturkritik. Hannah Arendt hat hier den Ausschlag gegeben, wobei zuvor schon Christa Wolf und Max Frisch mich in diese Richtung getrieben haben. Es gibt sowohl bei Wolf, als auch bei Frisch Stellungnahmen zu aktuellen politischen Situation, die man aus den sechziger Jahren ohne Probleme auf die heutige Zeit übertragen kann.
Dazu habe ich bisher noch fast gar nichts geschrieben. Mich verwundert nur, dass dieses Problem von Konsum und dem Zurechtstutzen von Menschen heute so resignativ beantwortet wird. Vor zwei Jahren hatte ich zum Beispiel noch in die Szene der selfpublisher große Hoffnungen gesetzt, dass hier mehr ausprobiert wird und experimentellere Literatur entsteht und dadurch eine größere Sensibilität für das, was Kultur eigentlich ist: die subjektive Auseinandersetzung mit der Politik und der politischen Tradition um uns herum. Stattdessen findet man vor allem dieses Verkaufsargument. Ein Buch, das sich gut verkauft, ist deshalb auch schon bedeutsam; so der Trugschluss.

Und ein häufiges Argument für die Qualität eines Buches ist die Spannung. Spannung allerdings ist nur ein Teil und wahrscheinlich sogar nur ein geringer Teil von dem, was ein Buch wertvoll macht. Indem man sich auf die Spannung konzentriert, bleiben viele andere Sachen auf der Strecke. Es ist doch wunderbar, über ein Buch lange nachzudenken, auch über einen Roman. Das aber lassen Bücher, die sich nur zum konsumieren eignen, kaum zu. Man muss sie schon sehr gegen den Strich bürsten, wenn man ihnen etwas anderes abgewinnen will.

Ganz frei davon bin ich auch nicht. Ich gebe es zu. Ich bin froh, dass ich jetzt wieder ein adSense-Konto besitze. Dazu habe ich in den letzten Tagen für eine andere Adresse Artikel geschrieben. Und natürlich sollen diese Anzeigen, die ich schalten möchte, rund um meine Videos auftauchen.

JaelleKatz, alias Sylvia Hubele, hat gestern auf ihrem eigenen Blog einen Artikel veröffentlicht, der so gar zu gut zu einem meiner Artikel passt. Er heißt: Mit dem inneren Schweinehund in die Hundeschule. Mein dazu entsprechender Artikel lautet: Das innere Team beim Schreiben.
Das innere Team ist ein ganz wundervolles Konzept, wenn man zu seiner eigenen Stimme finden möchte. Ich hatte nun lauter eher positive innere Stimmen vorgeschlagen. Der innere Schweinehund, den Sylvia hier vorstellt, ist mit Sicherheit auch eine sehr taugliche Stimme, um Texte zu schreiben. Es werden nicht unbedingt Texte sein, die man veröffentlichen sollte.

23.12.2013

Plotstrukturen III — ein einfacheres Modell, angelehnt an Aristoteles

"Normalerweise hätte ich schon längst im Bett sein müssen. Man muss sich ja irgendwie selbst bemuttern.", so schrieb ich vor zwei Tagen, konnte dann aber das Video nicht auf meinem Blog einfügen. - Jetzt klappt's.

Aber ich musste dann unbedingt noch das dritte Video anfangen und fertig stellen. Nachdem ich in den letzten beiden Videos das Kompositionsmodell von Gustav Freytag behandelt habe, gehe ich in diesem Video auf ein Modell ein, das eigentlich schon zwei Jahrtausende alt ist und ebenfalls vom Theater herrührt. Ursprünglich wurde etwas ähnliches von Aristoteles formuliert. Der amerikanische Schriftsteller James Scott Bell hat dies ein wenig modernisiert, wenn auch nicht viel.
Hier also stelle ich euch dieses Modell vor. Mir persönlich ist es für längere Geschichten zu einfach und zu undifferenziert. Aber für einen ersten Entwurf, für die Strukturierung von irgendwelchen Ideen, einfach um auszuprobieren, wie die in etwa in eine Geschichte hineinpassen, ist dieses Modell ganz hervorragend, weil es sich so einfach handhaben lässt.

Hier also das Video:

Letzte Nachricht vom Tage

Das war mal ein ganz gewöhnlicher und recht entspannter Sonntag.
Viel geschlafen habe ich allerdings nicht. Ich bin schon recht früh aufgestanden. Und es war einer jener Morgen, an denen ich gemerkt habe, dass ich intensiv geträumt haben musste. Insgesamt schwächle ich gerade. Der doch eher hektische Dezember und die vielen inhaltlich sehr verschiedenen Aufträge kommen jetzt langsam hoch. Ich habe seit zwei Tagen eine beständige Müdigkeit. Und auf der anderen Seite ist es so eine Phase, wo ich merke, dass sich im Hintergrund, hinter meinen offiziellen Gedanken, ganz viel verschiebt. Hier werden sich wohl Spannungen, die sich in den letzten Wochen aufgebaut haben, ausreifen und dann wahrscheinlich wieder in eine Phase von intensivem Arbeiten münden.
Um solche Zustände bin ich nicht böse. Und im Moment fühle ich mich sogar sehr einverstanden damit. Früher habe ich solche Phasen sehr viel eher als Denkkrisen erlebt. Das ist jetzt offensichtlich vorbei.

Bis zum Mittag habe ich dann Zettel in meinem Zettelkasten verfrachtet. Heute waren es vor allem Notizen zu Christa Wolf. Ab Mittag habe ich dann, nach einem Spaziergang, an den Videos weiter gebastelt. Konkreter gesagt habe ich hier einige Sachen ausprobiert, die noch reifen müssen und derzeit nicht auftauchen werden. Und vermutlich sind es auch die Videos, die gerade im Hintergrund so herumpoltern und mir die vielen Träume bescheren. Auch das ist ein gutes Zeichen. Es ist mir ernst.

Aber ich habe nicht nur Notizen zu Christa Wolf in meinem Zettelkasten gebracht, sondern parallel dazu ›Hannah Arendt zur Einführung‹ von Karl-Heinz Breier weiter kommentiert. Dieses Buch ist eigentlich sehr schön. Der Autor entfaltet allerdings immer wieder sehr eigene Gedanken und weicht weit von einer Darstellung des Denkens von Hannah Arendt ab. Insofern ist es als Einführung mit ein wenig Vorsicht zu genießen. Soweit ich mich in Arendt bereits eingearbeitet habe, ist es gut und stimmig. Aber es hätte dichter an der Autorin dranbleiben dürfen.

20.12.2013

Max Frisch, Uwe Johnson, Hannah Arendt und einiges anderes

Hatte ja doch eine ganze Menge zu tun und heute dringt so langsam in mein Bewusstsein, dass nächste Woche Weihnachten ist. Es ist mir kaum aufgefallen.

Seit Mitte November haben sich die Arbeiten massiv gehäuft. Gestern Mittag habe ich alle wichtigen Sachen für dieses Jahr abgeschlossen. Und seitdem auch mal wieder etwas Freizeit. Die ich dann leider mit Verwaltungskram auffüllen musste. Also doch keine Freizeit. Besonders hübsch werde ich finden, am Montag dann Rechnungen zu schreiben. Ich glaube, damit kann ich meinen Kunden wirklich eine Freude machen. Aber die meisten werden das ihn nicht lesen, weil die erst nach Silvester wieder in ihr E-Mail-Fach schauen.

Sofern ich nichts anderes zu tun habe, werde ich mich an mein nächstes Video machen. Vielleicht kann ich das sogar heute Abend noch fertig stellen. Mein zweiter Monitor ist vor zwei Tagen kaputtgegangen. Ich werde mir einen neuen kaufen müssen. Ich bin mittlerweile zu sehr daran gewöhnt. Es geht aber auch so.

Ich habe aber auch ein bisschen inhaltlich arbeiten können. Zunächst wäre dort die kulturhistorische Schule. Meine Notizen zu Vygotskij habe ich durchgelesen und weiter kommentiert. Das habe ich schon lange nicht mehr getan. Zwischendrin sind viele weitere Zitate und Kommentare Lotman, Bachtin, aber auch Schopenhauer entstanden. Schopenhauer finde ich in Bezug auf Vygotskij deshalb so interessant, weil ein zentraler Begriff bei beiden der Wille ist. Und schon ein erster Vergleich zeigt, dass die Auseinandersetzung mit beiden im Vergleich sehr fruchtbar werden wird. Mal sehen, ob ich in den nächsten Wochen Zeit dafür finde, das zu tun. Ich befürchte nicht.

Eine ganz andere Sache sind meine Schriftsteller der Nachkriegszeit. Max Frisch, den ich wegen Christa Wolf, dann wegen Uwe Johnson, ein wenig beiseite geschoben habe, wandert jetzt so langsam in meinen Zettelkasten. Danach folgen Christa Wolf selbst, Uwe Johnson und natürlich Hannah Arendt.
Arendt ist im Bezug auf alle drei Autoren sehr spannend. Für sie taucht eine Tatsache in der menschlichen Welt nur auf, wenn sie mit anderen Menschen geteilt wird. Dieses Teilen geschieht aber nicht durch eine wissenschaftliche Untersuchung, sondern (in einem weiten Sinne gemeint) durch das Erzählen. Man könnte hier (wenn auch nur sehr überspitzt) sagen, dass eine mit anderen Menschen geteilte Welt nur durch eine vielfältig erzählte Welt existiert. Dann aber wäre die grundlegende Funktion zwischenmenschlicher Kommunikation nicht das Aushandeln, sondern dass Teilen in Mitteilen und Aufteilen. Man kann sich das ganze dann tatsächlich so vorstellen, dass die Aufteilung durch die verschiedenen Perspektiven von verschiedenen Menschen die Mitteilung ist, nicht die eigentliche Aussage. Und das eine Mitteilung in der Kommunikation nur geschieht, insofern die Aussagen verschieden sind. Mitteilung entsteht also durch einen Leerraum, der nicht usurpiert werden muss.
Etwas Ähnliches schreibt Frisch in seinen Tagebüchern zur Liebe.

Jahrestage IV

„Nachher, wenn sie sich die stramme Kappe vom Kopf zieht, wird sie inmitten ihrer langen winterblonden Haare älter aussehen als ihre zehneinhalb Jahre.“
Johnson, Uwe: Jahrestage II, Frankfurt am Main 1993, Seite 488

16.12.2013

Und noch einmal: Videos

Ihr ahnt es wahrscheinlich schon: meine leicht zugejammerten Posts über allerlei technische Wehwehchen beim Video-Gestalten werden wohl so etwas wie ein running gag.

Worum geht es? Nun, ich habe in den letzten zwei Wochen recht viel entdeckt, viele neue Möglichkeiten, aus dem vorhandenen Material schöne Sachen zu gestalten. Und das hört sich zunächst ja sehr gut an. Dann allerdings musste ich auch wieder feststellen, dass all diese vielen schönen kleinen Entdeckungen gar nicht zu meinem Kurs passen. Bzw. kann ich mir derzeit noch nicht vorstellen, was ich mit denen anfangen werde. Und insofern haben mir die letzten beiden Wochen wieder relativ wenig genützt.
Trotzdem: vermutlich wird diese Erfahrung jetzt erstmal bei mir eine Weile gähren müssen. Und eventuell muss ich von Anfang an die Planung stärker auf die grafischen Elemente auslegen und auch auf die Eigenständigkeit des filmischen Erzählens. Das war ja das zweite Problem, was ich dann gesehen habe: im Prinzip sind diese Videos noch viel zu sehr verbal ausgestaltet. Die grafischen Elemente sind vorwiegend Hilfsmittel, so wie man das fast immer im klassischen Unterricht sieht. Das ist jetzt nicht unbedingt eine Kritik, aber richtig innovativ kann so etwas auch nicht werden. Und auch wenn ich mich da überhaupt nicht unter Druck setze: ich möchte schon eine stärker auf die Grafik oder auf den Film angelegte Struktur der einzelnen Videos erreichen. Nicht in diesem Kurs. Wahrscheinlich auch nicht in den nächsten beiden. Aber in den nächsten zwei Jahren.

