31.05.2013

Aber hallo! (Neuheiten über die sexuelle Erregung)

Genitale Berührung und Massage regt das sexuelle Feuer an. (aus einer Facebook-Werbung)
Unglaublich!!!

auf dem Weg zur Allegorie

Westerwelle äußert sich zur Kritik an Hollande folgendermaßen:
Die deutsch-französische Freundschaft ist das kostbarste Juwel im europäischen Schatz (zitiert nach: Ein Vollzeit-Chef für die Euro Gruppe?)
Juwel und Schatz sind natürlich Metaphern. Beide stehen für "wertvoll". Gibt es zwischen verschiedenen Metaphern eine Isotopie, also eine partielle Gleichheit der Bedeutungen, entsteht eine Allegorie. Die Allegorie wird auch als "flächendeckender Gebrauch von Metaphern" bezeichnet.

Sehr häufig findet man solche Allegorisierungen im Bereich der räumlichen und der sinnlichen Metaphern. Dort sind sie so selbstverständlich, dass sie schon gar nicht mehr auffallen. Es ist auch klar, warum wir uns auf sie fraglos stützen (müssen): ohne eine konkrete Welt würde sich wahrscheinlich das Leben überhaupt nicht lohnen.

Grammatik oder Prosodie

Die 70er Jahre erreichen ihren Höhepunkt in England.
Dieser Satz, den ich vorgestern im Internet gefunden habe, hat mich einigermaßen verwirrt. Denn schon beim ersten Lesen wusste ich nicht, was dieser Satz genau bedeuten soll. Grammatisch ist er jedenfalls korrekt. Und trotzdem bleibt er mehrdeutig. Erreichen die siebziger Jahre nur in England ihren Höhepunkt oder bezeichnet der Höhepunkt einen gewissen Zeitraum in England in den siebziger Jahren (der in anderen Ländern zu einer anderen Zeit stattfindet)? Und was soll das in diesem Fall überhaupt sein: ein Höhepunkt?
Nicht die Grammatik ist in diesem Fall zweideutig, sondern die Betonung. Die Lehre von der Satzmelodie wird häufig als Prosodie bezeichnet. Es gab ganze Lehrbücher dazu. Heute ist diese Kunst vor allem in die Lyrik abgewandert, wo sie über das Versmaß den Vers bestimmt.
Bei meinem Beispiel ist zum Beispiel nicht klar, ob der Höhepunkt wichtiger ist als England und ob es eben tatsächlich einen Höhepunkt der siebziger Jahre gab. Anders gesagt: gehört der Höhepunkt zu den siebziger Jahren oder zu England?
So werden unglückliche erste Sätze zu einer Beschreibung geliefert, die eigentlich auf einen Film aufmerksam machen soll.

29.05.2013

Rechtschreibung und Grammatik in Spannungsromanen

Gewohnte Rechtschreibung macht eben das Lesen einfacher.
Man spricht in der Fachliteratur bei Romanen von einem "willing suspension of disbelief", einer "gewollten Verleugnung des Unglaubens" und meint damit, dass der Leser, solange er einen Roman liest, der Welt des Protagonisten ohne Zweifel folgt. Dazu gehört eben auch, dass man einen Text nicht literaturwissenschaftlich liest, also von der Sprache her und dass er aus Sprache gemacht ist.
Rechtschreibfehler bilden nun beständige Brüche in diesem Lesen. Sie erinnern uns daran, dass wir "in der Realität" nur Sprache vor uns haben und nicht das Auenland oder Hogwarts oder die geheimen Städte des Mars. Und damit holen sie uns aus jenem "willing suspension" heraus. Die Geschichte wird diffus und verliert ihre Spannung.
Dasselbe gilt für die Grammatik und die Logik zwischen Sätzen. Folgen wir W. v. Humboldt, so präzisieren diese die Vorstellungen, bzw. leiten zu einem guten, exakten Vorstellen an. "Der Hund liegt auf der Matte" ist eben genauer als "Hund". Ist diese Grammatik nun zu primitiv, zu befremdlich oder falsch, zerbrechen unsere Vorstellungen und unser Mitgerissenwerden von der Geschichte ebenso. Oder die Vorstellungen bleiben von Anfang an unklar. Auch das ist ein Spannungskiller.
Spannend ist, und für Autoren anstrengend, dass sie also beides gut können müss(t)en, es dem Leser aber keineswegs auffallen darf. Normalerweise springt und ruft man ja nicht, wenn man sich verstecken will. In einem (Unterhaltungs-)Roman muss man die Sprache verstecken, obwohl er daraus gemacht ist.

Heino und das Buch; Hegel, Inhaltsanalyse, Zettelkasten

Heino, so lockt die Bild-Zeitung aus ihm hervor, hat in seinem ganzen Leben noch keine Bücher gelesen. Sie würden ihn langweilen. In einem Kommentar sagt ein Stefan:
Auch für mich ist eine Welt zusammengestürzt. Bis jetzt war Heino für mich eine Geistesgröße.
Der meint das jetzt hoffentlich ironisch!

Ich puzzle weiter an meinem Hegel herum. Der sollte ja eigentlich nur ein Zwischenschritt sein zu einigen Passagen bei Judith Butler, nimmt jetzt allerdings ganz schön viel Zeit in Anspruch.
Durch meine Arbeit habe ich in den letzten Tagen relativ viel zur Pädagogik geschrieben, bzw. Studenten unterstützt. Man liest noch Levinas an den pädagogischen Fakultäten. Von dem habe ich nur das Buch Totalité et infini, ein Werk, das ich in Paris überflogen habe und danach nie wieder. Für dieses Zwischendiplom reichte aber meine Sekundärliteratur; es ging ja für mich auch nur darum, ob das Inhaltsverzeichnis und die grundlegenden Thesen in Ordnung sind. In vier Wochen werde ich das Ganze dann noch einmal lektorieren. Und ich glaube, das wird sogar ein Vergnügen.

Ein zweites Buch bin ich gerade am Lesen, auch arbeitsbedingt. Weil ich es interessant fand, was heute so in der Literaturwissenschaft, bzw. in diesem Fall: Kommunikationswissenschaft, habe ich mir Inhaltsanalyse von Patrick Rössler gekauft (Konstanz 2010).
Die Kundin soll, zusammen mit einem kleinen Team, den Kulturteil von (historischen) Zeitungen nach bestimmten Kriterien analysieren. Das Team hat ihr den Theorieteil aufgedrückt und jetzt weiß sie nicht weiter. Das ist typisch für Arbeitsgruppen an Universitäten. Und es ist etwas blind von den anderen Studenten, dass sie den wichtigsten Aspekt, nämlich die Auswahl der Kategorien, nicht mitgestalten. Dafür wird die empirische Arbeit und die Auswertung hinterher umso schwieriger, während meine Kundin aus dem Schneider ist, da sie den Anfang setzt. Jedenfalls hat sie sich früh darum gekümmert, ihren eigenen Teil ordentlich zu machen. Und für mich war es eine Herausforderung, denn diese Art der Inhaltsanalyse kannte ich und kannte ich irgendwie auch nicht. Irgendwie soll an dieser Stelle heißen: die Begriffe waren mir neu. Das Verfahren allerdings sehr vertraut.

Schließlich fülle ich noch meinen Zettelkasten auf. Meine Notizen quellen nämlich schon wieder über. Ein mühsames, wenn auch langfristig fruchtbares Geschäft, sich einen Zettelkasten zu halten. Gerade finde ich eine meiner Anklagen der aktuellen Kultur:
das ist nun allerdings eine sehr lustige Idee: dass die sprachliche Ausgestaltung zur Überzeugung der Zuhörer beitragen, weil diese verderbt seien
tatsächlich hat Aristoteles insofern recht, als die heutigen Zuschauer und Zuhörer, die heutigen Leser, sich sehr stark an der Oberfläche aufhalten und wenig Kompetenz für die Argumentation und die Inhalte besitzen: die Zergliederung eines Themas nach sachlichen Aspekten wird kaum noch gepflegt und beachtet
(zu Göttert, Seite 91)
Siehe dazu auch: Inkompetenz als Wahlmotiv.

Inkompetenz als Wahlmotiv

Schauen Sie sich zum Beispiel Angela Merkel an. Sie kann eigentlich gar nicht richtig reden oder gar so etwas wie Gefühle vermitteln. Sie ist auch nicht in der Lage, ihre Stimme einzusetzen. Rhetorisch mangelhaft, würde man sagen. Aber so merkwürdig es klingen mag: Diese Anti-Rhetorik gibt ihr die Möglichkeit, die Menschen zu erreichen.
Wie das? Weil man sich in dieser Unfähigkeit zu kommunizieren spiegelt. Nach dem Motto: Die kann’s nicht, ich auch nicht. Und deshalb wähle ich sie.
Aus: Die Angst der Politiker vor dem Shitstorm.
Über die Sprache in der Öffentlichkeit aufklären, sagt Hans Hütt. Die analytische Rhetorik wichtig machen, sage ich. Das ist nicht ganz dasselbe, aber wohl eher von den konkreten Methoden als vom fernliegenden Ziel unterschiedlich.

27.05.2013

Ich liebe sie, die Männer!

Um hier beim Mann Bindungswünsche zu wecken müssen zu dem “Superscharfen” [gewisser Frauen] noch andere Eigenschaften kommen.
Das sind welche die nicht so offensichtlich, nicht so kurzfristig wie das exhibitionistisch von der Frau herausgestellte “Superscharfe” sind und eine längere Zeit der Begutachtung brauchen.
Begutachtung finde ich besonders hübsch, sozusagen hot & spicy.
Dies aus einem Kommentar zu Gefühlsveränderungen bei Männern und Frauen nach dem Sex.

24.05.2013

Goethe und die seichte Literatur

Wozu liest du eigentlich Unterhaltungsliteratur, wenn du sie anschließend zerpflückst und vor allem auf Fehler hinweist? — Das ist eine Frage, die zwar nicht allzu häufig auftaucht, aber doch immer wieder. Die einfachste Antwort ist: manchmal lese ich auch solche Romane einfach aus Vergnügen.

