06.01.2013

Faber und das Fleisch; außerdem: falsche Interpretationen

Auch auf die Gefahr hin, damit zu nerven: hier noch einmal eine Anmerkungen zu den vermeintlichen Selbstbeschreibungen Walter Fabers als tödlich krank. Ich erinnere daran, dass Claus Gigl diese Selbstbeschreibungen mit Fabers Beschreibungen von Professor O. parallelisiert und daraus die Schlussfolgerung zieht, Faber würde sterben.
Es gibt aber zumindest teilweise eine andere, allerdings auch nicht weniger schwierige Interpretationsmöglichkeit. Faber beschreibt das Fleisch insgesamt eher abfällig, ja, man muss sagen, dass er hier ein gewisses absurdes Verhältnis ausdrückt. Berühmt jedenfalls ist der Satz:
"Überhaupt der ganze Mensch! — als Konstruktion möglich, aber das Material ist verfehlt: Fleisch ist kein Material, sondern ein Fluch." (171)
Aber sehen wir uns folgende Passage an. Hier beschreibt Faber weder sich selbst noch einen erkrankten Menschen und kommt doch nur zu einer Darstellung, die von einem gewissen Ekel durchzogen wird:
"Ihre Hand (ich redete sozusagen nur noch zu ihrer Hand) war merkwürdig: klein wie eine Kinderhand, älter als die übrige Hanna, nervös und schlaff, hässlich, eigentlich gar keine Hand, sondern etwas Verstümmeltes, weich und knochig und welk, Wachs mit Sommersprossen, eigentlich nicht hässlich, im Gegenteil, etwas Liebes, aber etwas Fremdes, etwas Entsetzliches, etwas Trauriges, etwas Blindes, ich redete und redete, ich schwieg, ich versuchte mir die Hand von Sabeth vorzustellen, aber erfolglos, ich sah nur, was neben dem Aschenbecher auf dem Tisch lag, Menschenfleisch mit Adern unter der Haut, die wie zerknittertes Seidenpapier aussieht, so mürbe und zugleich glänzend." (141)
Man könnte an dieser Stelle natürlich auch sehr gut die Todesverfallenheit Fabers mit hinzunehmen. Die Materialermüdung ist ebenfalls ein Thema im Roman, so zum Beispiel durch all die technischen Geräte, die kaputt gehen: insbesondere das Flugzeug und der Rasierapparat (die Schreibmaschine übrigens, die Hermes-Baby, soll nach manchen Interpreten ebenfalls kaputtgehen: allerdings heißt es am Ende des Romans (198) sehr lapidar: "Sie haben meine Hermes-Baby genommen.").

Eine vielleicht nicht ganz so randständige Beobachtung: Faber nimmt technische Sachen auseinander und setzt diese wieder zusammen, Hanna altgriechische Scherben. Dies ist nicht die einzige Annäherung zwischen Walter und Hanna auf der symbolischen Ebene.
Und vielleicht ist diese ganze Dramatisierung von Hanna (als der verständigen und guten) gegen Faber eine viel zu starke Interpretation. Dies ging ja bis zu der Behauptung, Faber sei frauenfeindlich. Unbestritten benimmt er sich gegenüber Frauen äußerst seltsam, unglücklich, falsch. Ob die Charaktereigenschaft frauenfeindlich allerdings zutrifft, möchte ich eher bezweifeln. Dieses Urteil ist wohl eher der Auswuchs eines falsch verstandenen Feminismus, der meint, überall (in jedem Roman) auch mal etwas zu antifeministischen Tendenzen sagen zu müssen.

Sina, Karl, eine vielleichtblond (so das Pseudonym einer Schülerin) und einige andere Schüler scheinen meine neuesten Artikel zum Homo Faber intensiv zu verfolgen. Und ich bin sehr dankbar darüber, solch kritische, junge Leser zu kennen. Im Gegensatz zu vielen Kindle-Autoren kann man mit diesen nämlich ernsthaft über Literatur diskutieren.

Im übrigen ist jede Interpretation schon deshalb falsch, weil sie auswählt und gewichtet. Die endgültige und einzig richtige Interpretation, wie dies in Lektürehilfen für die Schule gerne suggeriert wird, gibt es nicht. Hier ist auch meine Kritik an Claus Gigl insofern oberflächlich, als ich mich nur an offensichtlich falschen Bezeichnungen festhalte. Eine gute Kritik müsste die Interpretation so weitertreiben, dass die bisherige Interpretation nicht mehr funktioniert.
D.h. vor allem auch eins: eine komplexere Interpretation abliefern. Wodurch sich natürlich die Frage stellt, was man einem Schüler zumuten kann. Was mich geärgert, ist, dass einige dieser jungen Menschen durchaus sehr gute Ideen produzieren oder kritische Fragen stellen und hier wohl offensichtlich von bestimmten Lehrern auf eine Art Dogma festgelegt werden, das genauso fragwürdig ist (oder sogar noch mehr). Das sind die Schüler, mit denen ich zur Zeit vorwiegend diskutiere.

Zum Schluss: warum muss man in der Schule interpretieren lernen? Ich gebe hier keine Antwort. Mir scheint aber, dass die Interpretation für den Subtext, die konnotative Ebene sehr wichtig ist, also für ein Gefühl für all das, was unterschwellig und zwischen den Zeilen in einem Text passiert.

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