Hier also das erste Video, in neuer Gestalt. Das zweite steht auch schon online. Ebenso werdet ihr ein drittes finden, in dem ihr noch die alte Grafik seht. Das ist nicht schlecht, aber eben durchaus wenig aufregend.

07.12.2013

Feine Kunden - diesmal: die queer-Theorie und die Pädagogik

In meinem letzten Post hatte ich von einer Kundin berichtet, die mich angerufen hatte, weil sie über die Darstellung von "hegemonialer Männlichkeit" verunsichert war. Das hat zu einem weiteren kleinen Nachbeben geführt.
Die Kundin ist hier deutlich zwischen einer queer-freundlichen Auffassung und dem pädagogischen Anspruch, Kindern die Entwicklung einer gesunden Identität zu ermöglichen, aufgerieben. Da sich Identitäten entlang von Schablonen und Vorbildern entwickeln, manchmal durch Nachahmung und manchmal durch Widerstand, ist jene junge Frau in die Zwickmühle gekommen, wie sich eine sinnvolle pädagogische Intervention gestalten ließe, die zwischen "queeren" Ansprüchen und den sehr klischeehaften Rollenbildern, die manche ihrer (zukünftig) zu betreuenden/erziehenden Kinder mit sich bringen, vermittelt.

Identitätsverluste

Zunächst muss man sämtlichen Gegnern von Judith Butler den Zahn ziehen, sie wolle eine queere Gesellschaft. Lesen wir dazu zunächst sie selbst:
Sie [die Aufsätze im vorliegenden Band] konzentrieren sich auf die Frage, was es bedeuten könnte [!], restriktiv normative Konzeptionen des von Sexualität und Gender bestimmten Lebens aufzulösen ... Die Aufsätze behandeln diese Erfahrung des Aufgelöst-Werdens ... gleichermaßen in guter wie schlechter Hinsicht. Manchmal kann eine normative Konzeption von Gender die Personalität auflösen, indem sie die Fähigkeit untergräbt, sich in einem lebenswerten Leben zu behaupten. Dann wieder kann die Erfahrung, dass eine normative Beschränkung aufgelöst wird, eine frühere Vorstellung davon, wer man ist, auflösen, nur um eine relativ neue zu eröffnen, deren Ziel es ist, das Leben lebenswerter zu machen.
Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2011, S. 9.
Hören wir also genau auf dieses "sowohl ... als auch ...", und dass sich die Frage nach einer unbeschädigten Identität nicht einfach durch die Verqueerung einer Gesellschaft lösen lässt. Dies wird aber auch weniger von Gender-Theoretikern vertreten, als von Menschen, die Butler nie gelesen haben. Doch natürlich findet man auch die abstruse Forderung, Kindern eine heterosexuelle Identität abzuerziehen.

Heterosexualität aberziehen?

Philosophie, insbesondere politische Philosophie, neigt dazu, Fragen der Erziehung nur am Rande zu erwähnen, auch wenn es sich explizit um Fragen der Ethik und der Politik handelt. Bekannt und berühmt ist die Behandlung in Platons Gesetzen (7. Buch, meist wird der entsprechende Abschnitt mit 3 beziffert). Es folgen idealistische Positionen wie die von Rousseau. Im Allgemeinen sucht man aber explizit pädagogische Erläuterungen vergeblich. Dewey bildet eine Ausnahme, mit "Demokratie und Erziehung". Ansonsten muss man sich auf philosophisch ambitionierte Pädagogen und Soziologen verlassen, auf Psychologen oder einfach auf nachdenkliche Menschen des Alltags.
Judith Butler kann in diese Erziehungs"blindheit" bedingt ebenfalls eingereiht werden. Trotzdem gibt sie deutliche Hinweise, die eben nicht in Richtung einer zwanghaften Aberziehung von Heterosexualität gehen:
Daraus folgt allerdings nicht, dass die Queer-Theory jedwede Geschlechtszuordnung bekämpfen würde oder die Wünsche derer fragwürdig machen wollte, die zum Beispiel bei Intersex-Kindern solche Zuordnungen sicherstellen möchten, weil Kinder sie durchaus brauchen können, um sozial zu funktionieren, selbst wenn sie später im Leben - um die Risiken wissend - zu dem Entschluss gelangen, ihre Geschlechtszugehörigkeit zu ändern. Dahinter steht die vollkommen berechtigte Annahme, dass Kinder nicht die Last auf sich nehmen müssen, Helden einer Bewegung zu sein, ohne zu einer solchen Rolle ihre Zustimmung als Mündige geben zu können. In diesem Sinne ist die Kategorisierung angebracht und kann nicht auf Formen eines anatomischen Essentialismus reduziert werden."
Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2011, S. 19.
Man könnte aus dieser Passage also folgern, dass die Erziehung zur Heterosexualität 1.) nicht falsch ist und 2.) als Übergangslösung begriffen werden kann, insofern Kinder keine eindeutigen Signale aussenden, bzw. Erwachsene Zweifel hegen.
Weder aber wird gesagt, dass Kinder Erzieher brauchen, die Zweifel an der eigenen Identität haben, auch wenn dies manchmal vorkommen soll und nicht immer zu einer Schädigung der kindlichen Identität führt, noch heißt das, dass in den Kindern Zweifel gesät werden sollen.

(Sexuelle) Identität und Erziehung

Folgt man Butler weiter, ist Identität ein heterogenes Konzept. Auf diesem Hintergrund wird es für den Erzieher manchmal schwierig, die verschiedenen Anforderungen an die Identität des Kindes in widerspruchsloses erzieherisches Verhalten umzusetzen.
Auf diesem Hintergrund hat dann die Kundin etwas desillusioniert gesagt: Also läuft alles darauf hinaus, Kindern gegenüber sensibel zu sein und ihnen einen Schutzraum zu bieten?
Ja, so scheint es wohl.
Dieser Rückzugsort muss gewährleistet sein, anscheinend von der Entscheidung an, ein Kind zu bekommen bis zu dem Moment, da das Kind eigenständig und selbstverantwortlich ist. Die Kundin berichtete, dass es unklar ist, inwieweit Väter für eine gesunde Identitätsentwicklung notwendig sind und dass mit der zunehmenden Zahl an alleinerziehenden Vätern immer fraglicher wird, ob Mütter dafür notwendig sind. Was Kinder allerdings nicht gebrauchen können, ist ein Rückzugsort, der von massiven Konflikten durchzogen ist.

Mündigkeit und queer-Sein

Unterstreichen wir also im letzten Zitat, was Butler scheinbar nur am Rande erwähnt: die Mündigkeit. Und damit kann man, bei aller scheinbar radikalen Zuschreibung der Butlerschen Konzepte, im guten wie im bösen Sinn, einen sehr klassisch-humanistischen Kern ausmachen: die sittliche Autonomie auch als Kern einer queer/gender-Ethik. (Ich erinnere an dieser Stelle auch daran, dass Foucault, auf den Butler sich sehr häufig bezieht, sehr starke Verbindungen zu Kant pflegte und diesen immer wieder kommentiert hat. Es wäre durchaus sinnvoll, dies einmal genauer zu untersuchen.)
Auf diese sittliche Autonomie dürfen sich dann auch wir Heterosexuelle berufen und zu dieser müssen wir uns auch verpflichten.

02.12.2013

Radikale Instabilitäten — die Kategorie der Frau und Männlichkeit

Zumindest heute Nachmittag konnte ich mich mal wieder meiner eigenen Literatur zuwenden, jenseits von der Notwendigkeit, etwas ökonomisch sinnvolles zu tun.

Intertextualität

Zwischendrin, auch um mich immer wieder daran zu erinnern, lese ich natürlich Judith Butler. Die leitende Idee dahinter ist die der Intertextualität. Julia Kristeva schreibt dazu:
"Écrivain autant que "savant", Bakthine [Bachtin, FW] est l'un des premiers à remplacer le découpage statique des textes par un modèle où la structure littéraire n'est pas, mais où elle s'élabore par rapport à une autre structure. Cette dynamisation du structuralisme n'est possible qu'à partir d'une conception selon laquelle le "mot littéraire" n'est pas un point (un sens fixe), mais un croisement de surfaces textuelles, un dialogue de plusieurs écritures: de l'écrivain, du destinataire (ou du personnage), du contexte culturel actuel ou antérieur."
Kristeva, Julia: Le mot, le dialogue et le roman. in: dies.: Semeiotike. Recherches pour une sémanalyse, Édition du Seuil 1969, p. 83.

Feministische Elite

Das fantasmatische Wir des Feminismus

Ich spinne also den Faden von Judith Butler in andere Bücher hinein und wieder zurück. Dabei geht es weniger um die eigentliche Bedeutung, sondern um das Spiel der Doubles.

So fand ich es neulich fast schicksalhaft ironisch, als ich durch Hannah Arendt wieder einmal zu Nietzsches Schrift Schopenhauer als Erzieher kam und von dort aus zu den Aphorismen zur Lebensweisheit von Schopenhauer selbst. Wo ich dann über recht ähnliche Formulierungen zur Sexualehre des Weibes in Bezug auf das fantasmatische Wir des Feminismus bei Judith Butler stieß. Ich berichtete davon: Vom Schreiben und Erzählen.

Radikale Instabilität des feministischen Wirs

Nun: am Freitag schreckte mich kurz nach dem Mittagessen ein Anruf aus meiner Versunkenheit, ich weiß gar nicht mehr in was. Jemand war über meinen Blog gestolpert und die erste Frage war, ob ich denn auch Ahnung von hegemonialer Männlichkeit habe. Was er denn wissen wolle, fragte ich zurück. Nun, er habe Probleme mit der Aussage, hegemoniale Männlichkeit sei stets prekär, instabil und sozial offen. Das nun war der Moment, in dem ich endgültig wach wurde. Ich fühlte mich sofort an eine Aussage von Judith Butler erinnert. Diese schreibt in Das Unbehagen der Geschlechter:
Das feministische »Wir« ist stets nur eine fantasmatische Konstruktion, die zwar bestimmten Zwecken dient, aber zugleich die innere Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit dieses »Wir« verleugnet und sich nur durch die Ausschließung eines Teils der Wählerschaft konstituiert, die sie zugleich zu repräsentieren sucht. Freilich ist der schwache oder fantasmatische Status dieses »Wir« kein Grund zur Verzweiflung — oder besser gesagt: nur ein Grund zur Verzweiflung. Die radikale Instabilität dieser Kategorie stellt die grundlegende Einschränkungen der feministischen politischen Theorie in Frage und eröffnet damit andere Konfigurationen, nicht nur für die Geschlechtsidentitäten und für die Körper, sondern auch für die Politik selbst. (209)

Männliche Kontingenz

Ich habe also pflichtbewusst erstmal darauf gepocht, dass ich jetzt natürlich eine Dienstleistung anbiete, bzw. anbieten kann. Und dass ich natürlich begründete Interessen daran habe, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Da es für mich ein Selbstgänger war, konnte ich sogar einen sehr humanen Preis anbieten. Ich habe dann das entsprechende Zitat von Judith Butler zugeschickt und in einem weiteren Telefonat auseinander gepflückt und mit dem Zitat, das der Kunde vorliegen hatte, parallelisiert.