Johannes Flörsch darf ich wohl im vollen Sinne des Wortes als Kollegen betrachten; und wenn diese Bezeichnung falsch wäre, so ist doch sehr richtig, ihn als kollegialen Menschen zu bezeichnen. Er hat in einem Kommentar (zu meinem Artikel Sebastian Fitzek: Seelenbrecher. Wenn der Perspektivwechsel misslingt.) etwas sehr wichtiges gesagt. Ich zitiere:
Konsalik kenne ich nicht, mit ihm ging’s mir wie mit Simmel: war in meiner Jugend absolutes Tabu. Zu seicht, hieß es. Bis ich mal das verordnete Vorurteil überwand und selbst nachschaute bzw. nachlas. Und siehe da: Simmel gefiel mir. Ich fand die zwei, drei Romane, die ich im Anschluss las, spannend und alles andere als seicht.
Selbst wenn Simmel nun tatsächlich seicht gewesen wäre, müsste man ihn doch lesen. Johannes drückt dies sehr richtig aus: wenn man sich nicht selbst überzeugt, handelt es sich um ein verordnetes Vorurteil. Einen recht ähnlichen Sachverhalt brandmarkt Theodor Adorno als vorauseilenden Gehorsam (jetzt müsste ich nur noch die Stelle finden).
Ich kenne dasselbe Vorurteil auch von studentischen Lesegruppen. Sehr häufig wissen dort einige Menschen im Vorhinein, was beim Lesen hinterher herauskommen soll. Foucault sage dasselbe wie Adorno; Luhmann sei ein Funktionär des Bestehenden. Nietzsche wird auf einzelne Sätze reduziert und was kommt dabei heraus? Dass er ein Faschist sei. Nun habe ich nichts dagegen, mit Nietzsche äußerst vorsichtig umzugehen. Aber diese Lesart ist nun so unterkomplex, dass man selbst ohne Kenntnis des Werkes sagen kann, dass sie falsch ist.
Viel schlimmer aber ist, dass diese angeblich ach so akademischen Menschen eine Geste wiederholen, die für Faschisten sehr typisch ist: abgelehnt wird, was man nicht kennt. Hier zeigt sich die Paranoia als sekundärer Krankheitsgewinn der Bequemlichkeit. Unbequem oder, im Falle von Johannes und seinem Simmel, vergnüglich dagegen ist die "primäre" Begegnung mit der Sache selbst. Manchmal ist es ja auch so, dass nach einem ersten Unbehagen sich etwas als positiv herausstellt.

Meine Antwort auf Johannes war ein umgekehrter Fall. Ich zitiere mich selbst:
Genau umgedreht ist mir dasselbe mit Goethe passiert. Goethe sollte immer so toll und gleich Deutschlands größter Schriftsteller sein. Und obwohl ich in meiner Jugend schon so ziemlich alles gelesen habe, was ich unter die Finger bekommen habe, habe ich mich an Goethe nicht herangetraut. Weil er eben, im Gegensatz zu Konsalik, nicht seicht, sondern anspruchsvoll sei. Im Germanistik-Studium kommt man allerdings um Goethe nicht herum. Also habe ich dann schließlich doch Goethe gelesen. Heute besitze ich die Hamburger Ausgabe. Sehr viel habe ich noch nicht mit ihm gearbeitet (es gab sozusagen andere Literatur, die mich abgelenkt hat), auch bewundere ich ihn nicht; aber ich schätze ihn.
Konsalik kann durchaus als ein reiner Unterhaltungsschriftsteller gelesen werden. Das war ja wohl auch seine Absicht. Trotzdem: literaturwissenschaftlich ist er interessant und bietet eine ganze Menge an Themen an; gerade auch, weil er "nicht so gut" schreibt, unbedacht manchmal und linkisch, bietet er eine Fundgrube an rhetorischen und narrativen Figuren. Seine Romane unterhalten mich nicht, aber sie fordern meine analytischen Fähigkeiten heraus.
Deshalb zögere ich auch, all diese Kindle-Autoren als "schlecht" abzuwerten: Häufig entsteht, gleichsam am Rande ihres Textes, etwas Neues, ein Stück unreflektierte Kreativität. Und an dieser Stelle müsste man diesen Autoren vorwerfen, dass sie zu wenig für sich schreiben, zu wenig, um etwas äußerst Spannendes zu erfahren: dass man sich beim Schreiben verändern kann. Nicht immer zum Guten, wie man am Alterswerk von Konsalik liest (oder auch von Wolfgang Hohlbein).
Wenn mich etwas an jungen Autoren stört, dann nicht, dass sie schlecht schreiben. Gut zu schreiben ist Handwerk. Man kann es lernen. Ein breites Sprachgefühl braucht man erst, wenn man hervorragend schreiben möchte. Ich behaupte nun, dass man dieses Sprachgefühl vor allem (wenn auch nicht nur) durch das gründliche Lesen von sehr unterschiedlicher Literatur entwickeln kann. Autoren, die nur ihr eigenes Genre lesen, sind stilistisch sehr viel häufiger unerträglich, als Autoren, die ein breit gefächertes Lesepensum haben. Wenn ich das meinen Kunden vorschlage, höre ich manchmal die Antwort: "Das verstehe ich doch nicht! Dafür bin ich nicht gebildet genug!" Dieses Gegenargument ist natürlich unsinnig und gehört zum vorauseilenden Gehorsam. Fragt man sich nämlich, was man sich unter den Wörtern verstehen und gebildet vorstellen darf, so findet man meist nur sehr undeutliche und teilweise verworrene Teildefinitionen. Fehlendes Verständnis und Bildung sind also kein Argument gegen Goethe, Kleist, Rilke, Aichinger oder Jelinek. Fehlende Erlebnisfähigkeit schon eher. Viele Menschen, so scheint mir, ertragen es nicht, diese großen klassischen oder experimentellen Autoren zu erleben, also eigentlich den Texten nachzuspüren, sich emotional gefangen nehmen zu lassen. Nicht mangelnde Intelligenz, sondern abgestumpfte Sinnlichkeit; das scheint mir das gravierendere Problem zu sein.
Auch deshalb ist es wichtig, Urteile zu überprüfen. Simmel mag sich als äußerst spannend und tiefsinnig entpuppen, Fitzek als lehrreich und Goethe als gar nicht so großer, aber vielleicht sehr interessanter Schriftsteller.

Dazu auch: Und wozu liest man schlechte Bücher?

Christoph Bode: Der Roman — erste Sätze

Bode schreibt äußerst vergnüglich. Ich hätte mir etwas mehr Schematismus gewünscht. Zumindest aber macht er mit seiner Darstellung keinen Bückling vor den großen Namen, sondern erläutert Techniken. Wer sich nicht einfach für Literatur interessiert, sondern dieses Buch zum eigenständigen Schreiben nutzen möchte, wird die Aufgaben vermissen. Der Vorteil dieses Buches für Schriftsteller ist indirekt. Bode schreibt zum Nutzen seines Buches, erster und zweiter Satz:
Dieser Band ist als allgemeine Einführung in die Romananalyse gedacht. Eines seiner Hauptziele ist, dem Leser einsichtig zu machen, dass die analytische Zergliederung eines Romans kein Selbstzweck ist, sondern das Verständnis des Textes ganz entscheidend vertiefen und unser Lektüreerlebnis erheblich intensivieren kann.
Bode, Christoph: Der Roman. Tübingen 2011, Seite XI.
Das Wort "intensivieren" geht in die gleiche Richtung wie die Erlebnisfähigkeit des Lesers. Analyse ist kein Selbstzweck. Sie klärt, was man macht, während man liest. Dass auch Bode trotz seiner sehr angenehmen Darstellung schnell sehr komplex wird, zeigt doch nur, wie komplex das Lesen ist.

23.05.2013

Sebastian Fitzek: Seelenbrecher. Wenn der Perspektivwechsel misslingt.

Nachtrag [31.7.2017]
Wie immer entwickle ich im Laufe der Zeit meine Ideen weiter. Die folgende Darstellung beruht noch auf einer einfacheren Betrachtung, die Erzählperspektive als Begriff nutzt, wo ich später Erzählsituation sage. Da es eher eine launige Betrachtung ist, finde ich das nicht schlimm.
Im übrigen bin ich der Ansicht, dass die Diskussion um die Erzählmittel in dieser Weise Schriftstellern wenig nützt. Sie ist auch für die Literaturwissenschaft immer eine umstrittene geblieben und in Deutschland durch neuere Erzähltheorien aus Frankreich, insbesondere Genette, verdrängt worden.

Kaum habe ich mit Sebastian Fitzeks Seelenbrecher angefangen, müsste ich ihn eigentlich schon wieder zur Seite legen. Fitzek schafft es nämlich, zwischen der auktorialen und der personalen Erzählperspektive hin- und herzuspringen, was wohl dramatisch wirken soll. Doch diese Dramatisierung wirkt unfreiwillig komisch.
Hier eine Stelle, die mich besonders stört:
Es dauerte nur wenige Sekunden, da stürmte ein kahlköpfiger Rettungsarzt mit einem Ohrring in das Zimmer und kniete neben ihr nieder. Offenbar waren die Einsatzkräfte bereits mit einem Unfallwagen angerückt. Auch kein gutes Zeichen.
Fitzek, Sebastian: Der Seelenbrecher. München 2008, Seite 3.
Der Roman beginnt mit einer Folterszene, die brutaler nicht sein könnte (Seite 1). Ein unbekannter Mann dringt mit einem glühenden Lötkolben in die Vagina einer gefesselten Frau ein, zumindest wird dies explizit angedeutet. All dies schildert die Erzählung aus der Sicht der gefolterten Frau; doch nach dieser kurzen Passage springt die Szenerie in eine Art Hotelzimmer. Dort wacht die Frau scheinbar aus einem schrecklichen Traum auf, so dass die Folterung möglicherweise gar nicht real war. Der Autor lässt dies in der Schwebe. Das ist kein besonders toller Trick und wir kennen ihn auch ähnlich aus Die Therapie. Doch der Wechsel der Bewusstseinszustände ist nicht das, was ich kritisiere. Im Gegenteil ist er eine typische Technik, die in der klassischen Literatur genauso ihren Platz findet wie in der modernen. An dieser Stelle kann man dem Autor zwar Effekthascherei vorwerfen, aber andere, auch wesentlich besser geschriebene Romane machen das auch.
Um meine Kritik zu verdeutlichen, erkläre ich zunächst die Erzählperspektiven.

Erzählperspektiven

Folgt man dem klassischen Schema der Erzählperspektive, so, wie man es in den Schulbüchern findet, unterscheidet man bei Erzählungen drei Typen: den Ich-Erzähler, den personalen Erzähler und den auktorialen Erzähler.
Man kann diese Erzähler durch ihren Standpunkt unterscheiden und dies durch eine fiktive Kamera ganz gut erläutern. Beim Ich-Erzähler wäre diese Kamera direkt in den Augen des Protagonisten. Wir als Leser nähmen alles durch ihn wahr, könnten seine Gedanken hören und erlebten seine Geschichte aus seiner Perspektive mit. Der personale Erzähler hat seine Kamera dicht hinter seiner Hauptperson aufgebaut und verfolgt diesen. Das Geschehen wird aus dieser ebenfalls begrenzten Perspektive dargestellt. Den personalen Erzähler nennt man auch manchmal (fälschlicherweise) Er-Erzähler. Schließlich gibt es den auktorialen Erzähler, der (etwas unglücklich) auch allwissender Erzähler heißt. Die Kamera steht dabei gleichsam "außerhalb" der Welt und muss nicht mehr ihren physikalischen Gesetzen gehorchen.
Zwischen den Erzählertypen gibt es fließende Übergänge. So kann ein personaler Erzähler die Gedanken seines Protagonisten kennen, wie dies häufig in Romanen von Stephen King zu finden ist:
Als das ›Falcon‹ im Jahre 1973 eröffnet wurde, dachte Elmer Curtie, dass seine Kundschaft hauptsächlich aus Leuten bestehen würde, die mit dem Bus unterwegs waren - der Busbahnhof war gleich nebenan und wurde von drei verschiedenen Gesellschaften angesteuert: Trailways, Greyhound und Aroostook County. Er hatte allerdings nicht bedacht, dass ein hoher Prozentsatz der Busreisenden aus Frauen oder Familien mit kleinen Kindern bestand. Von den anderen führten viele ihre Flaschen in braunen Tüten mit sich und stiegen überhaupt nie aus dem Bus aus. Und jene, die ausstiegen - meistens Soldaten oder Seeleute -, wollten auch nur auf die schnelle ein oder zwei Bier trinken - zu mehr war bei einem Zwischenaufenthalt von zehn Minuten auch gar keine Zeit.
King, Stephen: Es. München 1990, Seite 33 f.
In solchen erläuternden Sätzen springt die Perspektive beständig von einer Person (Elmer Curtie) zu einem überblickenden Erzähler und wieder zurück. Dabei ist nicht wirklich klar, ob jener Elmer reflektierend zusammenfasst, was er erlebt oder erfahren hat oder ob hier ein allwissender Erzähler eingreift und die nötigen Hintergrundinformationen liefert. Diese Erzählsituation, halb zwischen dem personalen und dem auktorialen Erzähler und halb zwischen dem erlebenden und dem reflektierenden Erzähler, ist typisch für Stephen King. Manchmal findet sie sich bei Hemingway, so zum Beispiel in seiner Geschichte Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber (in: Gesammelte Werke Band VI).
In Schulbüchern werden so ganze Werke einem bestimmten Erzählertyp zugeordnet. Doch diese Einteilung ist zu unflexibel. Wir haben es mit Vermischungen und Verschiebungen der Perspektive zu tun. Siehe das Beispiel oben. Faszinierend ist aber auch der Beginn von Thomas Manns Der Zauberberg, der das langsame Hineingleiten aus einer auktorialen Position heraus in eine personale sehr deutlich zeigt. Je näher Hans Castorp dem Lungensanatorium kommt, umso mehr wird aus seiner Sicht geschildert.
Die moderne Erzähltheorie, Stanzels Theorie des Erzählens und Genettes Die Erzählung zum Beispiel, hält noch etwas komplexere (und vor allem flexiblere) Raster bereit. Ich habe hier vereinfacht, weil es für meine Demonstration reicht.

Der Seelenbrecher

Wenn Fitzek aus der Perspektive einer gefolterten und verwirrten Person schreibt, muss er als Unterhaltungsautor natürlich nicht eine strenge Innenperspektive einhalten. Aber er sollte sich schon ein Stück weit daran halten, was die Person sieht und vor allem, wie sie es sieht, also ihr Innenleben "nachahmen". Ein Mensch, der gerade aus einer fürchterlichen Fantasie aufwacht und sich in einer vollkommen fremden Situation wiederfindet, hat wohl leicht andere Probleme, als folgender Satz es andeutet:
Die flächige Tagesdecke auf dem altersschwachen Doppelbett war ähnlich verdreckt und mit ebenso vielen Brandlöchern übersät wie die grün-bräunliche Auslegeware. (Seite 2)
Mit dieser Art von Sätzen wird eine auktoriale Erzählsituation gekennzeichnet. Sie ist wesentlich distanzierter als die personale. Diese Kombination aus einer personalen Erzählsituation, die fast schon eine Innenperspektive ist und die ständigen Einsprengsel eines distanzierten Erzählers zerbrechen die ganze Perspektive. In meinem oben zitierten Beispiel scheint diese fiktive Kamera des Erzählers momenthaft in eine ganz andere Position zu springen; dies hemmt sowohl den Fluss und die Logik der Geschichte, als sie auch die mögliche Identifikation des Lesers mit dem Opfer zerstören.
Nachdem ich Hemingway, vor allem die Geschichte von Francis Macomber, gelesen habe, muss ich zwar meine Meinung zum Perspektivwechsel revidieren. Hemingway springt sehr oft von einer Person zur nächsten und er nutzt nicht nur den personalen, sondern auch den auktorialen Erzähler, aber es gibt einen Grundton in dieser einen Erzählung, die einem ironisch-tragischen Ton gehorcht. Dazu gehört auch die sehr ruhige Art und Weise des Erzählens.
Dagegen wirkt Fitzek sehr gehetzt, eben sehr dramatisch. Dazu passen die distanzierten, rein "empirischen" Sätze überhaupt nicht. Das Detail, dass der "kahlköpfige[r] Rettungsarzt mit einem Ohrring" geschmückt ist, ist völlig überflüssig. An diesem Satz ist dann auch noch besonders delikat, warum der Rettungsarzt gerade einen Ohrring dabei hat und zum Beispiel nicht eine Arzttasche. Durch die Grammatik ist der Satz zweideutig.
Halten wir also fest: Perspektivwechsel sind zwar nicht generell ungünstig, sollten aber mit Vorsicht genutzt werden. Vor allem sollte ihr Ton zueinander passen. Hemingway schafft das, indem seine Geschichte sich natürlich um die Beziehung seiner Figuren dreht und der Perspektivwechsel als Technik die Konflikte verdeutlicht, die nie wirklich ausgetragen werden, sondern sich eher in spitzen Bemerkungen und missachtenden Handlungen ausdrücken. Eine so handlungsreiche Szene wie die von Fitzek geschilderte bietet selten Raum, psychologisch feinsinnige Andeutungen zu machen.

Was mich außerdem geärgert hat: die gefolterte Frau befindet sich noch in dem Zimmer, in dem die Polizei sie gefunden hat. Doch plötzlich scheinen sich alle Anwesenden um die Vermieterin des Hotelzimmers zu kümmern und sie zu verhören (Seite 4). So jämmerlich ist eine Rettungssituation und eine Sicherung des Tatorts wohl selten erzählt worden.
Mal sehen, wie lange ich brauche, bis ich diesen Roman (wahrscheinlich mit angeekeltem Gesicht) in die Bibliothek zurückbringe. Ich werde berichten.

22.05.2013

Simon Beckett: Leichenblässe. Zufälle und Unfälle

Eine der wichtigsten Aufgaben eines Autors ist es, die Geschichte immer wieder so zu verändern, dass sie der Handlung neuen Stoff liefert. In einem Krimi wird dies normalerweise durch eine Annäherung an den Täter erreicht. Zuerst passiert das Verbrechen (meist ein Mord). Durch die Untersuchung des Tatorts kommt der Kommissar dem Täter näher und durch die Untersuchung der Motive kann er schließlich zu so etwas wie einer Lösung gelangen.

Vorgestern habe ich mir einen ruhigen Tag gemacht und Leichenblässe (von Simon Beckett) zu Ende gelesen. Seit ich mich 2008 so intensiv mit der Logik des Kriminalromanes auseinandergesetzt habe, kann ich diese nicht mehr einfach nur so lesen. Mein literaturwissenschaftliches Ich liest ständig mit.
Becketts Roman ist sehr in Ordnung. Er hat eine etwas langatmige und umständliche Erzählweise, was zu den doch recht reißerischen Mordfällen kontrastiert. Doch wenn man sich klassischere Erzählungen ansieht, sind solche langen Beschreibungen durchaus noch kurz. Ich verweise hier zum Beispiel auf die Erzählung Das öde Haus von ETA Hoffmann. Lange Beschreibungen sind auch dann notwendig, wenn ein Tatort, ein Fundstück oder, wie hier, eine Leiche in ihren Details wichtig ist. Da der Protagonist von Leichenblässe, David Hunter, Gerichtsmediziner ist, gibt es sich natürlich, dass der Leser mit längeren Beschreibungen rechnen muss.

Im Folgenden möchte ich zunächst kurz auf die Logik eines Kriminalromans eingehen, bzw. auf die Logik eines Kriminalfalles. Dazu werde ich ein altes Thema aufgreifen, das der Spuren und Indizien. Als nächstes werde ich dies einbinden in Mittel der Erzähltechnik, die ich hier Zufälle und Unfälle nenne. Sie beide haben gemeinsam, dass sie plötzlich auftauchen und gerade in Krimis, die auf Logik verweisen, vorsichtig gebraucht werden sollten. Schließlich gehe ich auf deren Gebrauch in Becketts Thriller ein. (Weitere Anmerkungen zu Becketts Roman, bzw. zum konkreten Erzählen: Emphase und Adjektiv, und zu Perspektivwechsel, dramatischer Ironie und Psychologisierung.)

Kausalität

Die Kausalität ist eine Abfolge von Ereignissen, die auf Tatsachen beruht und sich regelhaft wiederholt. Typisch sind dafür zum Beispiel Naturgesetze. Das Gesetz von der Anziehung der Massen besagt, dass zwei Körper mit jeweils bestimmten Massen sich gegenseitig anziehen und aufeinander zubewegen. Ebenso werden Äpfel im Laufe des Sommers reif. Das ist immer so und kann als Kausalität, als Abfolge von Ursache und Wirkung gelten.
Werden die Äpfel nicht reif, ist dies kein Widerspruch zu der Regel. Hier muss ich nach einschränkenden Bedingungen suchen. Die Äpfel sind zum Beispiel deshalb nicht reif geworden, weil das Frühjahr zu spät angefangen und der Frost zu früh eingesetzt hat.
Kausalitäten beruhen auf Schlussfolgerungen, die gewöhnlich dreigliedrig sind. Sie bestehen aus einer Beobachtung, einer Regel und einer Folgerung. Beispiel: der Apfel fällt vom Baum (Beobachtung), verschiedene Massen ziehen sich an (Regel), die Erde zieht den Apfel an (Folgerung). Ist die Regel allgemein bekannt, kann diese weggelassen werden. Deshalb sind gewöhnliche Vorgänge häufig nicht durch drei Sätze, sondern nur durch zwei Sätze ausgedrückt: der Apfel fällt vom Baum, weil ihn die Erde anzieht. (Ein sehr brauchbares, aber etwas komplexeres Modell bietet das Argumentationsschema von Toulmin.)

Enthymem

Das Enthymem ist ebenfalls eine "zweigliedrige" Schlussfolgerung. Natürlich kann sie auf Regeln basieren. Häufig aber sind es Wahrscheinlichkeiten, die hier genutzt werden. Wenn im Supermarkt abends immer das Hackfleisch vom Rind ausverkauft ist, dann gibt es besonders viele Käufer dafür (ungeachtet der Tatsache, dass der Supermarkt vielleicht viel weniger von der Ware im Angebot hat). Die Wahrscheinlichkeit dahinter ist zwar begründet, aber nicht notwendig: viele Käufer einer bestimmten Ware sorgen dafür, dass diese knapp wird.
Oft bindet sich das Enthymem an bestimmte Einschätzungen oder Wertschätzungen. So wird einer berühmten Persönlichkeit eher geglaubt als irgendeinem Menschen von der Straße. Viele Menschen glauben auch, dass ein teures Produkt besser oder notwendiger sei, als ein billigeres.
Betrachten wir Krimis, dann finden wir in vielen klassischen Whodunits Kausalitäten, durch die ein Fall gelöst wird. Dabei ist es übrigens egal, ob es sich um eine naturwissenschaftlich erwiesene Kausalität handelt oder um eine vom Autor und dessen Vorurteilen geprägte. Wenn der Autor glaubt, dass ein größerer Gehirnumfang auf eine höhere Intelligenz verweise, dann benutzt er dies auch in seiner Konstruktion von Kriminalromanen, ohne die Regel dabei zu erläutern.