Sein Zitat lautete dann vollständig folgendermaßen:
»Das Soziale wie auch das Diskursive werden als radikal kontingente Räume begriffen, die allerdings zeitweise über Diskurse und hegemoniale Machtbeziehungen strukturiert werden« … Obwohl Kontingenz das Soziale kennzeichnet, wird dennoch für die Konstitution von Hegemonien ein letzter gemeinsamer Grund behauptet. Auf Männlichkeit übertragen bedeutet dies nicht selten einen Rekurs auf eine vermeintlich ähnliche Natur aller Männer. So wird die universelle Geltung von Normen legitimiert und damit das Einverständnis der Beherrschten gesichert. Hegemoniale Herrschaft — und so Heilmann weiterführend auch hegemoniale Männlichkeit — beruhen auf einem unauflösbaren (logischen) Widerspruch zwischen der Postulierung einer universalen Bezugsebene und einer faktischen Kontingenz von Machtverhältnissen, in denen sich partikulare Interessen aktuell als dominant durchsetzen. Hegemoniale Herrschaft und hegemoniale Männlichkeit sind somit »stets prekär, instabil und sozial offen« …
Scholz, Sylka: Männlichkeitssoziologie, Münster 2012, 24

Extrapolation

Die Kritik, die die Autorin an dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit übt, basiert also auf dem Unterschied zwischen einer idealtypisch gedachten Herrschaft der Männer und einer im Einzelfall realen Machtstellung des Mannes. Genauer gesagt kommt hier, wie die Autorin ausdrücklich sagt, eben jener Paralogismus zum Vorschein, um den ich mich in den letzten Jahren so intensiv gekümmert habe: die Extrapolation.
Gerade in den letzten Jahren wurde deutlich, dass der Mann, aber auch der Vater in Bezug auf das Kind, eine zunehmend schwierigere gesellschaftliche Stellung zugewiesen bekommt, je mehr er sich um das Kind zu kümmern wünscht, dies aber gesellschaftlich unterbunden wird. Der Kunde nannte dann den Titel eines Buches, der Entsorgte Väter lautete und, seinen Angaben nach, recht wissenschaftlich gehalten sei (was man ja manchmal in dieser Väterdebatte vergeblich sucht).

Soziale Evolution, Restabilisierung und Elitebildung

Jedenfalls war die verblüffte Aussage des Kunden dann: dann würde sich der Feminismus gar nicht von der hegemonialen Männlichkeit unterscheiden!
Nun, nicht ganz. Der Feminismus ist natürlich nicht automatisch schon eine Hegemonie. Genauso wenig ist Männlichkeit automatisch hegemonial. Deshalb gibt es ja diese Zusammensetzung, schon auf der verbalen Ebene. Hegemonie ist eben, und das ist das Problem, nicht von Subjekten initiiert, sondern entsteht aus der sozialen Evolution heraus und stabilisiert sich dann über (versuchte) Elitenbildung. Das einzelne Subjekt gerät also in eine Elite hinein und stabilisiert diese dann aus Eigeninteresse, wodurch sich Eliten dann gerne auch mal „nach unten“ abschotten.
Das lässt sich meiner Ansicht nach auch beim Feminismus beobachten. Auch hier haben sich mittlerweile Formen von elitären Bündnissen gebildet, die sich gegenüber anderen Frauen verschließen und zwar mit der gleichen Geste, die von denselben Frauen den Männern vorgeworfen wird. Und auf der anderen Seite lassen sich diese subkulturellen Eliten wieder sehr gerne von Eliten absorbieren, die man, so war neulich ein „verrückter“ Einfall von mir, Super-Eliten nennen könnte: dazu gehört das Bündnissystem innerhalb der Wissenschaft, insbesondere der Sozialwissenschaft, aber auch Wirtschafts-Eliten oder politische Eliten.

Relative Stabilitäten, Exklusion am Rand

So stellt sich die Frage, ob der derzeitige Umbau der Gesellschaft entlang des gender-Diskurses tatsächlich Ungerechtigkeiten abbaut oder nur anders verteilt. Derzeit beobachte ich die ganze Situation eher mit einem gewissen Stirnrunzeln. Vielleicht spielt dabei der Feminismus nur eine sehr geringe Rolle, aber auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft sind wir weißgott nicht. Und wo sich der Feminismus nicht nach unten marginalisiert, so marginalisiert er sich dann nach oben.

Man kann hier, ganz im Sinne von Gabriel Tarde, von »Plateaus« sprechen, die »instabile Gleichgewichtszustände« seien. Und man kann hier eine doppelte Instabilität postulieren. Auf der einen Seite sind solche Plateaus in sich instabil. Und auf der anderen Seite erlangen sie eine relative Stabilität, indem an ihren Rändern beständig instabile Elemente ausgesondert werden. Dies würde die konflikthaften Erscheinungen innerhalb der Gesellschaft erklären, wie man sie ja auch beim Feminismus kennt. Und dies würde auch erklären, warum es trotz der inhaltlichen Unterschiede durchaus Ähnlichkeiten mit dem Kampf um die „christliche“ Familie gibt: Dynamisch, also der schwankenden (De-)Stabilisierung nach, sind sich diese beiden gesellschaftlichen Strömungen durchaus ähnlich.

Feind = Freund; eine Ununterscheidbarkeit

Genauso parallelisiert sich dann auch die mal latente, mal manifeste Frauenfeindlichkeit Schopenhauers zu der angeblichen Frauenfreundlichkeit des Feminismus. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn egal ob es sich um ein Ideal oder ein Anti-Ideal handelt: in Bezug auf die empirische Aussage gerät man schnell in Paralogismen hinein, und derzeit ist es mir noch gar nicht klar, ob es tatsächlich eine solche umsichtige Argumentation gibt, die solche Paralogismen vermeiden kann. Ich habe meine Zweifel.

Wilde Strukturen

Damit kommen wir zu dem Zitat von Julia Kristeva zurück. Auch hier bin ich mir nicht wirklich sicher. Aber man könnte doch die Beziehung zwischen verschiedenen Strukturen in einen produktiven und bedingt auch wilden Prozess setzen. Wie sähe ein solcher Prozess aus? Vom Standpunkt des subjektiven Bewusstseins aus? Derzeit spiele ich wieder, angeregt durch Hannah Arendt, mit der Idee, dass sich anhand von (bestimmten) Tatsachen zahlreiche Erzählfäden kreuzen dürfen und müssen. Dann ist die Tatsache, die so lange in den Vordergrund gerückt wurde, tatsächlich nur noch der Knotenpunkt, an dem sich die Differenz der Erzählungen am deutlichsten zeigt und am ehesten verhandeln lässt.

01.12.2013

Heute fühle ich mich nach …

Selbstbeweihräucherung.

Warum eigentlich?
Ganz nahe liegend: ich habe einen recht langen Tag hinter mir, mit zahlreichen Arbeiten rund um meinen Beruf. Und jetzt, am frühen Morgen des Folgetages auch zwei Gläser Wein intus. Erschwerend kommt hinzu, dass ich seit drei Wochen keinen Alkohol getrunken habe. Man könnte also sagen, dass ich völlig aus der Übung bin.

Etwas objektiver sind allerdings meine Besucherzahlen. Über die ich jetzt eigentlich schreiben wollte: während ich ganz zu Beginn mal den einen oder anderen Besucher im Monat hatte, konnte ich letzten Monat, im November, sogar mal die 5000-Marke an einem Tag sprengen.

Vermutlich sind es diese vielen kleinen Nischenthemen, die ich über die Jahre hinweg angeschnitten habe, die mir diese enorme Aufmerksamkeit ermöglichen. Es ist übrigens eine zwiespältige Aufmerksamkeit.
Fast täglich erreichen mich E-Mails mit Schmähungen. So hat sich eine gewisse Bevölkerungsgruppe darauf festgelegt, ich sei ein Frauenversteher und deshalb natürlich schwul. Deshalb sind auch alle meine Artikel schwul und deshalb schreibe ich auch nur zu schwulen Themen. So jedenfalls der Tenor.
Andere wiederum meinen, es sei intelligent, mir Unkenntnis in der Logik fortzuwerfen. Das ist in doppeltem Sinne ärgerlich: ich bin durchaus bereit, sofern es sich um einen vernünftigen Gesprächspartner handelt, meine Kenntnisse in der Logik als begrenzt zu bezeichnen. Das liegt vor allem daran, dass die Logik sich im 20. Jahrhundert immer stärker an bestimmten ethischen Verpflichtungen orientiert hat und so in einem weiten Bereich die Logik ohne die Ethik gar nicht zu denken ist. Umso ärgerlicher ist es, wenn hier gewisse Menschen mit einer simplem Schlusslehre meinen, mir eine Unkenntnis vorwerfen zu können. Die Schlussregeln von eindeutig wahren und falschen Aussagen sind aber, wie man sich leicht überzeugen kann, nur formale Definitionen, also Definitionen, die sich auf Tatsachen der Form und nicht auf Tatsachen des Inhalts beziehen, die also a priori richtig, aber a posteriori deutlich reduzierend sind.

Insofern schadet mir diese kleine Selbstbeweihräucherung überhaupt nicht. Sie erinnert mich daran, worauf uns Immanuel Kant einmal festgelegt hat: dass wir uns in einem Zeitalter der Aufklärung befinden, aber noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter. Und das man dazu seinen Beitrag leisten sollte, möglichst durch eine und geduldige Prüfung sämtlicher Argumente.

Adventure Game Design

Eine der schöneren Sitzungen aus The future of storytelling war diejenige über Adventure Game Design. Und zumindest ist hier jemand aufgetaucht, den die langjährigen Leser meines Blogs kennen, ich hoffe nicht nur von mir: Roland Barthes.

Nicht ganz so glücklich empfand ich allerdings die Darstellung, die dann geliefert wurde. Sie betraf die integrativen und distributiven Elemente des Erzählens. Diese hatte Roland Barthes in seinem Aufsatz Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen dargelegt. Etwas ausführlicher, allerdings zu einem anderen Zeichenbereich, findet sich diese auch in Die Sprache der Mode.

Integrative Elemente tauchen in der einen Codierung auf, verweisen aber auf eine andere Codierung. Das sind zum Beispiel in Erzählungen ganz typisch Gesten. Diese verweisen auf die Codierung von Personenkonstellationen. Barthes gibt dazu ein treffendes Beispiel: James Bond telefoniert. Aber er telefoniert nicht einfach nur, sondern um dieses eine Telefon, das er benutzt, stehen weitere Telefone. Diese Telefone sind integrative Elemente. Sie verweisen auf James Bond als Stellvertreter einer machtvollen Organisation und damit weiter auf die moralische Codierung dieser Erzählung, die letztendlich auf der Opposition von Gut und Böse beruht.

Distributive Elemente dagegen verweisen auf Elemente der gleichen Codierung. So gehört es zu der grundsätzlichen Logik von Erzählungen, dass Gegenstände, die vorher in einer Erzählung auftauchen, später nochmal eine weitere Bedeutung bekommen. Der Kauf eines Revolvers zu Beginn einer Erzählung, so das Beispiel von Barthes, korreliert mit dem späteren Zeitpunkt, zu dem er benutzt wird.
Besonders häufig fällt einem das in den Büchern von Harry Potter auf. In jedem Buch dieser Reihe streut Rowling zu Beginn Hinweise auf Gegenstände ein, die später wichtig werden. Dies ist im ersten Band zum Beispiel das geheimnisvolle Päckchen, welches Hagrid aus den Verliesen von Gringotts holt. Und wenn man es genau nimmt, zieht dieses Päckchen geradezu korrelative Elemente an, zum Beispiel den Einbruch bei Gringotts am selben Tag, was Harry Potter später in der Zaubererzeitung liest.
Dasselbe geschieht aber auch über ganz weite Distanzen hinweg, zum Beispiel mit dem Motorrad, mit dem Hagrid gleich zu Beginn des Romans den kleinen Harry Potter zu den Dursleys bringt; oder mit den Zauberern, die sich willentlich in ein bestimmtes Tier verwandeln können, wie gleich zu Beginn die Katze, die eigentlich Professor McGonagall ist.

Insofern finde ich die Darstellung in dem Video zu den Adventure Games missverständlich, da sie das dahinterliegende linguistische Prinzip nicht erklärt. Integrative und distributive Elemente tauchen nicht nur in Erzählungen auf. So sind die grammatischen Markierungen innerhalb eines Satzes die integrativen Elemente für die Sätze, während die anaphorischen Elemente innerhalb von Sätzen integrative Elemente für den erzählten Raum und die erzählte Zeit sind. Distributive Elemente wiederum sind zum Beispiel alle Familienverhältnisse, die auf eine bestimmte Codierung der Familie verweisen. Diese Verweise müssen übrigens nicht realisiert werden. So erweist sich die simple Erwähnung eines Mannes in einer Erzählung als korrelativ zu anderen Männern, Frauen und Kindern oder auch Eltern. Dabei ist das Wort Korrelation sehr unspezifisch. Es wird durch eine Erzählung immer konkretisiert.
Werbung arbeitet ebenfalls mit solchen distributiven Elementen. Eine Nudelpackung, zu deren Füßen reife Tomaten, Zwiebeln und Oliven liegen, und im Slogan Sommer, Sonne, Sinnlichkeit verspricht, garniert mit einer italienischen Fahne, verweist auf die Codierung Italien. Und es macht überhaupt nichts, dass diese Codierung höchst mythisch ist. Sie funktioniert in einem gewissen kulturellen Kontext (nämlich in Deutschland) ganz hervorragend. Der Kitt dieser Codierung ist mit Sicherheit nicht auf langjährige Erfahrungen gegründet, sondern auf kurzfristige Urlaubsreisen.