Enthymeme sind deshalb so wichtig, weil sie stark sozial geprägt sind. Wird aus einem Haus mit einer Leiche ein kostbares Instrument gestohlen, handelt es sich wohl um einen Raub, bei dem ein Mord passiert ist. Die Regeln im Hintergrund sind folgende: der Täter hat seinen eigenen späteren Vorteil im Blick, also zum Beispiel den Besitz eines kostbaren Gegenstandes; Menschen, die aus persönlichen Gründen morden, stehlen nicht.
Nun hat der Täter allerdings das Instrument nur deshalb gestohlen, weil er eine falsche Fährte legen wollte. Und schon ist der Kommissar dem ganzen auf den Leim gegangen. Der Leser natürlich auch. Besonders auffällig werden Enthymeme dort, wo ein Psychopath zum Serienkiller wird. Der Gerichtsmediziner findet die Spuren an der Leiche, der Tatort liefert weitere Spuren. Das sind die Folgen einer Handlung. Nun gilt es, die Regeln herauszufinden, nach denen der Serienkiller seine Morde verübt. Hier handelt es sich allerdings nicht um Regeln, die unabhängig von ihren Erscheinungsort oder dem sozialen Träger immer gelten, sondern eben um Wahrscheinlichkeiten. Gewohnheiten, vor allem, wenn diese kulturell geprägt sind, oder Zwänge und Wahnvorstellungen gehören zu diesen Wahrscheinlichkeiten. Es sind keine Naturgesetze.
Quintilian schreibt, das Enthymem bedürfe der Auslegung, im Gegensatz zum Syllogismus, der eindeutig sei.

Anmerkung: Ich habe hier das Enthymem als Argumentationsfigur etwas über den Daumen gepeilt vorgestellt. Derzeit bin ich noch am Sammeln, was in der Geschichte der Rhetorik alles als Enthymem verstanden wird. Zwei Zitate von Roland Barthes verdeutlichen mein Verständnis des Enthymems:
Die Rhetorik von Aristoteles ist vor allem eine Rhetorik des Beweises, der Beweisführung, des approximativen Syllogismus (Enthymem); sie ist eine absichtlich vergröberte, dem Niveau des Publikums angepasste Logik, das heißt eine Logik des gesunden Menschenverstandes, der gängigen Meinung.
Barthes, Roland: Die alte Rhetorik. in: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, Seite 15-101, hier: Seite 26.

Das Enthymem hat nacheinander zwei Bedeutungen erhalten (die einander nicht widersprechen). 1. Für die Aristoteliker ist es ein Syllogismus, der auf Wahrscheinlichkeiten oder Zeichen beruht, und nicht auf Wahrem oder Unmittelbarem (wie dies beim wissenschaftlichen Syllogismus der Fall ist); das Enthymem ist ein rhetorischer Syllogismus, der einzig und allein auf der Ebene des Publikums entwickelt wird (wie man sagt: sich auf das geistige Niveau von jemandem einstellen) und vom Glaubhaften ausgeht, das heißt von dem, was das Publikum denkt; es handelt sich um eine Deduktion mit einem konkreten, auf eine Darbietung (eine Art annehmbares Schauspiel) ausgerichteten Wert im Gegensatz zur abstrakten, rein für analytische Zwecke angestellten Deduktion; es ist eine öffentliche Beweisführung, derer sich ungebildete Menschen leicht bedienen können.
ebenda: Seite 60

Indizien und Spuren

Schlussfolgerungen beruhen auf Argumenten. Argumente sind "überprüfbare" Beobachtungen oder Wahrscheinlichkeiten. In Leichenblässe zum Beispiel finden die Gerichtsmediziner in einer Leiche eine Libellenlarve. Diese gehört einer Sumpflibelle. Sumpflibellen kommen an stehenden Gewässern vor und deshalb muss die Leiche an einem stehenden Gewässer gelegen haben. Erst später wurde sie dann von dem Täter an dem Ort platziert, an dem sie von der Polizei gefunden wurde.
Die Libellenlarve gehört zu den Spuren. Eine Spur verweist auf eine vergangene Ursache. Natürlich könnte der Täter die Larve auch bewusst platziert haben (wie zum Beispiel den Totenkopfschwärmer in Das Schweigen der Lämmer), aber das erscheint in diesem Fall als nicht wahrscheinlich. Ursache ist in diesem Fall also, dass die Larve die Möglichkeit gehabt hat, bzw. dass ein Sumpf oder etwas ähnliches in nächster Nähe gelegen hat.
Das Indiz lässt sich von der Spur nicht ganz so einfach trennen. Das Indiz sagt im Prinzip "es gibt (ein noch nicht identifiziertes oder aufgefundenes) X". Wenn die Gerichtsmediziner eine abgetrennte Hand finden, dann ist das ein Indiz dafür, dass irgendwo der restliche Körper existiert. Nun ist die abgetrennte Hand allerdings auch eine Spur. Irgendjemand muss sie (in der Vergangenheit) abgetrennt haben. Sie ist also die Spur eines Verbrechens.
Ganz grob gesagt kann man also diese beiden Begriffe folgendermaßen definieren: die Spur verweist auf eine vergangene Handlung oder ein vergangenes Ereignis; das Indiz verweist auf eine aktuelle, aber nicht wahrnehmbare Existenz. (siehe auch: Zeichen und Bedeutung)

Schlussfolgerung und Argument

Indizien und Spuren liefern dem Kommissar, Gerichtsmediziner, usw. ihre Argumente. Ein Argument ist, entgegen dem alltäglichen Gebrauch, lediglich eine Tatsache, die für einen Beweis genutzt werden kann (hier gefällt mir das alte deutsche Wort besser: Beweisgrund). Solche Argumente werden gesammelt. In Leichenblässe ist die Fundstelle für Argumente meist eine Leiche und der Ort, an dem diese Leiche gelegen hat. So finden die Gerichtsmediziner auf allen diesen Leichen eine ungewöhnlich weit fortgeschrittene Entwicklung von Fliegenlarven. Aus anderen Spuren schließen sie zwar, dass die Leiche seit höchstens fünf Tagen verwesen müsste, aus den Larven aber, dass diese schon seit sieben Tagen aus den Eiern geschlüpft sind.
Wir können hier zunächst sagen, dass ein Argument an sich weder eine Spur noch ein Indiz ist. Erst ihr Gebrauch in einer Schlussfolgerung macht dieses Argument dazu. "Viele Fliegenlarven in diesem Stadium zeigen auf verwesende Fleisch." benutzt die Beobachtung "viele Fliegenlarven" als Indiz; "Viele Fliegenlarven in diesem Stadium beweisen, dass der Körper seit mindestens sieben Tagen verwest." gebraucht dieselbe Beobachtung als Spur.
Spuren und Indizien sind nicht eindeutig.

Disjunktion

Gibt es mehrere Möglichkeiten, von denen aber nur eine richtig sein kann, sprechen wir von einer Disjunktion. Der Tote kann entweder erwürgt oder erstochen worden sein, aber es kann nur eine Todesursache geben. Die Disjunktion enthält also alle Alternativen, die wahrscheinlich sind; die Alternativen widersprechen aber einander. Zumindest in der Logik funktioniert das ganz gut. Im Alltag vergisst man schon mal gerne eine Lösung (oder hat Alternativen, die allesamt zweifelhaft sind). Das Opfer ist weder gewürgt noch durch Messerstiche getötet worden; der Mensch wurde erstickt.

Die Nähe

Wie auch immer man eine Tatsache jetzt im Kriminalroman liest, ob als Spur oder als Indiz, wichtig für den Erzähler ist immer, dass es eine räumliche Nähe gegeben hat. Die Vermischung von Spur und Indiz kann, muss aber nicht getrennt werden. Allerdings gibt es typische Situationen, in denen genau dies wieder wichtig wird. So ist zum Beispiel der Kauf einer Ware an einem bestimmten Ort für die Ermittlungen manchmal besonders relevant. In Donna Leon Krimi Venezianische Scharade werden an einer männlichen Leiche zwei besonders auffällige rote Schuhe gefunden; und der Kommissar stellt fest, dass der Tote offensichtlich erst nach dem Tod "verkleidet" wurde. Die Frage ist dann nicht so sehr, warum der Mann verkleidet wurde, sondern woher die roten Schuhe stammen. Der Kommissar liest also die roten Schuhe nicht als Spur, sondern als Hinweis, dass diese merkwürdigen Schuhe irgendwo verkauft werden. Sie sind ein Indiz auf ein Geschäft. Und natürlich erhofft der Kommissar, dass der Verkäufer sich an den Käufer erinnert und ihm eine Beschreibung liefern kann. Um es ganz penibel zu machen: irgendjemand muss dem Verkäufer "nahe" gekommen sein.
Der Serienkiller in Leichenblässe befindet sich am Romanende auf der Flucht vor der Polizei. Mit seinem Fluchtwagen allerdings baut er einen Unfall und lässt ihn stehen. Der ermittelnde Beamte schließt, dass er irgendwo in der Nähe ein anderes Auto als Ersatz gestohlen hat und wird natürlich fündig. Der Beamte liest also das stehen gelassene Auto als Indiz für einen weiteren Autodiebstahl.

Zufälle und Unfälle

Camilleris Krimi Die Stimme der Violine führt den "Nutzen von Unfällen" vor. Der Kommissar Montalbano lässt sich von einem Polizeibeamte zu einer Beerdigung in einer anderen Stadt fahren. Dieser Polizeibeamte, Gallo, leidet unter dem "Indianapolis-Syndrom", d.h. er fährt immer viel zu schnell. Auf dem Weg zu der Beerdigung läuft ihnen einen Huhn vor das Auto. Gallo weicht aus, fährt dafür aber gegen ein stehendes Auto vor einem einsamen, aber offensichtlich neugebauten Haus. Montalbano hinterlässt einen Zettel an der Windschutzscheibe, wo der Besitzer des Wagens sich melden kann. Nun meldet sich niemand. Montalbano wird unruhig und beschließt auf eigene Faust, sich das Haus näher anzusehen. Was findet er? Eine Leiche!
Wir haben zunächst einen Zufall. Das Huhn kommt aus heiterem Himmel hereingeschneit. Es wird in der typischen Manier von Camilleri als "Selbstmordhuhn" abgetan und verschwindet sogleich wieder aus der Geschichte. Dieser Zufall ist nur ein Auslöser, um den Protagonisten, den Kommissar Montalbano, in die richtige Position zu bringen. Die richtige Position ist, dass sich Montalbano in der Nachbarschaft eines Hauses befindet, das ihn im Laufe des Tages mehr und mehr beunruhigt.
Zufälle und Unfälle geschehen ohne Begründung. Da Krimis häufig auf einer Logik aufbauen, zumindest auf einer Begründbarkeit, sollte man meinen, dass grundlose Ereignisse dort nichts zu suchen haben. Doch das Gegenteil scheint der Fall. Wie die Szene mit dem Huhn den Kommissar "manipuliert", so finden wir dies zum Beispiel auch bei Harry Potter. Harry schleicht nachts durch sein Schulschloss und belauscht "zufällig" den Streit zweier Lehrer. Durch diesen Streit wird er über wichtige Einzelheiten informiert. Man kann an Joanne Rowling sehr gut studieren, wie Zufälle und Unfälle in eine Geschichte eingeflochten werden können. Sie webt allerdings die Zufälle nebenher ein. Im ersten Buch von Harry Potter (Harry Potter und der Stein der Weisen) muss Hagrid mit Harry aus seiner Schatzkammer Geld holen. Hagrid hat allerdings noch einen zweiten Auftrag: ein kleines, schmutziges Päckchen aus einem Hochsicherheitsverlies zu nehmen und nach Hogwarts zu bringen. Harry sieht das und wundert sich, warum ein solches Paket so gut verschlossen ist. Noch ahnt er nicht, dass sich darin der Stein der Weisen befindet, kann es später rückblickend erschließen. In unseren Begriffen: Harry gerät zufällig in die Nachbarschaft eines Gegenstandes, der für die darauf folgende Geschichte wesentlich ist.
Bei Rowling liefern die Zufälle und Unfälle Argumente, die gedeutet werden müssen. Auch Camilleri nutzt diese Art des Zufalls. Die eigentliche Auflösung des Verbrechens gehorcht immer noch der Logik. Schauen wir uns Beckett an, der in Leichenblässe eine etwas andere Vorgehensweise nutzt.

Unfall, Zufall und der deus ex machina

Zu Beginn des Romans begleiten wir die typische Arbeit eines Gerichtsmediziners: er untersucht eine Leiche auf verwertbare Spuren, d.h., dass er die Zeichen zunächst auf ihre physikalische Ursache deutet, dann auf ihre mögliche psychische Ursache. Der Serienkiller entkleidet seine Opfer; dass die Leichen allesamt nackt sind, ist sozusagen die "physikalische Ursache". Der Profiler Irving (ein Profiler erstellt ein psychologisches Gutachten über Straftäter) schließt aus der Tatsache, dass die Ermordeten entblößt und allesamt männlich sind, dass der Täter homosexuell sei; das wäre eine mögliche psychische Ursache.
Nun ist es aber Zufall, dass die gefundenen Körper männlich sind. Man kann dieses Vorgehen falsche Disjunktion nennen. Die Menge der Lösungen, die der Profiler "sieht", ist kleiner als die mögliche Menge der Lösungen. Dies ist eine Möglichkeit, die Geschichte zu manipulieren und zunächst in eine Sackgasse und einen Umweg zu treiben.
Zufälle, so hatte ich oben geschrieben, tauchen im klassischen Whodunit am Anfang auf, während die Lösung des eigentlichen Kriminalfalles einer (vermeintlich) schlussfolgernden Argumentation folgt. Aus den Tatsachen und Ereignissen wird die Identität des Mörders erschlossen. Eine der typischsten Situationen in den ganz alten Krimis findet man im abschließenden Gespräch, in dem der Detektiv (dabei ist ein klassischer Fall Hercule Poirot) alle möglichen Täter in einem Salon versammelt und seine Beweisführung offen legt. Am Ende kann er dann ganz genau sagen, wer den Mord begangen hat.
Dies verläuft bei Beckett anders. Die Libellenlarve, die die Gerichtsmediziner in der Leiche finden, verweist zwar auf ein sumpfiges Gebiet, da die Gegend westlich der Appalachen generell sumpfig ist, würde sich der ursprüngliche Ort, an dem der Tote gelegen hat, sowieso kaum finden lassen (hier findet ihr Fotos von der Sumpflibelle, die in den USA Swamp Darner genannt wird). Zufällig kommt nun David Hunter an einem Waldgebiet vorbei, in dem es von Sumpflibellen wimmelt. Er verlässt sich auf seine "Intuition" und siehe da: er findet ein Haus, das eindeutig auf den Serienkiller hinweist. Dieser Zufall kommt ganz am Ende der Geschichte, widerspricht also dem klassischen Aufbau eines Whodunit. Nun könnte man sagen, dass Beckett einen Thriller geschrieben hat. Aber nach den ganzen vielen Seiten, auf denen uns Beckett durch wissenschaftliche Beweisführungen auf eine logische Aufklärung des ganzen Falles, auf eine entscheidende Lösung hat warten lassen, ist diese Technik doch arg willkürlich eingesetzt. Als ob der Autor nicht mehr gewusst hat, wie er seine Geschichte sonst zu Ende bringen sollte.
Kurz zuvor baut der Serienkiller dann auch noch einen Unfall. Er hat die schwangere Frau vom Leiter der Gerichtsmedizin entführt, indem er mit einem Krankenwagen einen Notfall vorgetäuscht hat. Der sonst so penibel arbeitende Mörder legt hier für die Ermittler eine Spur: er streift ein Auto und rammt dann einen Baum. Am Unfallort stellen die Beamten fest, dass vermutlich der Motor beschädigt ist und dass sich der Täter höchstwahrscheinlich einen anderen Wagen zulegen wird. Nun spricht nichts dagegen, dass auch der perfekte Mörder einen Unfall hat. Aber sowohl die Begegnung mit den Sumpflibelle, als auch der Unfall liefern die entscheidenden Hinweise für den Aufenthaltsort. Die vorherigen Ermittlungen spielen kaum noch eine Rolle. (Ein logisch-erzählerischer Bruch ist zum Beispiel auch, dass sich die Ermittlungen am Anfang auf die Inszenierung der Verwesung durch den Mörder konzentrieren, der Übergang zu dem eigentlichen Motiv aber recht nebensächlich abgehandelt wird.)
Schließlich baut Beckett noch einen sehr ungünstigen Effekt ein, eine Art deus ex machina. Mit dem deus ex machina bezeichnet man eine Lösung, die aus heiterem Himmel in die Geschichte einbricht. In Leichenblässe wird zunächst der Besitzer eines Friedhofes als Hauptverdächtiger identifiziert; dieser befindet sich auch, aber aus ganz anderen Gründen, auf der Flucht vor der Polizei. Erst ganz zum Schluss, als sie den Leichenbestatter schon erschossen haben (der natürlich von dem Serienkiller ebenfalls entführt worden ist), taucht der brave Gehilfe aus der forensischen Pathologie als der eigentliche Täter auf. Er hatte bis dahin eher eine Nebenrolle. Vor allem gab es aber überhaupt keine Hinweise darauf, dass (1) der Friedhofsbesitzer andere Motive haben könnte und (2) der Gehilfe ein schwer gestörter junger Mann ist.
Unbefriedigend ist die Geschichte also deshalb, weil die Hinweise zu offensichtlich manipuliert werden und die Lösung zu willkürlich verläuft.

Bewertung anderer Erzähltechniken Becketts

Zweifellos kann Beckett gut schreiben. Seine Figuren haben die nötige psychologische Tiefe und, was mir sehr gut gefällt, keine Psychologisierung nötig, auch der Serienkiller nicht. Aber nicht nur die Charakterdarstellung, sondern auch die Leserorientierung kann man eigentlich als vorbildlich bezeichnen. Der Leser ist immer orientiert, wo sich der Protagonist gerade befindet. Was als so selbstverständlich gilt, wird häufig nicht gemacht. Gerade von jungen Autoren könnte man hier sehr grobe Fehler zitieren. Personen springen plötzlich von einem Raum in den nächsten oder sie fahren plötzlich mit dem Auto irgendwohin, ohne dass das Motiv dafür klar ist. Hier sind Schriftsteller wie Joan Rowling, Stephen King, Andrea Camilleri und überhaupt die eher "klassischen" Autoren hervorragend zum Studium geeignet. Stephenie Meyer (Twilight) ebenfalls, obwohl ich ihre Geschichten eher mittelmäßig konstruiert finde. Aber bestimmte Erzähltechniken, zum Beispiel auch den Dialog, beherrscht sie für eine Unterhaltungsschriftstellerin hervorragend.
Gute Dialoge findet man auch bei S. Beckett, obwohl er hier, soweit ich das beim ersten Lesen beurteilen kann, insgesamt doch recht farblos und monoton bleibt. Ihm fehlt die Bandbreite an Dialogen und, das finde ich zum Beispiel sehr witzig, er kann seine Figuren nicht "herumzicken" und "flirten" lassen, weshalb Nebengeschichten wie Hunters (erotisches) Interesse an einer der Polizeibeamtinnen mich wenig beeindruckt. Das widerspricht ein wenig seiner guten Charakterdarstellung; er hat hier eventuell eine sehr eingeschränkte Auswahl, die ihm zur Verfügung steht und vielleicht kann er liebende oder hysterische Figuren nicht schildern und bleibt bei seinen ernsthaften und wissenschaftlich orientierten Charakteren.

20.05.2013

Simon Beckett und Hemingway

Heute habe ich mir einen recht gemütlichen Tag gemacht. Ich habe Leichenblässe (Simon Beckett) zu Ende gelesen, mir dann einige Notizen gemacht und schreibe seitdem einen Artikel. Zwischendurch habe ich ein bisschen aufgeräumt, Wäsche gewaschen und in anderen Büchern geschmökert.
Um 19:00 Uhr wollte ich dann ein Feierabend-Bier holen (das habe ich auch gemacht). Dabei bin ich an einem Bücher-Café vorbeigekommen und habe dort die gesammelten Werke von Hemingway entdeckt. Für 25 €. Gebraucht sind diese häufig wesentlich teurer. Ich liebe Hemingway. Jetzt bin ich stolzer Besitzer dieser zehn Bücher.

18.05.2013

Simon Beckett: Leichenblässe. Perspektivenwechsel.

Ich hatte heute Nacht noch eine Anmerkung zu dem Roman Leichenblässe von Simon Beckett geschrieben. Es ist nur eine Anmerkung; ich habe mit der Erzählung selbst noch nicht richtig gearbeitet. Ein zweiter Kommentar betrifft dieselbe Passage, zu finden auf Seite 120-122. Der Roman selbst wird vorwiegend aus der Perspektive eines englischen Gerichtsmediziners namens Hunter geschildert. Ab der Seite 120 allerdings scheint jedes Kapitel mit einem Perspektivwechsel zu enden. Der Autor springt in die Perspektive des Serienmörders. Auf Seite 120-122 ist er dabei, seinen ersten Mord zu begehen. Dazu muss man wissen, aber es versteht sich in diesem Genre ja eigentlich schon fast von selbst, dass es sich um einen Serienmörder handelt, den die Polizei sucht.

Perspektivwechsel und Erzählsituation

Der Perspektivwechsel ist ein sehr beliebtes stilistisches Mittel in der Unterhaltungsliteratur. Er erfordert eine personale Erzählsituation, eventuell auch einen oder mehrere Ich-Erzähler. Was ist eine personale Erzählsituation? Hier schildert der Autor ausschließlich aus der Sicht einer seiner Figuren. D. h. vor allen Dingen, dass die Figur und der Autor in einer naiven Lesart nicht unterschieden werden. Wechselt der Autor nun die Perspektive, bleibt aber in der personalen Erzählsituation, dann verfügt er plötzlich über ein anderes Wissen. Diese Erzähltechnik (personale Erzählsituation plus Perspektivwechsel) ist, will man sie gut anwenden, schwierig umzusetzen.
Beckett nun nutzt sowohl für seinen Protagonisten, den Gerichtsmediziner, als auch für seinen Serienmörder die Ich-Perspektive. Das macht die Sache noch ein wenig komplizierter. In diesem Fall muss der Autor nämlich nicht nur auf die Perspektive und ihrem jeweils beschränkten Wissen achten, sondern auch auf die typischen stilistischen Merkmale, die eine Person in der Sprache mit sich bringt. Dies tut Beckett meines Erachtens nicht. Vom Stil her ist die kurze Passage mit dem Mörder nicht zu unterscheiden von den Gedanken des Protagonisten. Grafisch ist sie durch Kursivschrift abgesetzt; inhaltlich durch eine Handlung, die nicht zum Protagonisten passt. (Siehe auch Perspektivwechsel: darf man in einer Szene von einer Person zur anderen springen?)