Wenn man sich das Video anschaut, könnte man allerdings meinen, dass es Gegenstände sind, die auf Handlungen in anderen Szenen eines Abenteuer-Spiels verweisen. So findet der Avatar an einem Ort einen Apfel und an einem anderen Ort benutzt er ihn, zum Beispiel, um ein wildes Pferd zu zähmen, was für den weiteren Verlauf des Spiels wichtig ist. Korrelieren tut hier allerdings nicht der Apfel mit dem Zähmen, sondern der Apfel mit dem Pferd und das Finden mit dem Zähmen.
Und hier stoßen wir auf eine Schwierigkeit, zu der ich weder in der Literatur eine Lösung gefunden habe, noch selbst auf eine gekommen bin. Denn offensichtlich nutzt die Geschichte hier zwei Korrelationen aus zwei unterschiedlichen Codes, um diese zu integrieren. Etwas schlichter gesprochen: Sie stellt eine Analogie her, nämlich die Analogie zwischen Apfel-Pferd und finden-zähmen.

Nun wäre dieses Beispiel leicht hinzunehmen, wenn es sich nur auf solche Codierungen beschränkt, die alltäglich nachvollziehbar sind. Viel schwieriger wird es bei Codierungen, die sich auf deutliche Systemwechsel beziehen, wie zum Beispiel die Handlungsfolgen eines Romans und der Eindruck von Spannung bei dem Leser. Nicht nur, dass es äußerst gewaltsam erscheint, wenn solche Spannungselemente herausgefiltert werden (und zwar als die psychologische Seite der Spannung, nicht die Elemente einer bestimmten Schreibtechnik); es ist schon gar nicht klar, welche Codierung hier integriert und welche integriert wird. Und dann wird es schon fast dekonstruktivistisch: offensichtlich besteht hier am Ursprung der Spannungserzeugung ein anthropologisches Paradox.

Anthropologisches Paradox? Das verlangt nach einer Erklärung. Nun, ein anthropologisches Paradox ist zum Beispiel, dass die Souveränität des Menschen seiner Gemeinschaftlichkeit entgegensteht. Das ist eine Sache, die man an Hannah Arendt wirklich kritisieren muss. Nämlich, dass sie diese grundlegenden Paradoxien nicht gut herausgearbeitet. Und insofern ist der Ansatz, den Judith Butler vertritt, und der tatsächlich eine gewisse Nähe zu Hannah Arendt aufweist, deutlich interessanter, weil er deutlich ehrlicher ist. Politik ist, so mag man das schlagwortartig sagen, in einer Gesellschaft von Einzelwesen schwierig.
Es gibt auch andere anthropologische Paradoxien. Wer hier meisterhaft darauf hinweist, ist Niklas Luhmann. Der andere Mensch muss mir mit seinen Gedanken unzugänglich sein, damit er mir zugänglich wird. Zugänglich worüber? Über Kommunikation. Dass diese Zugänglichkeit über Kommunikation wieder neue Paradoxien schafft, liegt wohl in der Natur von dynamischen und autopoietischen Systemen. So jedenfalls kann man Luhmann lesen.

Auch die Paradoxie zwischen Handlungsstruktur und Spannungsempfinden scheint eine Paradoxie aufzuheben, nämlich die zwischen der Leere des Signifikanten und dem Lesen des vollen Sinns.
Vielleicht versteht der eine oder andere Leser, warum mir diese Ausformulierung so viel Mühe macht. Schließlich geht es darum, zwei Paradoxien zu würdigen (wenn es denn diese überhaupt sind) und sie zugleich in ein sich gegenseitig reduzierendes Verhältnis zu setzen.

30.11.2013

Workflow, so lautet das Zauberwort

Seit Tagen wollte ich mal wieder in meinen so beliebten japanischen Restaurant essen. Ich schaffe es zeitlich überhaupt nicht. Tatsächlich bin ich vor etwa einer Dreiviertelstunde etwas überhastet von meinem Schreibtisch aufgestanden, um mich zumindest für morgen noch mit Lebensmitteln einzudecken.

Manchmal bin ich daran aber auch selbst schuld.
So habe ich gestern vom frühen Nachmittag an bis spät in die Nacht für die Lehrvideos neue workflows ausprobiert, zudem neue Techniken der Gestaltung.
Ich hatte ja schon mal gestanden, dass diese Videos aus einer Laune heraus entstanden sind, einer Laune, die mich hinterher einige Nerven gekostet hat. Seit über zwei Monaten bin ich mit dem Skript fertig. Und ich hatte gedacht, ich könnte aus den Lehrprogrammen, die ich im September und Oktober erstellt habe, mit der gleichen Technik rasch auch Videos erstellen. Es war eindeutig falsch gedacht. Das Skript ist gut. Die Videos selbst gefallen mir überhaupt nicht.
Zumindest heute Morgen konnte ich aber das erste Video soweit neu gestalten, dass ich mich sogar wieder mal ein wenig stolz gefühlt habe. Von der Qualität her ist es trotzdem weit von den größeren YouTube-Video-Produzenten entfernt. Auch das habe ich in den letzten Tagen ein wenig gepflegt: mir solche Videos gründlicher anzuschauen.
Und zumindest eines habe ich festgestellt: diese sind von der visuellen Erzähltechnik ganz anders als meine Videos. Ich bin immer noch sehr stark am sprachlichen Erzählen orientiert. Nun: das ist eine reizvolle Aufgabe. Und eine, die ich bisher nur am Rande bearbeitet habe.

Doch seien wir mal ehrlich: jammere ich nicht schon das ganze Jahr über herum, dass ich zu wenig Zeit habe? Für Hannah Arendt, für Immanuel Kant, für Christa Wolf? Und jetzt noch ein neues Projekt? Vielleicht sollte man für solche Fälle einen gefühlten Jammerpegel einführen.

Nun, ich darf nicht zu viel erwarten (ihr auch nicht): diese YouTube-Produktionen werden von einem ganzen professionellen Team begleitet. Das kann ich zurzeit natürlich nicht aufbieten. Und manche von ihnen werden ja sogar fast ausschließlich von staatlicher Seite aus finanziert. Dazu gehören einige recht seltsame Lehrvideos, die vor allem grafisch schick sind, inhaltlich aber durchaus zwiespältig sind.

Workflow also. Was mich mal interessieren würde, ist, wie andere Video-Produzenten die ganzen Elemente organisieren. Über den Daumen gepeilt habe ich pro Video etwa 200 Elemente einzubinden. Und es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich für mich eine gute Ordnung gefunden habe, die sowohl Unterordner als auch Dateibezeichnungen betrifft.
Solange ich aber all die Möglichkeiten nicht ausprobiert und abgeschätzt habe, wird das wohl auch noch im Fluss sein. Es ist also eine ganze Menge zu tun.

28.11.2013

Lärmende Rabauken

Im Sommer hatte ich die Idee, kleine Notizen aus dem Alltag leicht sprachlich ausgefeilt und unter einer eigenen Rubrik auf meinem Blog zu veröffentlichen. Sie sollte "ins Panorama aufsteigen" heißen, nach einer Phrase aus Benjamins Passagen.

Ich habe es nicht gemacht. Manchmal bedauere ich es.

Die Idee kam mir durch diese drei kleinen Ereignisse:
Es war ein schöner, sonniger Morgen im Julei, in aller Herrgottsfrühe. Ich war bereits wach und hatte die Balkontür offen, als mich von draußen ein sehr deutliches Klopfen neugierig machte. Als ich ins Freie ging, erblickte ich auf der Kiefer vor meiner Wohnung einen Kleinspecht. Dieser war eifrig dabei, aus der Rinde irgendwelche Insekten herauszuholen.
Kleinspechte unterscheiden sich in der Färbung des Gefieders nicht von Buntspechten, sind aber eben, wie der Name das schon sagt, deutlich kleiner, etwas größer als die Blaumeise. Zudem sind sie äußerst selten.
Drei Stunden später stand ich zufälligerweise wiederum auf dem Balkon, als sich auf einem Zweig derselben Kiefer eine Schwanzmeise niederließ. Auch Schwanzmeisen sind selten, obwohl im nordischen Raum wesentlich häufiger, als in Hessen, wo ich aufgewachsen bin.
Sie treten in größeren Scharen auf, als die Rabauken unter den Singvögeln. Sie sind nämlich nicht, wie man dies öfter in der Literatur findet, scheu, sondern ganz schön zudringlich. Und so war es auch diesmal. Ich lehnte auf der Brüstung meines Balkons, die Schwanzmeise tschilpte und schon kamen weitere Schwanzmeisen herbei, ein ganzer Schwarm. Es müssen um die 50 gewesen sein. Sie ließen sich ganz ungeniert auch auf meinem Balkon nieder und kamen recht nahe. Einige schienen sich sogar für meine Hände zu interessieren, was selbst die Spatzen aus der Umgegend sich nicht trauen.
Trotzdem sind sie dann relativ rasch weitergezogen und seitdem habe ich sie auch nicht mehr gesehen.

Das waren die beiden Vogel-Ereignisse an diesem Morgen. Dazwischen ließ sich der Nachbar von gegenüber mit dem grandiosen Satz hören: „Jesus ist aus Plastik.“

Jener besagte Nachbar hat letzte Woche zum letzten Mal für Lärm gesorgt. Da war nämlich die Feuerwehr da und hat seine Jalousien hochgestemmt. Später erzählte mir ein etwas neugierigerer Nachbar, man habe ihn, der seit Jahren durch sein Geschrei die Nachbarschaft nervt, tot aufgefunden und auch schon — das war natürlich besonders „interessant“ — halb verwest.

Besonders schlimm waren immer die Fußball-Endspiele. Dann hat er mit einer dermaßen lauten Stimme und meist stockbesoffen bis weit nach Mitternacht herumgeschrien.
Einmal hat er irgendwelche Jungs, die gegenüber der Straße auf einem Balkon gefeiert haben, als asoziale Schwuchteln und Ausländer beschimpft, worauf hin diese Jungs runtergekommen sind und ihn wohl in die Mangel genommen haben. Die Beschimpfung habe ich gesehen (sie war auch nicht zu überhören), das darauf folgende wurde durch ein dazwischenliegendes Haus verborgen.
Ganz so toll fand ich die Aktion nicht. Denn auch wenn dieser Mensch extrem rassistisch war, so doch insgesamt viel zu harmlos, um auch nur irgendwie in einer organisierten Gruppe mitwirken zu können. Er hat einfach das weitergegeben, was sein kaputter Verstand ihm noch erlaubt hat zu denken. Unangenehm, aber harmlos. Auch seine Homophobie war ja aus seiner ganzen Fremdheit gegenüber dem umliegenden Leben erklärbar. Das war mehr bloßes Geschrei als eine tatsächliche Bedrohung.
Andere Menschen sind da wesentlich gefährlicher.

Nachrichten aus der Zwischenwelt

Ein wütender Rezensent schreibt bei Amazon zum neusten Buch von Boris Becker: ein weiterer unfruchtbarer Erguss eines ehemaligen deutschen Helden.

Mario Barth, dessen Humor nicht unserer ist, fordert die Deutschen dazu auf Weltrekordler zu werden. Ich bin auf dem besten Weg. Ich halte den Weltrekord im Mario-Barth-Ignorieren für erreichbar. 43 Jahre habe ich es bereits ausgehalten.