Dramatische Ironie

Mit dem Perspektivwechsel einher geht eine andere literarische Technik (nicht immer), die dramatische Ironie. Damit ist gemeint, dass der Leser mehr weiß als der Protagonist. Dadurch entsteht eine Spannung: Wird der Protagonist das Problem entdecken? Wie wird er sich aus der Schlinge ziehen?
Für mich ist eine der schönsten Beispiele eine Stelle aus Hitchcocks Klassiker Der unsichtbare Dritte. Erzählt wird die Geschichte des Werbefachmanns Thorndike, der unbeabsichtigt für einen feindlichen Agenten gehalten wird. Nun ist der Trick an der ganzen Sache, dass sich die Regierungsbehörde diesen feindlichen Agenten zur Täuschung ausgedacht hat. Der echte Agent existiert also gar nicht, soll allerdings von der Gegenseite als echt aufgefasst werden. Thorndike, der mit dieser ganzen Sache nichts zu tun hat, begibt sich auf die Suche und findet natürlich nichts. Er weiß nur, dass irgendwelche Menschen ihn umbringen wollen. Der ganze Film ist aus der Perspektive von Thorndike geschildert, bis auf einen kurzen Moment. Diese zeigt die Regierungsbehörde, bzw. ein Gespräch zwischen den Verantwortlichen, in der diese beschließen, Thorndike nicht zu helfen und ihn dem Tod auszuliefern. Thorndike weiß dies nicht, aber der Zuschauer.
Beckett nutzt diese dramatische Ironie nicht ganz so deutlich. Ironisch ist hier meiner Ansicht nach vor allem, dass der Serienkiller als allererstes eine Frau umbringt, während der Profiler Dr. Irving der Ansicht ist, dass die gesuchte Person aus homosexuellen Motiven handelt. Irving wurde in den Fall mit einbezogen, um ein Profil des Täters zu erstellen. Er wird von Anfang an als arrogant, beleidigend und insgesamt unsympathisch dargestellt. Durch den Perspektivwechsel kann nun der Leser damit rechnen, dass er sich furchtbar blamieren wird. Die Spannung wird also durch vorausgenommene Schadenfreude erzeugt.

Psychologisierung

Eine der angenehmen Seiten von Beckett ist, dass er sich mit der direkten Psychologisierung zurückhält. Es gibt ja immer diese unangenehmen Stellen, in denen der Roman in eine psychologische Abhandlung kippt, in der die Figuren in ihrem Seelenleben erläutert werden, als handele es sich um eine Patientenakte. Wenn dann noch schlecht recherchiert wurde und einer Schizophrenie völlig neue Symptome angedichtet werden, die kein Psychiater unterschreiben würde, dann lege ich das Buch aus der Hand. Ich konnte zum Beispiel den Roman Roter Drache von Thomas Harris nicht weiterlesen. An der Stelle, an der er den Mutterkomplex seines Serienmörders ausführt, ist es mir zu viel geworden.
Psychische Eigenschaften gehören zu den Ideen. Eifersucht, Freude, Angst, Süchte, all dies sind Ideen, die sich zwar in typischem Verhalten niederschlagen, aber selbst nicht sichtbar sind. Die Aufgabe des Autors ist es nun, diese psychischen Eigenschaften in Verhaltensweisen zu übersetzen. Diesen Vorgang nennt man Hypotypose, zumindest bei Kant (Urteilskraft, § 59); heute kann man dafür auch das Wort Metaphorik oder Verbildlichung finden (und ich weise nochmal darauf hin, dass dieses Wort unglücklich gewählt ist, denn eine Metapher ist etwas anderes: siehe dazu Metaphorik. Strategien der Verbildlichung).
Natürlich darf man sich auch als Autor die eine oder andere psychologische Anmerkung leisten. Aber man sollte aufpassen, dass der Roman nicht von einer Erzählung in eine Belehrung kippt. Dafür gibt es Fachbücher.
Sieht man sich die Stelle bei Beckett an, auf die ich mich beziehe (Leichenblässe, Seite 120-122), so kann man rasch die Technik erkennen, mit der sich der Autor sämtlichen Psychologisierungen entzieht: er lässt den Serienmörder seinen ersten Mord schildern und seine vermeintlichen Motive. Das reicht auch. Es reicht, wenn der Killer sich selbst kommentiert: "Die ganze Sache ist viel zu plötzlich passiert, auch das mit dem Messer …" (Seite 122). Spätestens hier wird deutlich, dass er weiter morden wird und dass er nicht aus Habgier, Not oder ähnlichen Motiven handelt, sondern in der Tätigkeit des Mordens selbst eine Perfektion, eine Erkenntnis sucht.

Simon Beckett: Leichenblässe. Emphase und Adjektiv.

Ich lese seit etwa drei Tagen das Buch Leichenblässe von Simon Beckett. So richtig komme ich nicht voran; das mag daran liegen, dass ich mir die Erzählweise doch genauer ansehe. Auffällig ist, dass Beckett eine recht langsame Gangart pflegt, zum einen durch wesentlich längere Beschreibungen als man dies zum Beispiel von Camilleri oder Simenon kennt. Zudem musste ich natürlich in meinem Hegel (Phänomenologie des Geistes) weiterlesen.
Trotzdem möchte ich auf einige Textstellen bei Beckett hinweisen. Er ist insgesamt ein vielleicht nicht besonders aufregender, aber durchaus kompetenter Schreiber. So beherrscht er zum Beispiel die Personencharakterisierung sehr gut, wodurch seine Figuren eine psychologische Glaubwürdigkeit erhalten, die man heute im Thriller eher selten findet.
Als erstes möchte ich eine Textstelle erläutern, in der "zu viele" Adjektive auftauchen, die aber eine sehr genaue Funktion hat, weshalb es dann doch nicht zu viele Adjektive sind.
[Es ist, weil ich zwischendurch in "meinen" Büchern zur Philosophie der Grammatik hängen geblieben bin, mittlerweile vier Uhr morgens. Ich werde die zweite Anmerkung morgen in einem weiteren Artikel geben:] Zweitens wechselt Beckett eine kurze Passage in die Perspektive des Serienmörders. Diese Stelle ist im Gegensatz zu vielen solcher Perspektivwechsel äußerst akzeptabel, da der Autor sich mit bizarren psychologischen Begründungen (die überbehütende oder eisige Mutter sei an allem schuld!) zurückhält.

Adjektiv und Emphase

Emphase

Die Emphase ist eine Betonung. In einer mündlich vorgetragenen Rede kann man sie sich ein wenig salbungsvoll oder missionarisch vorstellen. In einem geschriebenen Text brauchen wir andere Mittel, um diese Verstärkung deutlich zu machen. Auf der anderen Seite können wir hier keine Übertreibungen gebrauchen, zumindest nicht in einem auf wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit und Spannung angelegten Roman. Wissenschaftlich ist der Roman deshalb, weil er immer wieder wissenschaftliche Erklärungen zur Eingrenzung und Ermittlung des Täters gibt. Hauptfigur ist ein Gerichtsmediziner.

Innensicht eines Serienmörders

Die folgende Stelle wird allerdings aus der Perspektive des Täters geschildert. Auf zweieinhalb Seiten erzählt der Autor aus der Innensicht den ersten Mord des Serienmörders. Es handelt sich um eine betrunkene Frau, die der Mörder in einer Bar schon länger observiert hat. Er wartet, bis sie herausgeschmissen wird. Dann schreibt Beckett folgendes:
Du hast gewartet, bis sie die Geduld des Barkeepers erschöpft hat. Während sie ihn noch angeschrien hat, mal fürchterlich fluchend, mal weinerlich flehend, bist du unbemerkt hinausgeschlichen.
Beckett, Simon: Leichenblässe, Reinbek bei Hamburg 2009, Seite 120
Die drei Adjektive, auf die ich hier hinweisen möchte, qualifizieren das Verb. Die Frau flucht nicht, sondern sie flucht fürchterlich. Wir finden solche Stellen immer wieder bei Beckett. Anscheinend, aber das ist jetzt nur eine grobe Einschätzung, dienen sie dem Kontrast und der Verdeutlichung. An dieser Stelle markieren die beiden Sätze so etwas wie einen Wendepunkt. Vorher lag der Mörder auf der Lauer; jetzt ist er auf der Jagd.

Maßlosigkeit

Die Beschreibung der Frau deutet auf eine Maßlosigkeit hin, während der Täter sehr planvoll und diszipliniert vorgeht. Die Frau ist auffällig, der Täter unauffällig. Die Frau flucht und fleht, der Täter schleicht. Diese Adjektive (die man früher als Adverben bezeichnet hat) und die sehr konkreten Verben selbst bilden so etwas wie eine Spannung: die Frau, die sich betrunken jedem an den Hals schmeißt, kann man nicht mögen; der Mörder dagegen spricht etwas an, das sich viele Menschen wünschen: die Voraussagbarkeit, das Gelingen eines Plans. Trotzdem wünscht man dieser Frau nicht den Tod. Beckett nun kreuzt hier die hintergründigen Bedeutungen sehr geschickt: auffällig/unauffällig, exaltiert/rational, tot/lebendig, Opfer/Mörder.

Adjektive im Prädikat

Die Emphase, wie ich sie hier analysiert habe, kann natürlich nicht für sich alleine stehen, sondern gewinnt ihren Charakter im Kontext. Sie wirkt meiner Ansicht nach nur deshalb, weil von dem Gang der Erzählung her die Schwelle zu einer anderen wichtigen Aktivität überschritten wird (Lauer/Jagd) und weil das Opfer unsympathisch dargestellt wird, aber Opfer bleibt, weil es nur unglücklich, aber nicht bösartig ist.
Schließlich muss man beachten, wo Beckett seine Adjektive hinsetzt. Sie qualifizieren direkt die Verben, also Tätigkeiten. Im ganzen Absatz, in dem die zitierte Stelle steht, findet sich sonst nur noch ein Adjektiv: "… das gelbe Licht der Straßenlaternen …". Auch im vorhergehenden Satz finden sich viele Arten Verben, dagegen gar keine anderen Adjektive. Das ist auffällig und gibt einen brauchbaren Schreibtipp ab:
Sei mit Adjektiven sparsam, es sei denn, du kannst damit ein Verb, also eine Tätigkeit, präzisieren.

Emphase und Kontrast

Die Emphase entsteht, allerdings nur bezogen auf das Zitat, durch sehr konkret vorstellbare Tätigkeiten, die zueinander im Kontrast stehen. Dies muss man übrigens sehr deutlich von einer Detailverliebtheit abgrenzen. Die ganze Passage (Seite 120-122) enthält nur sehr wenige konkrete Merkmale von Gegenständen oder Orten. Nur zu Beginn wird die Frau mit einigen Adjektiven geschildert, anderthalb Seiten später noch einmal die Gasse, in der der Mörder die Frau umbringt. Ansonsten sucht man sie, denn sie sind selten.

Zur Grammatik: die Adjektivgruppe

1. Anmerkung: Die Bezeichnung Adverb ist nicht ganz korrekt. Der Duden nennt sie Adjektivgruppe und definiert: "Satzglied mit einem Adjektiv oder Partizip im Kern" (Grammatik, Seite 860); allerdings handelt es sich hier um ein besonderes Satzglied, das bestimmte Grammatiken als Satzkern betrachten und Prädikat nennen. Dieses bezieht sich immer auf das Satzglied mit dem Verb. Das Adjektiv darin wird adverbial gebraucht, ist aber kein Adverb im eigentlichen Sinne (Grammatik, Seite 262).
2. Anmerkung: In der Grammatik unterscheiden wir zwischen Wortarten und ihrem Gebrauch im Satz. Die Wortarten dienen einer ersten Identifikation. Der Gebrauch im Satz dagegen muss aus dem Kontext erschlossen werden. Verben "werden zu" Teilen eines Prädikats und bestimmen den Satzteil als Prädikat. Die Verwirrung, die hier beim Normalbürger herrscht, ist verständlich. Wortarten stehen "für sich alleine" und sind im Rechtschreibduden zuhause, während Satzglieder nur im Kontext eines Satzes erschlossen werden können, und sowohl formalen Regeln gehorchen als auch der Bedeutung im Zusammenhang.
So macht ein Satz wie "Der Hahn bellt jeden Morgen die Manager aus dem Schlaf." zunächst keinen Sinn. Ein Hahn bellt nicht und wir verknüpfen ihn auch eher mit dem Beruf des Bauerns. Nehmen wir aber denselben Satz als Beispiel für einen unsinnigen Satz, macht genau dieser unsinnige Satz als Beispiel wieder Sinn. Und natürlich können wir hier auch einen Kontext konstruieren, in dem der Hahn eine Kurzform für den Namen "Markus Hahn" ist, der gerade ein Erlebnisseminar mit Managern durchführt. Auch dann macht dieser Satz plötzlich Sinn.
Der "Skandal" an diesem Beispiel ist, dass ein grammatisch korrekter Satz inhaltlich trotzdem völlig wirr sein kann; dass derselbe wirre Satz aber im Kontext von anderen Sätzen wiederum klar werden kann. Und dies zeigt, dass ein Mensch, der allein auf die formale Einhaltung der Grammatik pocht, nur eine sehr einseitige Betrachtung der Sprache betreibt.

16.05.2013

Ich bin dann wohl kein Protestant; Interpretation als Zwang?

Die literarisch-lebensweltliche Basis all dieser protestantischen Erbauungsliteratur ist aber das Tagebuch, in dem jeder einzelne, als Individuum, vor sich und Gott Rechenschaft ablegt über die geistige Bedeutung dessen, was ihm Tag für Tag widerfahren ist. Die Kunst- und Fiktionsfeindlichkeit des Puritanismus hat also ihr Gegenstück in einem ausgeprägtem Deutungs- und Interpretationshang, einem Drang zum Zeichen-Lesen sondergleichen, der im Extremfall kein Detail des Lebens unübersetzt lassen kann: Alles ist (potentiell) Signifikant, alles ist Zeichen, alles ist nicht nur es selbst, sondern bedeutet zugleich auch etwas anderes. (Bode, Christoph: Der Roman, Tübingen 2011, Seite 49)
Protestanten sind paradoxerweise in all ihrer Literaturfeindlichkeit die besten literarischen Leser, die man sich vorstellen kann: Sie springen auf Doppelkodierung an, ja, sie tragen diese Herangehensweise an die Texte heran, weil ihnen das das Normale und einzig Sinnvolle scheint. Sie bringen schon mit, was essentiell für literarische Lektüre ist: ein extrem ausgeprägtes Zeichen-Bewusstsein. (ebenda, Seite 50)
Bode schildert hier fast den umgedrehten Fall zu dem, was ich den hysterischen Leser nenne: der hysterische Leser fällt dadurch auf, dass er (1) Romane ausschließlich inhaltlich liest, (2) Inhalte nur undeutlich oder sogar falsch wiedergibt, (3) die Leseleistung besonders in Seitenzahlen ausdrückt. Gerade finde ich eine Notiz, in der ich dies symbolische Selbstvergessenheit nenne. Die konnotative Schicht wird beim Lesen komplett missachtet. Dabei scheint mir die konnotative Schicht mit ihren Symbolen, rhetorischen Figuren und strukturellen Zusammenhängen für die Einheit eines Textes, also zum Beispiel einer Geschichte, besonders wichtig zu sein. Ich habe auch noch nie einen Text gelesen, der diese konnotative Schicht ausblenden konnte: der Grund dürfte klar sein. Die Konnotation bezieht sich auf das Zwischen-den-Zeilen-lesen, enthält also einen großen Anteil an Aktivität beim Leser.
Wer also konnotativ liest, findet immer wieder diese konnotative Schicht, dieses: es bedeutet mehr, als offensichtlich da steht. Tolkien wehrte sich dagegen, dass sein Buch Herr der Ringe eine Allegorie des Dritten Reichs sei. Aber das liegt gar nicht in seiner Hand. Der Leser entscheidet, ob er eine Geschichte als Allegorie liest. Er entscheidet, ob er eher ein protestantischer oder ein nicht-protestantischer Interpret ist.

Demnach wäre ich wohl ein Protestant. Ich würde ja, so bekomme ich öfter als Rückmeldung, jeden Satz und jedes Wort herumdrehen. Was nicht ganz richtig ist, denn ich lese seit heute Simon Beckett Leichenblässe und bin ohne großes Nachdenken auf Seite 100. Ungefähr. Viel Zeit hatte ich nicht.
Aber es ist schon richtig: wenn man bestimmte Methoden lange genug geübt hat, springen sie einem automatisch in das "normale" Lesen hinein, ohne dass man das beabsichtigt. Dieser Zustand ist eigentlich ziemlich angenehm. Früher, an der Uni, habe ich mich mit der systematischen Anwendung von Methoden noch herumgequält. Wenn man sie lange genug wiederholt, werden sie automatisiert. Wobei man wiederum mit dieser Automatisierung vorsichtig sein sollte. Manchmal ergreifen diese Interpretationsmuster so stark Besitz von unserem Denken, dass sie eher uns als wir sie beherrschen. Gehen wir mit solchen Deutungsansätzen willentlich um, handelt es sich um eine Methode; passieren sie uns unwillentlich und häufig, ist es eine hartnäckige Gewohnheit oder sogar ein Zwang.
Bode beschreibt nun den Protestanten als jemanden, der gar nicht anders kann, als Zeichen zu deuten. Damit würde er (der Protestant) auf Augenhöhe mit den modernen Kulturwissenschaftlern liegen, die die Kultur als ein Gefüge an Zeichen ansehen (vergleiche Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.): Kultur als Text, Frankfurt am Main 1996; mittlerweile als Neuauflage bei UTB). Kulturwissenschaftler allerdings reflektieren auf diesen Zeichengebrauch kritisch, während der von Bode geschilderte Protestant dies gerade nicht betreibt und wahrscheinlich auch nicht kann.
Und dann bin ich hoffentlich kein Protestant.

14.05.2013

Die leidlichen Rezensionen; Ratgeber zu schreiben kann auch ein Abenteuer sein!

Es ist schon erstaunlich, was sich manche Menschen zusammenlesen. So hat sich eine gewisse Christel Spanik über mein Rhetorik-Buch folgendermaßen geäußert:
Das war eine Recherche - Zusammentragung von Literatur, aber es wurde nichts zu wirklichen Tipps verarbeitet. Der Autor wollte sich offensichtlich noch viel Geheimtipps fúr andere Publikationen aufsparen.
Wenn man sich meinen Klappentext durchliest, kann man sich nur wundern: ich hatte nichts Neues versprochen, sondern nur das best practice einer über 2000 Jahre langen fachlichen Tradition. Insofern ist der erste Halbsatz schlichtweg eine Umformulierung.
Was "wirkliche" Tipps sind, weiß ich nicht. Das Textmuster "Tipp" sehe ich gleichbedeutend mit dem "Rat", bzw. der "Maxime". Maximen sind allgemeine Handlungsempfehlungen und genau dies habe ich angeboten. Allgemein müssen diese bleiben, da man nur in einer konkreten Situation spezifisch werden kann, also auf einen bestimmten Menschen zugeschnitten. Wenn Frau Spanik das gesucht hat, braucht sie aber keinen Ratgeber, sondern einen Coach, jemanden, der ihr behilflich ist, diesen letzten Schritt in die eigene Praxis zu gehen.
Schließlich ist der zweite Satz eine pure Unterstellung und Boshaftigkeit. Die Kommentatorin wollte wohl darauf hinweisen, dass ich hier Beutelschneiderei betreibe und ein Rhetorik-Buch nach dem anderen "heraushauen" will. Natürlich schreibe ich viel über die Rhetorik. Aber mein Blog ist dann doch eher der analytischen Rhetorik verpflichtet, statt der rein praktischen. Und selbstverständlich wird es dazu dann auch irgendwann Bücher geben.
Inhaltlich sehe ich mein Buch durchaus kritisch. Es gibt andere hervorragende Autoren im praktischen Bereich, so zum Beispiel Thomas Schlayer. Auch er bringt nur lang bekannte Tatsachen. Vieles von dem, was wir schreiben, hat schon Cicero geschrieben. Nur ist das, was Cicero dort erörtert, auf die damalige Situation im römischen Reich zugeschnitten und von seiner Sprache her auf die damaligen Verhältnisse angepasst. Wir modernisieren solche Texte und akzentuieren sie anders. Das macht Schlayer genauso wie ich. Unsere Bücher unterscheiden sich vor allem in bestimmten Schwerpunkten und in den Erläuterungen zu bestimmten Tipps.
Ganz konnte ich mir allerdings die Neuerungen nicht verkneifen. Schon seit Jahren wundert es mich, dass Ergebnisse der Sprechakttheorie nicht in der praktischen Rhetorik auftauchen. Ich habe Sprachwissenschaften studiert, als Teilgebiet der Germanistik. Dort kommt man um die Sprechakttheorie gar nicht herum. Sie untersucht die Sprache als Handlung. Genau das aber wollen zum Beispiel Verkaufstrainer oder Kommunikationsberater: Sie wollen ihren Kunden beibringen, wie diese mit der Sprache wirksam werden können. Ich habe also die Sprechakttheorie, allerdings noch sehr oberflächlich, in dieses Gebiet der praktischen Rhetorik eingebunden. Insofern ist mein Buch sogar "innovativ" und geht über die reine Vermittlung der praktischen Rhetorik deutlich hinaus.