Jahrestage III

„Sie [die New York Times] zitiert einen hohen Beamten der Verkehrsbehörde, der sich darüber freut dass in manchen Zügen nun nur noch 105 bis 110 Leute je Wagen zur Arbeit fahren, statt wie früher 180 bis 212. Deswegen zitiert sie ihn nicht allein. Er hat auch den Begriff eines »Komfortpegels bei 180« Fahrgästen eingeführt. Was mag das sein? Ein »Komfortpegel« in der U-Bahn ist gegeben, »wenn ein Mann im Stehen die New York Times lesen kann«: berichtet die New York Times.“
Johnson, Uwe: Jahrestage I, Frankfurt am Main 1993, Seite 379 f.

17.11.2013

Vom Schreiben und Erzählen (Nachrichten aus der Zwischenwelt)

Ich sitze an meinem Video-Kurs. Und was ich so eben nebenher noch an Zeit habe, wird durch diesen aufgefressen.

Den online-Kurs The future of Storytelling finde ich insgesamt recht fade. Bisher war nichts dabei, was man nicht in den ersten zwei Semestern eines Germanistik-Studiums gelernt haben könnte. Gut, ich habe mir über andere Medien als Film und schriftliche Erzählung bisher nicht allzu viel Gedanken gemacht und insofern empfinde ich die Anregung, sich mit anderen Erzählweisen auseinander zusetzen, schon ganz fruchtbar. Insbesondere Computerspiele und Mini-Serien hatte ich bisher noch gar nicht betrachtet.

Da ich aber gerade selbst einen ähnlichen Kurs entwerfe, wenn auch wesentlich spezifischer für die schriftliche Erzählung, kann mich der Kursaufbau insgesamt nicht wirklich überzeugen. Wenn es einen großen Fehler an diesem ganzen Kurs gibt, zumindest so, wie er bisher veröffentlicht worden ist, dann ist das der didaktische Aufbau. Mir sind die Lernziele zu oberflächlich. Häufig geht es lediglich um ein ›Identifizieren‹, nicht um eine wirkliche Auseinandersetzung damit. Es fehlen zum Beispiel Aufgaben. Es gab jetzt zwar zweimal eine Aufgabe am Ende einer Einheit, aber beide waren sehr unpräzise. Und teilweise sieht man das an den Ergebnissen. Die Aufgabe vom letzten Freitag hat vor allem dazu geführt, dass sich Professionelle mit Werbefilmen vorgestellt haben und nicht, wie das wohl eigentlich intendiert war, mit weiteren Vorschlägen für Anregungen zum Storytelling. —
Schade!

Für meinen Kurs habe ich mir einen wesentlich durchgängigeren didaktischen Aufbau überlegt. Das birgt natürlich die Gefahr, dass man zu Gunsten des roten Fadens viele Sachen auf die Seite schieben muss.
Das habe ich gerade heute erfahren müssen. Die ersten zehn Videos liegen jetzt fertig auf meiner Festplatte und müssen nur noch hochgeladen werden. Die nächsten zehn Videos warten auf ihre Fertigstellung. Von dreien habe ich jetzt die Tonspur vollständig. Die letzte Handlung ist die Synchronisation von Filmen und Tonspur, was aber kein großer Aufwand mehr ist. Und weitere sieben werde ich wohl noch heute Abend und Morgen soweit fertig haben, dass ich die Synchronisation ebenfalls vornehmen kann.
Trotzdem: mein Video 23 hat mich recht lange beschäftigt. Ich bin damit unzufrieden, gerade weil ich hier ein Thema anschneide, dass ich nicht weiter behandeln konnte. Ich hatte mir zwar im Vorfeld schon überlegt, dass ich dazu dann noch mal einen weiteren Kurs plane. Aber so ganz ohne dieses Thema komme ich auch nicht aus. Es handelt sich um eines jener Themen, zu denen ich auf meinem Blog in den letzten Jahren immer mal wieder kleine zwischen Betrachtungen veröffentlicht habe: die Verrätselung. Im letzten Jahr habe ich dazu zwar deutlich mehr Klarheit gewonnen, aber zu einer guten Vermittlung, die sozusagen alle Formen des narrativen Rätsels, also des Rätsels in Geschichten, darstellen könnte und dann auch beibringt, bin ich noch nicht gekommen. Und leider ist es mit diesem Thema so, dass ich immer, wenn ich das Gefühl habe, jetzt das Ganze gut begrifflich erfasst zu haben, so dass ich mich an eine endgültige Didaktisierung machen könnte, ich doch wieder ein ganzes Stück weit die Sachen umschmeißen muss. Zumindest was die Herstellung von solchen Rätsel angeht.
Andererseits habe ich auch einige ganz großartige Einheiten. Zumindest unter den ersten zehn sogar eine, mit der ich restlos zufrieden bin, was mir eigentlich nie passiert. Und zumindest bei vier anderen bin ich mir sehr sicher, dass diese ebenfalls wirklich gut werden.
Da ich mich eigentlich noch mit dieser Art der Darstellung in den Kinderschuhen befinde, sowohl was die Technik, als auch die Planung anbelangt, kann ich sogar ganz stolz auf mich sein.

Zwei Seiten habe ich gefunden, die ich eigentlich ganz wunderbar finde. Auch hier fehlt wieder die Didaktik. Beide sind auf Englisch und ich überlege mir gerade, ob ich die eine Seite nicht ins Deutsche übersetzte und als eine Art "give-away" verteile.
Die eine Seite nennt sich ›Periodic Table of Storytelling‹. Die finde ich ja klasse; man muss bloß wissen, wie man sich dazu Aufgaben stellt.
Die andere Seite heißt ›tv-tropes‹. Sie behandelt typische Erzählmuster in  Fernsehserien; wobei hier sehr deutlich auch andere Verbreitungsmedien mit angesprochen werden.

Zum Lesen komme ich fast gar nicht. Vor einigen Tagen habe ich mir mal wieder Nietzsches Schopenhauer als Erzieher vorgenommen, von Schopenhauer selbst aus den Aphorismen zur Lebensweisheit den Abschnitt über die Sexualehre und von Judith Butler das letzte Kapitel aus Das Unbehagen der Geschlechter, sowie das Foucault-Kapitel aus Psyche der Macht. Zentraler Anlass war die Resonanz zwischen dem phantasmatischen Wir des Feminismus und der von Schopenhauer postulierten Sexualehre der Weiber. Zum einen ist es witzig, dass eine der Protagonistinnen des modernen Feminismus Parallelen zu einem als Frauenfeind verschrieenen Philosophen aufweist, zum anderen aber ging es mir um Strategien, wie dieses fantasmatische Wir „produziert“ wird. Ich bin noch zu keinem (Zwischen-)Ergebnis gekommen.
Dabei habe ich gerade rund um den Wahlkampf zur Bundestagswahl recht viele Notizen zu diesem fantasmatischen Wir verfasst; klar, bei Sprüchen wie ›Das Wir entscheidet‹ und ›Wir sind Deutschland‹.

07.11.2013

Gratwanderungen: Kunst, Recht und Pornographie

Wenn ich nicht gerade für andere Menschen schreibe, schreibe ich natürlich für mich. Lang gepflegtes Projekt: Judith Butler. Und nebenher sammeln sich Fundstücke, wie zum Beispiel das Urteil der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zu dem Comic ›Bullenklöten‹ von Ralf König. Nachzulesen ist das ganze auf der Website von Männerschwarm.

Ich möchte zwei Zitate aus dieser Schrift hervorheben:
(1) „Die Pornographie gilt nach dem Willen des Gesetzgebers als offensichtlich schwer jugendgefährdend.“
(2) „Ein Tatbestandsmerkmal der Pornographie ist, dass das Medium unter Hintansetzen aller sonstigen menschlichen Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher Weise in den Vordergrund rückt und seine objektive Gesamttendenz ausschließlich, oder überwiegend auf Aufreizung des Sexualtriebe abzielt.“
Zu (1):
Dies erstaunt mich immer wieder, welche Vorstellung die Menschen vom Recht haben. Natürlich nicht alle, aber doch auffällig viele. Recht wird gerne mal mit der Wahrheit verwechselt, dabei hat beides nur relativ wenig miteinander zu tun. In der Rechtsprechung sind natürlich wissenschaftliche Ergebnisse enthalten, wie zum Beispiel das Wissen, dass Pornographie die Entwicklung einer Identität bei Jugendlichen empfindlich stören kann bis hin zu schweren Traumatisierungen. Das Recht allerdings zielt nicht auf Wahrheit ab, sondern auf die Strukturierung von Konflikten, die nicht mehr in der Interaktion gelöst werden können.
Das Recht ist positivistisch, muss sogar positivistisch sein, da es Fakten schafft und über diese Fakten an der Gesamtordnung einer Gesellschaft teil hat. So zielt Recht letzten Endes auf Interaktion und die Ordnung der Interaktion. Man ermutigt es dazu, den Rechtsweg zu beschreiten und mal entmutigt es zu diesem Weg.
Als jugendgefährdend können deshalb solche Schriften gelten, die die Entwicklung einer Identität behindern, deutlich abgrenzen oder sogar verhindern. Und offensichtlich sieht der Gesetzgeber einen Zusammenhang zwischen der monotonen und eindimensionalen Darstellung von Identitäten in pornographischen Schriften und Filmen und deren Auswirkung auf eine reduzierte oder verkrüppelte Identitätsbildung bei Jugendlichen.
In den entsprechenden Gesetzen sind die wissenschaftlichen Ergebnisse aufgehoben. Allerdings ist dieses Verhältnis kein einfaches, da die meisten wissenschaftlichen Ergebnisse aus diesem Gebiet eine statistische Streubreite aufweisen, also keinen scharfen Schnitt vorsehen, bis wohin es noch erlaubt und ab wann es gefährdend ist. Insofern haben die reinen Gesetze ein deutliches Spannungsverhältnis zum empirischen Einzelfall.
(Dazu sind einige Artikel aus Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main, 1999, sehr aufschlussreich: es handelt sich um Kapitel 3: Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen, Kapitel 4: Die Funktion des Rechts: Erwartungssicherung oder Verhaltenssteuerung?, Kapitel 5: Konflikt und Recht und Kapitel 11: Funktionale Methode und juristische Entscheidung.)

Von der Rhetorik gesehen ist das Wörtchen ›offensichtlich‹ zumindest befremdlich: denn so offensichtlich ist die Gefährdung von Jugendlichen durch Pornographie keineswegs. Kinder und Jugendliche können aus allen möglichen Gründen situativ verstört sein, auch über längere Zeiten hinweg. Typischerweise gehören dazu die Trennung der Eltern; diese verbietet der Gesetzgeber nicht.
Das Gremium unterstreicht hier die Grundlage des Gesetzes, ein empirisches und statistisches Ergebnis, als eines, das in der Wirklichkeit wahrgenommen werden soll. Hier schleicht sich eine typische positivistische Flause ein: dass eine Norm sich immer auf einen sichtbaren Tatbestand bezieht (und nicht auf eine Struktur).

Zu (2):
Was mich an dieser Stelle persönlich berührt, ist die Gleichsetzung der Pornographie mit allen anderen Methoden, eine Identität zu reduzieren und auszumerzen. Dadurch ergeben sich Bezüge zum Mobbing oder auch zur Arroganz. Mit diesen beiden Aspekten hatte ich in den letzten 15 Jahren leider recht viel zu tun: das kommt davon, wenn man Menschen in sein Leben lässt, die eigentlich schon von ihren Voraussetzungen nicht für eine differenzierte Wahrnehmung geeignet sind.
Als ich vor einigen Tagen zu dem Ursprungsort kriminologischer Untersuchungen geschrieben habe, hatte ich ungefähr folgendes im Blick: dass sich die Differenz zwischen Handlungen und Erleben, zwischen Aktion und Passion, nicht wegerklären lässt. Sie kann erklärt werden, sie muss sogar erklärt werden. Die Frage ist nur: von wem? Ich hatte weiter vorgeschlagen, hier den Ursprungsort von einer Kriminalisierung anzusetzen: nämlich Bezugssysteme zu suchen, die sich durch ihre Interpretationsmacht dieser Differenz bemächtigen und sie dingfest machen. Dingfest heißt vor allem: sie jeder anderen Deutung zu entziehen. Das lässt sich zum Beispiel durch Überdramatisierung erreichen, eine bestimmte Form der Hyperbel, also der Übertreibung.

Das Befremdliche an dieser ganzen Geschichte ist nun, dass Judith Butler in einer sehr aufschlussreichen Passage Pornographie und Hyperbel zusammengebracht hat und als eine mögliche Auflösung dieses Spannungsverhältnisses die Resignifikation vorgeschlagen hat. Resignifikation, das bedeutet, vereinfacht gesagt, Umdeutung.
Hier ergeben sich wichtige Verbindungslinien zu dem Spätwerk von Hannah Arendt, aber auch zu ihren wesentlich früheren Schriften zur Tradition und zum Traditionsbruch.
Ein anderes Problem stellen die formalen Logiken dar. Eine formale Logik reduziert die Objekte, mit denen sie umgeht, auf wenige Merkmale. Dadurch ergibt sich automatisch eine Art Übertreibung der noch übrig gebliebenen Merkmale. Dies alles gehört zum Tatbestand der Extrapolation. Extrapolation: die ungebührliche Hervorhebung von Merkmalen. Wenn man sich die Debatte um Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab erinnert, dann lässt sich die Struktur dieser Debatte weitestgehend auf die Feststellung reduzieren, dass hier ein Kampf um die „richtige“ Übertreibung stattgefunden hat, nicht aber um die Bedingungen dieser Übertreibung.
Wenn man nun die Pornographie als ein rein vom Subjekt getragenes Merkmal ansieht, geraten einem diese gesellschaftlichen Strukturen aus dem Blick, unter denen Pornographie entsteht, unter denen allerdings auch die Rechtsverletzung durch Pornographie entsteht. Hier ist es fast zynisch, dass derselbe Gesetzgeber, der die Deformation von Identitäten durch Pornographie unter Strafe stellt, ähnliche Deformationen der Identität durch Lohnarbeit nicht nur begünstigt, sondern zum Teil sogar gewaltsam durchsetzt. Diese Unsicherheit, die hier vom positivistischen Recht anscheinend aus der Welt geschafft wird, ist natürlich eine Unsicherheit, die sich immer dann einfindet, wenn die Frage nach der Zukunft gestellt wird. Beispielhaft ist dafür der Begriff des Kindeswohls. Das Kindeswohl bedeutet ja nicht nur einen momentanen Zustand, sondern auch die Zukunft einer unbeschädigten Identität. Im Kind wird also nicht nur das Kind in seinem derzeitigen Verhalten gesehen, sondern auch schon der Erwachsene. Dieser Vorgriff in die Zukunft wird allerdings im Einzelfall durch keine Statistik getragen.
Der Vorgriff auf die Zukunft ist eine ganz andere paralogischer Figur: die der bijektiven Applikation. Damit werden alle Argumentationen bezeichnet, bei denen vorher schon fest steht, was hinterher herauskommt. Das Rechtssystem muss natürlich mit solchen paralogischen Figuren arbeiten, um Sicherheit bieten zu können. Was im Einzelfall tatsächlich nicht mehr Recht ist, muss im Allgemeinen genügend Spielraum bieten, um Freiheiten in der Planung zu gewährleisten, gleichzeitig aber eben auch Sicherheiten in der Planung. Nichtsdestotrotz sind solche Begriffe wie Pornographie oder Kindeswohl keine logischen Begriffe und schon gar keine formal-logischen.
Wie aber könnte man den Status solcher Begriffe fassen? Ich denke, dass man dies zumindest auf folgendem Weg besser in den Griff kriegt. Es sind zunächst ins Allgemeine übertragene Erfahrungen, d.h. Generalisierungen. Dann sind es durch wissenschaftliche Ergebnisse gestützte Erfahrungen. Und schließlich sind es Erfahrungen, die danach begrenzt werden, was einem Subjekt noch zumutbar ist und was nicht mehr. Dass dadurch manchmal (oder, wie man durchaus befürchten darf, häufig) nicht nur die Freiheit eingeschränkt wird oder Bedingungen der Freiheit (zum Beispiel Solidarität) ungleichmäßig verteilt werden, sondern auch die ausgeschlossene Seite, die Seite des Unrechts stärker und machtvoller dargestellt wird, als sie in Wirklichkeit ist, das sind wohl die Probleme, die ein positivistisches Recht mit sich bringt. Zu erinnern ist zum Beispiel an die Angst vor der Unabhängigkeit der Frau oder an die Angst vor homosexuellen Menschen, die lange Zeit dazu geführt hat, dass diese an sich im Menschenrecht verankerten Freiheiten gesetzlich ausgeschlossen wurden. Frauen durften, soweit ich mich erinnere, ohne die Erlaubnis des Mannes nicht arbeiten; aufgehoben wurde dieses Recht 1953. Und die Abschaffung des § 175 erfolgte sukzessive 1973 bis zur vollständigen rechtlichen Gleichstellung heterosexueller und homosexueller Taten und Straftaten im Jahr 1994.
Hören wir zum Schluss noch einmal Judith Butler zu, zu dem Verhältnis zwischen Pornographie, Macht und Subjekt und der Interpretation dieser Konstellation:
Es hat daher wenig Sinn, sich das Visuelle Feld der Pornographie als Subjekt vorzustellen, das spricht und durch sein Sprechen hervorbringt, was es benennt. Seine Autorität ist deutlich weniger göttlich; seine Macht weniger wirksam. Es hat nur dann Sinn, sich den pornographischen Text als rechtsverletzendes Handeln eines Subjekts vorzustellen, wenn man ein Subjekt sucht, dem die Handlung zugeschrieben und das rechtlich verfolgt werden kann. Andernfalls ist unsere Aufgabe schwieriger, denn was Pornographie liefert, ist, was sie aus dem Fundus kompensatorische Geschlechternormen rezitiert und übertreibt, ein Text aus ebenso beharrlichen wie falschen imaginären Beziehungen, die nicht dadurch verschwinden, dass dieser Text abgeschafft wird, ein Text, der einer unnachgiebigen feministischen Kritik noch zu lesen bleibt.
Wichtig ist vor allen Dingen, welche Schlussfolgerungen für die Praxis Butler bereithält. Sie schreibt gleich im Anschluss an das letzte Zitat:
Wenn man solche Texte gegen den Strich liest, räumt man damit ein, dass die Performativität des Textes keiner souveränen Kontrolle untersteht. Im Gegenteil, wenn ein Text einmal handelt, kann er wieder handeln und das vielleicht genau gegen die frühere Handlung. Resignifizierung wird so zu einer Möglichkeit, Performativität und Politik neu zu lesen.
Butler, Judith: Flammende Taten, verletzendes Sprechen. in: Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006, Seite 112 f.
Kunst fungiert an dieser Stelle (dem Urteil zu Ralf Königs Comic ›Bullenklöten‹) als Scheide, die der Pornographie die Wirkung ihrer Übertreibung nimmt, auch sofern denn sexuelle Handlungen vulgär oder sogar drastisch dargestellt werden (wie das Gremium zu diesem Werk konstatiert).

Ein Problem bleibt an dieser Stelle offen: das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen und rechtlichen Begriffen, mitsamt der Rolle(n), die die Statistik dabei spielt, also eine zum Teil auf formale Logik aufbauende Berechnung (=Erzeugung?) von Tatsachen.

04.11.2013

Mein Videokurs

Vor acht Wochen hatte ich einen recht großen Auftrag und dazu ein Programm bekommen, um ein Skript in einen interaktiven Lernkurs umzuwandeln. Hier kam mir dann die Idee, einen eigenen Kurs zu programmieren, eine Idee, die ich schon mal vor zwei Jahren angedacht hatte.
Mittlerweile bin ich vier Wochen in Verzug damit. Zum einen hatte ich recht viel zu tun. Zum anderen fehlt mir die entsprechende Plattform, um interaktive Videos plus Material aufzuspielen. Was ich aber ganz interessant finde, ist die Möglichkeit, all das auf YouTube zu veröffentlichen. Ich muss zugeben, dass ich damit dann aber Probleme hatte, vor allem Probleme, mein Thema in winzige Häppchen einzuteilen. Mehr als 15 Minuten sind bei YouTube erstmal nicht erlaubt.

Trotzdem bin ich jetzt fast fertig mit der Planung und der Vorbereitung des Materials. Eigentlich fehlt jetzt nur noch die Arbeitsphase, in der ich all diese einzelnen Teile zusammensetze, so dass jeweils ein eigenes Video entsteht.

Thema des Kurses ist ›Plotstrukturen‹. Das Thema bildet das Fundament für handlungsorientierte Romane, also im Großen und Ganzen das, was man als Spannungsliteratur bezeichnet, wenn man arrogant ist auch als triviale Literatur.
Andererseits macht es auch Spaß, trotz einiger Mühen. Ich habe seit Jahren nicht mehr so viele Plots entworfen, wie in den letzten acht Wochen. Ich habe ganz viele Personenkonfigurationen skizziert, mir Szenen ausgedacht, Ereignisse und Handlungsabfolgen ineinander verschränkt und nochmal so alles überprüft, was ich mir in den letzten 15 Jahren erarbeitet habe.

Besonders viel Spaß hat mir dabei eine Kurssitzung gemacht, die sich um so genannte screwball-Komödien dreht. Das sind Komödien mit recht verrückten Personen als Protagonisten. Meist spielen Verwechslungen und Täuschungen eine wichtige Rolle darin. Ganz wunderbar ist zum Beispiel die Komödie ›Is' was, Doc?‹ mit Barbra Streisand; herrlich aber auch ›Zwei mal zwei‹ mit Bette Midler.

Nebenher mache ich einen Kurs an der Universität Potsdam, der sich ›The future of storytelling‹ nennt, ein durchaus zweideutiger Titel. Wenn die Vermittlung von Erzähltechniken so weiterläuft wie bisher, wird mir dieser Kurs wenig nützen. Inhaltlich dürfte er sogar unter dem Niveau der Vorlesung für Erstsemester in Erzähltheorien bleiben.
Wenn das also the future ist, dann ist die Zukunft sehr einfach gestrickt.

Zudem ist der Kurs pädagogisch nicht wirklich gut aufbereitet. Für meinen Kurs habe ich ein sehr enges Raster zwischen Beispielen aus der Spannungsliteratur oder selbsterfundenen Plots, Begriffsvermittlung und Aufgaben entworfen. Was ich nicht leisten kann, ist diese technisch perfekte Aufmachung, dafür aber eine Kursstruktur, die den meisten Menschen mehr Hilfe bieten kann.

31.10.2013

Jahrestage II

Im Standesamt war Fritz Schenk aufgestanden beim Überreichen der Geburtsurkunden und hatte Cresspahl mit Handschlag beglückwünscht zu den herrlichen Zeiten, in die er ein Kind gesetzt habe, Fritz Schenk der Kaninchenforscher, dem seine Mutter nicht gesagt hatte, wie die Kinder in die Welt kommen.
Johnson, Uwe: Jahrestage, 31. Oktober, 1967, Dienstag (Seite 244)
Ist das nicht herrlich?

30.10.2013

Jahrestage I

In der späten Nacht, das halb hochgezogene Fenster.
Johnson, Uwe: Jahrestage, 30. Oktober, 1967, Montag (Seite 242)
Hans Hütt, so hat er mir geschrieben, liebe Johnsons "Pathos der Nüchternheit".
Dass ich begeistert bin, hatte ich schon gestanden. Der Eintrag zum 30. Oktober 1967 ist ganz wunderbar, schmerzhaft schön, weil die Sätze so herrlich ineinander greifen (man mag garnicht einen einzelnen Satz als besonders herausheben), und weil dieses Grundthema, die Mechanisierung der Welt, den Text zu diesem Tag bestimmen, vom Krieg in Viet Nam bis zum Fahrkartenautomaten und von dort wieder zurück zum Krieg.
Mittendrin eben jener Satz, den ich oben zitiert habe.

Es ist mir ein Rätsel, warum die Selbstverleger so penibel auf grammatisch korrekt geschriebene Sätze achten. Dabei kann man mit Sätzen so wundervoll viel ausdrücken, wenn man nicht die Regeln, sondern die Satzmelodie oder einen ideellen Aspekt in den Vordergrund stellt.
Auch so etwas können Sätze ausdrücken. Insofern man sie lässt.

Und ich? Ich habe viel zu tun. Und schreibe nebenher an meinem ersten eigenen Videokurs weiter. Ich bin gespannt. Mein erster Auftrags-Kurs ist sehr viel einfacher gewesen. Zumindest bin ich jetzt mit dem genauen Skript fertig und habe die Einstellungen zur Hälfte entworfen.

29.10.2013

Lea bringt es auf den Punkt

Twitter ist wie eine Bierkiste, auf die man mal kurz draufsteigt, um was in die Kneipe zu brüllen.
twittert Lea.
Danke!

Lea liest, zum Beispiel im Bänsch am 1. November ab 20.00 Uhr. Weitere Termine findet ihr hier: Lea Streisand aktuell.
Und Lea schreibt: Berlin ist eine Dorfkneipe.

Wer zu all den armen Würstchen zählt, die nicht in Berlin wohnen: Lea hat auch ein Herz für unbedeutende Minderheiten und sich ein bisschen in eine käufliche Dose gesteckt (CD-Spieler bitte in Berlin im Gesundbrunnen oder am Alex erwerben): Wahnsinn in Gesellschaft.

Supergrundrecht

Ach ja, der Postillon. Es gibt doch nichts schöneres, als politische Satire; wenn einem das Entsetzen anfängt, langweilig zu werden, dann möchte man doch auch gerne etwas zu lachen haben. Lest die Sonntagsfrage 84.

Mein Lieblingszitat ist übrigens: »Sicherheit ist ein Supergrundrecht. […] Im Vergleich mit anderen Rechten ist sie herauszuheben.«, so Hans-Peter Friedrich am 16. August 2013.
Ich weiß ja jetzt nicht, wie es euch geht, aber entweder habe ich das mit den Grundrechten falsch verstanden oder unser lieber Innenminister. Ich dachte immer, dass Rechte dazu da sind, um Sicherheit zu geben und so eine gewisse Verlässlichkeit im menschlichen Zusammenleben zu erzeugen. Ich dachte also, dass Sicherheit eine Bedingung dafür ist, dass ein Recht überhaupt ein Recht ist. Und jetzt frage ich mich, was unser lieber Herr Friedrich uns damit sagen will. Will er damit sagen, dass die Sicherheit für sich gesehen werden muss, während alle anderen Grundrechte jetzt unsicher werden dürfen? Also so etwas wie eine Schwarzwälder Kirschtorte ohne Kirschen, weil die Kirschen auf einem Extra-Teller liegen?
Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was unser guter Innenminister gemeint hat. Ich jedenfalls fühle mich nicht von radikalen Islamisten bedroht und wenn er etwas für unsere Sicherheit tun möchte, also unser guter Herr Friedrich, dann sollte er doch bitteschön die Hälfte der Berliner Autofahrer nach Guantanamo verfrachten. Die gefährden nämlich wirklich meine Sicherheit. Vielen Dank im Voraus!

28.10.2013

Handlungen in Erzählungen

Handlungen in Romanen, so würden die meisten Menschen sagen, sind wichtig. Stimmt ja auch. Irgendwie.
Trotzdem ist das immer wieder auch eine Quelle für Fehler, für Momente, in denen irgendetwas in einer Erzählung bricht, die Spannung bricht weg, die Identifikation mit dem Protagonisten verschwindet oder baut sich erst gar nicht auf; und um das ein wenig greifbarer zu machen, jenseits dieser Ebene: hier funktioniert das irgendwie nicht, um also dieses „irgendwie“ aus seinen Aussagen wegzubekommen, habe ich eine Menge Aufwand betrieben. Mit nicht allzu großem Erfolg. Hier fehlen mir ganz einfach Mitstreiter.

Zunächst kann man feststellen, dass es unterhalb dieses ganzen intellektuellen Aufwands eine ganz einfache Regel gibt, mit der man arbeiten kann und weitestgehend gut arbeiten kann. Diese Regel besteht aus einer einfachen Frage: Kann ich mir das vorstellen? Und für einen Autoren: kann ich mir das auch vorstellen, was ich vor einer Woche geschrieben habe?
Das ist keine ganz verlässliche Regel, zum einen, weil es sehr unterschiedliche Leser gibt, und zum anderen, weil Autoren sich selbst sehr unterschiedlich gut daran erinnern können, was sie sich damals, als sie diesen Text geschrieben haben, vorgestellt haben.

Will man das ganze aber in eine präzisere Fassung bringen, hat man es fast schon mit der gesamten Philosophie des 20. Jahrhunderts zu tun, meist auch noch weit ins 19. Jahrhundert hinein.
Das Problem ist also folgendes: in einer Erzählung werden Handlungen geschildert. Und ganz grob kann man sagen, dass diese Handlungen auf der einen Seite die Geschichte voranbringen und auf der anderen Seite die Figuren in ihrer Welt verankern, also für eine gewisse Glaubwürdigkeit der Geschichte sorgen. Spannungsaufbau und Verankerung. Das sind meine beiden Begriffe dazu.
Um jetzt zu verstehen, wann das eine oder das andere nicht funktioniert, muss ich diese beiden Konzepte mit den einzelnen Handlungen in einem Satz verbinden und erklären, wie es von den einzelnen Handlungen zu einem Spannungsaufbau kommt oder von den einzelnen Handlungen zu einer Verankerung. Und ab hier wird das ganze sehr knackig. Denn was dahinter steckt, ist dieses große Problem des „politischen“ Menschen, nämlich einmal das Teilsein in der Welt und einmal das Teilhaben in der Welt. Um die Tragweite deutlich zu machen: darin spiegelt sich das Problem von Menschenrechten, also den Grundrechten, Mensch zu sein, und den nationalen Rechten, also den Rechten an politischer und juridischer Teilhabe innerhalb einer Nation, wider. Und dahinter findet man relativ rasch auch ein immer wieder sehr aktuelles Problem: wann und wie darf man dem Staat Widerstand leisten.
Ich vermute mal, dass jetzt die meisten Autoren, die einfach nur einen schönen, gut lesbaren Roman schreiben wollen, an solche Verbindungslinien gar nicht gedacht haben.

Wenn ich hier mal so im Privaten reden darf: ich bin zwar Textcoach und als solcher achte ich auch darauf, dass sich die Romane, die meine Kunden schreiben, verkaufen lassen; mir ist aber dieses  Nachdenken über das Erzählen sehr viel wichtiger: denn eines scheint mir an dieser ganzen Sache trotzdem sehr klar zu sein: ein Mensch, der nicht erzählen kann, oder dem das Recht zu erzählen weggenommen wird, verschwindet mit seiner Existenz und seinen Handlungen aus der Welt. Über die Kunst des Erzählens nachzudenken, bedeutet immer auch, über sich selbst als politischer Akteur nachzudenken.
Kleiner Zusatz: Erzählen bedeutet hier nicht, Romane zu schreiben, sondern beginnt mit der alltäglichen Erzählung, mit den völlig belanglosen Sachen, mit diesem ›dieses und jenes ist mir als handelnder und erlebender Mensch widerfahren‹. Politik wiederum verstehe ich nicht als den Beruf und das, was ein beruflicher Politiker macht, sondern als das, was in Gemeinschaften passiert, auf ganz unterschiedlichen Ebenen, von der Partnerschaft bis hin zu den Nationen.

Wenn ich also das ganze Problem von Spannungsaufbau und Verankerung als noch nicht gelöst betrachte, dann in Bezug auf die politische Funktion des Erzählens, die wesentlich mehr ist als nur das Handwerk zu können. Das ist relativ einfach. Wenn ich mich allerdings nur auf das Handwerk konzentriere, oder, wie es ja mittlerweile bei manchen Menschen üblich zu sein scheint, auf den Verkaufsrang bei diversen Plattformen für Selbstverleger, zerreiße ich diesen ganzen Hintergrund. Dann ist der Autor nichts anderes als ein jobholder, ein kleines Arbeitstierchen im großen Getriebe der Wirtschaft. Damit unterscheiden sie sich aber gar nicht mehr von Verlagsautoren. Hier sind nur die Institutionen ausgetauscht worden. Das einzige, was jetzt deutlicher zu Tage tritt, ist die ganze Vielfalt des Erzählens; und die neuen Disziplinierungsmechanismen, die auf Erfolg, Wirtschaftlichkeit und Beliebtheit abzielen und diesen ganzen Kram sehr leichtsinnig und sehr blödsinnig auf die Qualität eines Textes daraufstülpen.

25.10.2013

Pixar's 22 Regeln des Geschichtenerzählens

Ganz wundervoll, leider auf Englisch, sind die 22 Regeln des Geschichtenerzählens, die ihr hier finden könnt: Pixar's 22 Rules of Storytelling Presented with Film Stills from Pixar Films.
Für alle, die sich mit dem Englischen unsicher fühlen, hier die Übersetzung:

#1: Die Figuren werden mehr für ihre Versuche als für ihre Erfolge geliebt.

#2: Man sollte im Auge behalten, was für das Publikum interessant ist, nicht, was für den Autor interessant ist. Das kann nämlich sehr unterschiedlich sein.

#3: Sich um ein Thema zu bemühen ist wichtig, aber man sieht nicht, worüber die Geschichte wirklich ist, bis man sie beendet hat. Nun schreibt sie noch einmal.

#4: Es war einmal ein _ _ _. Jeden Tag _ _ _. Doch einmal _ _ _. Deswegen _ _ _, wodurch _ _ _. Bis schließlich _ _ _.

#5: Vereinfache. Konzentriere. Kombiniere Figuren. Lass Umwege links liegen. Du glaubst, dass du wertvollen Stoff missachtest, aber es wird dich befreien.

#6: Worin ist die Figur gut, womit fühlt sie sich vertraut? Konfrontiere sie mit dem Gegenteil. Fordere Sie heraus. Wie werden sie reagieren?

#7: Entwirf das Ende, bevor du den mittleren Teil ausarbeitest. Ernsthaft! Enden sind schwierig zu schreiben; bewältige dieser Aufgabe frühzeitig.

#8: Beende deine Geschichte und lass sie los, selbst wenn sie nicht perfekt ist. In einer idealen Welt hast du beides, geh also weiter. Und mach es beim nächsten Mal besser.

#9: Wenn du stecken bleibst, leg eine Liste an, was als nächstes nicht passiert. In vielen Fällen wird der Stoff, durch den du weiterkommst, erscheinen.

#10: Zerpflück die Geschichten, die du magst. Was du an ihnen magst, ist ein Teil von dir; das hast du dir bewusst zu machen, bevor du es benutzen kannst.

#11: Bring es zu Papier: dadurch beginnst du, deine Ideen festzuklopfen. Wenn die perfekte Idee in deinem Kopf bleibt, wirst du sie mit niemandem teilen können.

#12: Lass die erste Idee, die dir einfällt, beiseite. Und die zweite, dritte, vierte, fünfte — schmeiß das Offensichtliche raus. Überrasche dich selbst.

#13: Gib deinen Figuren eine Meinung. Passive und fügsame mögen dir gefällig erscheinen, wenn du schreibst, aber das ist Gift für die Leserschaft.

#14: Warum musst du diese Geschichte erzählen? Was ist die tiefe Überzeugung in dir, das diese Geschichte ernährt? Diese Überzeugung ist das Herz deiner Geschichte.

#15: Wenn du deine Figur wärst, in dieser Situation, wie würdest du dich fühlen? Aufrichtigkeit verleiht selbst unglaubwürdigen Situationen Glaubwürdigkeit.

#16: Was sind die Hindernisse? Gib uns Gründe, die Figur zu unterstützen. Was passiert, wenn sie keinen Erfolg haben? Wäre das wirklich nachteilig?

#17: Keine Arbeit ist jemals verschwendet. Wenn es (im Moment) nicht funktioniert, lass es los und gehe weiter — es wird sich später trotzdem als nützlich erweisen.

#18: Du musst dich selbst kennen: das ist der Unterschied zwischen ›das Beste geben‹ und ›herumlärmen‹.

#19: Zwischenfälle, um deine Figuren in Schwierigkeiten zu bringen, sind großartig; Zwischenfälle, um sie aus den Schwierigkeiten herauszubekommen, sind Betrug.

#20: Übung: nimm die Bausteine aus einem Film, den du nicht magst. Wie würdest du sie neuordnen, so dass du sie mögen kannst?

#21: Du musst dich mit deinen Situationen und Figuren identifizieren — einfach so schreiben ist nutzlos. Wie würdest du dich in dieser Situation verhalten?

#22: Was ist der Ertrag deiner Geschichte? Was ist die sparsamste Art und Weise, das zu erzählen? Wenn du das weißt, kannst du von dort deine Geschichte aufbauen.

22.10.2013

Monsterliga und Heldenkabinett

Eigentlich wollte ich mehr Rezensionen schreiben, gerade auch zu Büchern von selfpublishern. So richtig dazu gekommen bin ich noch nicht: ihr wisst, Hannah Arendt, Christa Wolf, und immer wieder — das versteht sich zurzeit bei mir fast von selbst — Immanuel Kant. Und arbeiten muss ich ja schließlich auch noch, auch das versteht sich von selbst.

Und wollte ich nicht eigentlich auch dieses Jahr überhaupt keine Selbstverleger lesen? Es ist ja nicht so, dass mein Bücherschrank nicht eh schon viel zu voll ist und dass man Bücher nicht auch zweimal lesen könnte. Gerade bei Büchern ist dies sogar notwendig. Zumindest, wenn man sie systematisch lesen will, um bestimmte Erzählmerkmale präziser zu erfassen.

Nun, die guten Vorsätze zum Trotz habe ich doch recht fleißig die Werke gelesen, auch wenn ich immer deutlicher zur Philosophie neige und derzeit zur deutschen Nachkriegsliteratur, bzw. auch zur Literatur des geteilten Deutschlands.
Von Lars Gunmann stammt die Kurzgeschichtensammlung ›Monsterliga und Heldenkabinett‹; aufgefallen ist mir der Autor, weil ich im Zuge der Buchpiraten-Diskussion über seinen Blog gestolpert bin, den ich nett, aber auch nicht herausragend finde: ich habe ihn mir auf jeden Fall als Lesezeichen gesetzt. Seine Bücher allerdings bewirbt er nicht und das hat mich verwundert und eigentlich bewogen, dann eines seiner Bücher zu kaufen. Eben jene Kurzgeschichtensammlung.

Was ist zu diesem Buch zu sagen? Es sind äußerst kurze Geschichten. Man könnte sie fast als winzig bezeichnen; Anekdoten allerdings sind es nicht: dazu fehlt ihnen das Gelehrsame. Manches von ihnen überschreitet die Grenze zur Glosse, wenn auch, wie mir scheint, eher halbherzig.
Die Ideen sind nett, aber keineswegs neu, mit einigem skurrilen Humor umgesetzt und insgesamt sehr scharf, sehr eng gefasst, wie es bei winzigen Geschichten nicht anders möglich ist. Auch die Dialoge sind, und da kann man den Autor tatsächlich aus der Masse hervorheben, gut genug, um daran nicht zu verzweifeln. Gute Dialoge zu schreiben: das scheint den meisten deutschen Autoren doch eher noch ein Niemandsland zu sein. Gunmann hat die grobe Vermessung dieses Gebietes mit Anstand hinter sich gebracht; Neues, Begeisterndes oder auch nur Solides braucht dann wohl noch einiges an Zeit.

Einiges Negatives muss man allerdings auch hervorkehren. So ist die Leserorientierung schwach, manchmal gar nicht existent. Mit Leserorientierung meine ich die Orientierung des Lesers in Raum und Zeit. Nun darf sich die humorvolle Literatur einiges erlauben, was sich die ernstere Spannungsliteratur nicht leisten darf. Eine fehlende Orientierung des Lesers allerdings gehört nicht dazu.
Gleich die erste Geschichte beginnt folgendermaßen:
30. Oktober, kurz vor Mitternacht.
„Bist du sicher, dass du zu Fuß weitergehen willst?“
„Ich kann auf mich aufpassen. Dauert sicher ewig, bis der Strom wieder da ist.“
„Na gut, viel Glück.“
„Ebenfalls.“ Tina verließ die Straßenbahn. Sie lief langsam und vorsichtig weiter, bis sie auf einer Brücke stehen blieb.
Mit wem Tina hier spricht, bleibt unklar. Und auch der Ausgangskonflikt, so minimal er auch ist, wird nur durch Anspielung dargestellt, nicht durch Benennung. Das ist in der humorvollen Literatur zumindest unüblich. Erinnern wir uns daran, was Käpt'n Blaubär erlebt, in der ersten Episode seines Buches: er hört das lauteste Geräusch der Welt! Humor arbeitet gerade mit solchen Übertreibungen und kann es sich nicht leisten, wichtige Elemente, wie zum Beispiel den Konflikt, undeutlich zu lassen.
Humor lebt auch von ihren übertriebenen Figuren. Eine Figur nicht einmal zu erwähnen ist mindestens ungünstig.
Ein zweites Problem ist wiederum ein typisch deutsches Problem: Bitte benutzt doch aktive Verben. Es ist ja nicht so, als ob diese Erkenntnis neu wäre. Die Idee, dass der bürgerliche Roman den Menschen als einen in seiner Umwelt handelnden Menschen vorstellt, war schon vor Lessings Hamburger Dramaturgie ein Allgemeinplatz. Und seitdem hat es ja auch genügend Schriftsteller gegeben, die diesem Allgemeinplatz gut gefolgt sind, klassische Schriftsteller, Goethe, Kleist, Fontane, Thomas Mann, ja, sogar Peter Handke, bei dem sich die Sprache als Landkarte von Bedeutungsräumen erweist, nicht als „Wirklichkeit“. Jener letzte, von mir zitierte Satz, zeigt diese Furcht vor der Aktivität, jene Angst, seine Figuren handeln zu lassen, in seiner ganzen Zwiespältigkeiten: zunächst ist dieser Satz rein logisch gesehen ein Unding: man läuft nämlich immer weiter, bis man stehen bleibt und insofern ist der zweite Teilsatz überflüssig. Zumindest aber hätte er anders formuliert werden müssen. So hat es aber den Anschein, als würde Tina stehen bleiben, wie eine Uhr stehen bleibt, nicht als Handlung, sondern als Ereignis, das ihr zustößt.
Dazu gehört dann auch, dass in der folgenden Passage das Ereignis nicht den Protagonisten, also Tina, trifft, sondern nur den Leser mitgeteilt wird. Vor Tina ist ein leuchtender Geist erschienen, um ihr einen Auftrag zu erteilen. Hier verschwindet er wieder:
„Ja, ich muss gehen. Ich wünsch dir viel Erfolg!“
Wieder war es stockdunkel.
Was dies für Tina bedeutet, bleibt unklar und damit auch unklar, was es für den Konflikt der Geschichte bedeutet. Damit verspielt der Autor aber ein so kleines, wie wichtiges Instrument, dass sich der Leser doch noch irgendwie mit der Hauptfigur identifiziert. Zum Glück kann er hier vieles durch Dialoge wettmachen, aber eben nicht alles.

Zu dieser Kritik zwei Anmerkungen:
(1) Nichts ist schwieriger, als eine teils groteske, teils ironische Geschichte auf drei Seiten zu verfassen. Wo manche erzählerische Unsicherheit im längeren Roman untergeht, wird sie in solchen Miniaturen grell auffällig. Es gehört also sehr viel Kompetenz dazu, solche Kurzgeschichten mit Bravour zu meistern. Mit Bravour nun meistert dieser Autor sie nicht: erzählen kann er, aber nicht auf dem Niveau hoher Erzählkunst.
(2) Aus meiner Arbeit als Textcoach bringe ich immer wieder ein gewisses Problem mit. Zu einer guten Kritik gehört auch, zu erklären, was an einem Text gut ist. Und erklären bedeutet hier im vollsten Sinne erklären und nicht: behaupten. Hier stelle ich immer wieder eine gewisse Scheu fest. Meine Kunden wollen zwar gelobt werden, warum aber eine Textstelle besonders gut funktioniert, zumindest meiner Ansicht nach, wird nicht mehr so gerne gehört. Es ist, als würde man die Qualität einer Passage zerstören, sobald man ihren inneren Mechanismus aufdeckt. Selten sogar erstarrt ein so Kritisierter wie das berühmte Kaninchen vor der ebenso berühmten Schlange. Man sollte meinen, man hätte nicht etwas Gutes, sondern gerade etwas Schlechtes hervorgehoben. Und einmal hat mir ein Kunde dann vielleicht die heimliche Glaubensüberzeugung offen dargelegt, die dahinter steckt. Er meinte zu mir, dass das doch gar kein Lob sei und begründete das damit, dass ich seinen Text analysieren würde. Ich habe also eine Haltung entwickelt, in der ich mich mit solchen Analysen zurückhalte, zumindest bei den ersten Kontakten. Dass sich ein angehender Schriftsteller damit eigentlich nur Probleme macht, dürfte klar sein: um ein guter Schriftsteller zu werden, gehört auch dazu, festzustellen, wo man es bereits ist und wo man dann eigentlich nur noch aus einer unreflektierten Gewohnheit eine bewusst eingesetzte Technik machen muss. Man sollte meinen, dass dies der leichtere, rascher zu bewältigende Teil eines Textcoachings ist. Und umso verwunderlicher ist es, dass hier anscheinend genau das Gegenteil passiert. Zumindest bei der Hälfte meiner Kunden.
Wenn ich hier also besonders stark bestimmte Fehler in der Erzähltechnik hervorhebe, mag der Eindruck entstehen, das Buch sei insgesamt nicht gut. Ich hoffe aber, dass ich deutlich gemacht habe, dass es für mich eine Zwischenstellung einnimmt und insgesamt eher positiv zu bewerten ist als negativ. Es hochzujubeln halte ich für falsch, widerspricht auch meiner Idee von „guter“ Literatur, aber all das eben nicht vollständig ins Gegenteil verkehrt.

Fazit bleibt also, dass ich das Buch empfehle, aber nicht zum reinen Vergnügen, sondern als Texte, die gut genug sind, um gelesen zu werden, die auch soweit vergnüglich sind, dass sie einiges an Vergnügen bereiten (Tommy Jaud bereitet mir zum Beispiel kein Vergnügen und ist trotzdem Bestseller geworden); aber eben auch empfehle, um es scharf nach seinen Flausen zu durchforschen und bessere Ideen zu entwickeln, also (auto)-didaktisch. Wer es im letzteren Sinne liest, wird erst verstehen, welch enorme Aufgabe sich der Autor gesteckt hat. Diesen Texten den Schliff zu geben, den man als den letzten bezeichnet, wäre ein Zeichen für hohe Kunst.

Sahra Wagenknecht in Schwaben

Nun, man kann der Schwäbischen Zeitung nicht vorwerfen, sie würde sich „linkem“ Gedankengut verweigern. Aber muss es gerade so sein, mit diesen stilistischen Patzern, grammatischen Fehlkonstruktionen und dann auch noch politisch peinlichen Aussagen, die mehr auf die Vorurteile der Autorin, denn auf die tatsächliche Stimmung schließen lassen? Man lese:
Die erste Punktlandung hat Sahra Wagenknecht schon gelandet [jawohl!], bevor sie den Kleinen Saal der Stadthalle in Tuttlingen betritt. Es ist ausverkauft. Im schwarzen Tuttlingen verführte die erste Stellvertreterin Gregor Gysis 220 Menschen dazu, sich eine Karte für den Auftakt des Literaturherbstes zu kaufen und ihr zuzuhören. Durchaus überraschend.
Geradezu erschlagen allerdings war ich von der Erkenntnis, die uns die Unterschrift eines Bildes von der Veranstaltung liefert. Dort steht:
Sahra Wagenknecht unterstrich ihre Aussagen mit stetiger Mimik und Gestik.
Das kann aber auch nur einer Frau einfallen, die sich von Marx als Verursacher des Stalinismus nicht gelöst hat.
Weitere tiefsinnige, journalistische Ergüsse hier: "Bankenrettung ist Millionärsrettung!"