Eine weitere unsinnige Rezension findet sich in meinem Kommunikationsbuch. Ein Hans Joachim Hock wirft mir vor: "So geht jedenfalls keine systemische Kommunikation.!!!" Das ist natürlich kompletter Unsinn. Hier muss man allerdings vorsichtig sein. Niklas Luhmann, auf den ich mich sehr stütze, erläutert in seinem Buch Soziale Systeme, dass jede Kommunikation auf einer Paradoxie beruht, also einen internen Widerspruch "aufzulösen" hat, der sich aber nicht auflösen lässt, es sei denn durch Blindheiten. Dadurch scheint sich bei dem Rezensenten die Überzeugung eingeschlichen zu haben, Kommunikation sei immer falsch. Das aber meinte ich gar nicht. Das meinte auch Niklas Luhmann nicht. Herr Hock hat sich dann wohl eher an den systemischen Ratgebern orientiert, die das Blaue vom Himmel versprechen und die leider mit der Theorie von Niklas Luhmann wenig zu tun haben.
Besser wäre gewesen, die Kommunikation immer als unvollständig zu betrachten. Ob man dies nun als Mangel ansieht oder als Chance, ist wohl eine Geschmacksfrage. Wenn ich zum Beispiel einen Anruf von einer dieser Callcenter bekomme, die mir ein neues Produkt verkaufen wollen, sehe ich das meist nicht als Last an, sondern als Chance, meinen Widerstand gegen Verkaufsargumente zu prüfen.
So entpuppt sich die Kritik von Herrn Hock leider als eine Art indirekter Selbstkritik: seine Argumente greifen fehl. Ärgerlich an der ganzen Sache ist nur, dass Einsteiger das eben noch nicht beurteilen können.

Lustig fand ich folgende Rezension zum selben Buch:
Gut. Hat mehr als drei Sterne, aber ich belasse es auf 3 Sterne Passende Inhalte, gesucht, vielversprechend, vielaussagend. Kleine Geschichte über die Idee.
Da hat aber jemand Lust gehabt! - Übrigens schreibe ich keine Geschichte über die Idee, sondern stelle kurz diesen Begriff dar, weil er für viele klassische Romane wichtig ist. Ansonsten hätte ich bei Platon und seinem Höhlengleichnis anfangen müssen.

Ihr merkt: ich bin etwas genervt. Ich bekomme häufiger Zuschriften per E-Mail, die mich loben oder beschimpfen. Natürlich freue ich mich über ein Lob. Beschimpfungen gehen nur an mich, wenn ich gerade einen meiner sensibleren Tage habe. Am meisten aber freue ich mich über konstruktive Kritik, auch wenn diese mal nicht positiv ausfällt. Ansonsten finde ich es immer schwierig, bei Ratgebern das Maß zwischen Rezepten der Praxis und theoretischen Erläuterungen zu halten. Während sich der eine Leser durch Rezepte gegängelt fühlt, versteht der andere Leser die Theorie nicht, weil sie ihm zu fremd ist und vermisst dann die Praxis.

13.05.2013

Humor als Gespenst

Was ich an dem Humor, bzw. der Rhetorik des Humors so spannend finde, ist, wie vielfältig er daher kommt, von den skurrilen Wort-Auswüchsen eines Walter Moers, zu den befremdlich-drolligen Episoden eines Paasilinnas bis hin zu der unterschwellig aggressiven Ironie eines Robert Walsers. Der Humor ist eine Art literarisches Gespenst, ein Wesen, das noch nicht seine Gestalt gefunden hat und, das ist mittlerweile meine feste Überzeugung, auch seine Gestalt nicht finden darf.

Humor: wann Detailverliebtheit sinnvoll ist

Eins meiner Projekte, das ich nebenher immer wieder weiterführen, ist die Rhetorik des Humors. Das ist eine schöne Aufgabe, aber relativ komplex. Einfacher dagegen sind bestimmte Phänomene im Text, die entgegen den Empfehlungen für junge Autoren gerade in humorvollen Texten wichtig sind. Ich habe hier zwei zusammengefasst: den übermäßigen Gebrauch von Adjektiven (auch Adjektivitis genannt) und die übertriebenen (hyperbolischen) Aufzählungen.

Adjektivitis

Walter Moers beschreibt in seinem Roman "Der Schrecksenmeister" die Stadt Sledwaya (eine deutliche Anspielung auf Gottfried Kellers Seldwyla):
"Eine kleine Stadt mit krummen Straßen und schiefen Häusern, über der ein schauriges schwarzes Schloss auf einem dunklen Felsen thronte." (Seite 9)
Warum funktioniert dieser Satz? Schlicht gesagt: er wirkt lächerlich, und weil er lächerlich wirkt, passt er in den skurrilen Kontext.
Jedes Objekt ist mit einem Adjektiv versehen. Aber nicht nur das: alle diese Adjektive passen zu einer bestimmten Isotopie (Ebene der Bedeutungsgleichheit: siehe meinen Artikel Isotopien (Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane)). In diesem Fall, zusammen mit der ganzen Textstelle, in der dieser Satz auftaucht, kann man die Isotopie mit "Krankheit und Tod" benennen.
Semantisch gesehen wird die Isotopie verdichtet. Es gibt nur Krankheit und Tod und nichts, was alternativ aufgesucht werden kann. Damit aber landen wir bei einer Art syntaktisch-textuellen Hyperbel, einer Übertreibung, die in die Karikatur hineinspielt. Übrigens benutzt Moers diese Art der Hervorhebung eher selten. Häufiger sind bei ihm Beschreibungen, die zwar viele Details benennen, aber die Mittel zur Darstellung deutlich variieren. (Das ist eine meiner Sammlungen zu Walter Moers: die hyperbolische/satirische Beschreibung.)

Übertriebene Aufzählung

Immer wieder finden sich bei Moers Aufzählungen. Meist haben diese die klassische Form der Dreierfolge, wie zum Beispiel hier:
"Eine Stadt, in der man nicht lebte, sondern vegetierte. In der nicht geatmet wurde, sondern geröchelt. In der niemand lachte, sondern jeder jammerte." (Seite 9)
An dieser Textstelle fällt vor allem auf, dass ein allgemeines Verb (leben, atmen) durch ein Wort ersetzt wird, das "noch irgendwie" zur gleichen Isotopie wie das allgemeine gehört, aber im selben Moment die Isotopie "Krankheit und Tod" genauso benennt. Eine zweite Sache fällt auf: die Wiederholung wird auf der syntaktischen Ebene durch eine Anapher gestützt. Die Anapher ist eine rhetorische Figur. Sie bezeichnet eine Häufung gleicher Satzanfänge, bzw. gleichgestellter Satzteile. In diesem Fall finden wir die Phrase "in der man nicht …". Diese rhetorische Figur kann man allerdings auch häufig in politischen Reden beobachten, zum Beispiel, wenn ein Oppositioneller der Regierung alle ihre Fehler vorhält. Es gibt dort ein schönes Beispiel von Jürgen Trittin, in der er zehnmal oder zwölfmal den gleichen Satzanfang benutzt, um der CDU vorzuwerfen, welche Wahlversprechen sie alle gebrochen hat. Leider finde ich gerade nicht das Video auf YouTube.
Ebenso ist die Anapher ein stilistisches Mittel in der Kinderliteratur:
Der Opa behauptet, er kennt Rosalindes Gedanken im Kopf trotzdem. "Wenn du denkst und dabei Nase bohrst", sagt er, "dann hast du Ein-mal-eins-Gedanken im Kopf!"
"Wenn du denkst und dabei deine Zungenspitze aus dem Mund schaut, hast du Kleinschreib-Großschreib-stumme-H-Gedanken im Kopf", sagt er.
"Und wenn du denkst und dabei die Augen zukneifst und ganz dünne Lippen bekommst, dann hast du Wut-auf-jemanden-Gedanken im Kopf", sagt er.
"Und wenn du beim Denken runde Glitzeraugen und feuchte Lippen bekommst, dann hast du Schlagoberstorte- möchte-ich-Gedanken im Kopf", sagt er.
Der Opa sagt, er hat Rosalinde jahrelang genau beobachtet, er weiß Bescheid. Er kennt sich in Rosalindes Kopf so gut aus wie in seinem eigenen.
Nöstlinger, Christine: Rosalinde hat Gedanken im Kopf. Hamburg 1981, Seite 5-6.
Natürlich sind solche Wiederholungen auch humorvoll. Sie haben in diesem Fall aber (meiner Ansicht nach) vor allem auch einen pädagogischen Effekt: sie verdeutlichen (oft) ein Problem. ("Oft" heißt, dass dies nicht die einzige rhetorisch-textuelle Wirkung ist, die bei Kinderliteratur genutzt wird. In den Petterson-und-Findus-Büchern dient sie der genaueren Beschreibung; oder sie kann auch einen dramatischen Effekt in die Länge ziehen.)
Eine weitere, übertriebener Aufzählung steht fast direkt zu Beginn, am Ende des ersten Absatzes:
In der es die seltensten Bakterien und kuriosesten Krankheiten gab: Hirnhusten und Lebermigräne, Magenmumps und Darmschnupfen, Ohrenbrausen und Nierenverzagen. Eine Zwergengrippe, die nur Personen unter einem Meter Körpergröße befiel. Geisterstundenkopfweh, das Schlag Mitternacht begann und Punkt ein Uhr verschwand, jeweils am ersten Donnerstag jedes Monats. Phantomzahnschmerzen, die ausschließlich Leute bekamen, die schon Gebisse trugen. (Seite 9)

Schluss

Wiederholungen und der übermäßige Gebrauch von Adjektiven sind also keine stilistische Fehlgriffe, wenn sie im richtigen Kontext benutzt werden. Die humorvolle Literatur (mit der ich alle Literatur bezeichnet, deren Intention es ist, die Menschen zum Schmunzeln oder zum Lachen zu bringen) lebt geradezu von diesen rhetorischen Phänomenen.

Die Rhetorik des Humors ist allerdings insgesamt eine recht komplexe Angelegenheit. Ihr habt das mit Sicherheit selbst gemerkt: hier verflechten sich so viele stilistische Besonderheiten ineinander, dass man sie in ihrer gemeinsamen Wirkung kaum zu trennen vermag. Das ist eines der Probleme, mit denen ich mich bei der Analyse und der systematischen Darstellung herumschlage. Denn eigentlich wollte ich schon letztes Jahr im Spätsommer ein Büchlein über die rhetorischen Mittel bei Walter Moers veröffentlichen. Aber gerade Moers zwingt einen dazu, dann sämtliche rhetorischen Teilgebiete mitzuanalysieren. Meine erste Rohfassung dieses Textes ist viel zu lang und ausufernd geworden, meine zweite, in der ich mich auf zentrale Aspekte von Moers' Humor bezogen habe, zu kurz und, so fürchte ich, zu unverständlich.
Da ich gerade dabei bin, meine Kommentare des letzten Jahres in meinen Zettelkasten einzubinden, bin ich auf diese Aufzeichnungen gestoßen. Ich habe die ersten davon herausgegriffen (deshalb zitiere ich nur den Anfang des Romans), um sie hier vorzustellen.

10.05.2013

Lieber Thomas Hayo von Germany's Next Topmodel!

"Dein Body ist nicht in Bikini Shape", meldete sich der Modelscout zu Wort. Im Klartext: "Mach mehr Sport oder iss weniger."
So muss man sich erstmal ausdrücken können. Wir grüßen zurück: Deine language ist nicht in German Shape. Mach mehr Sprachkurse oder rede weniger.

ADHS: Metapher für unerwünschtes Verhalten?

Der amerikanische Psychiater Leon Eisenberg gilt als der Erfinder des psychiatrischen Krankheitsbilds Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätssyndrom, kurz ADHS – im Volksmund auch Zappelphilipp-Syndrom genannt. Mit diesem Etikett werden Kinder und Jugendliche pathologisiert, die in der Schule durch unruhiges, impulsives Verhalten auffallen. In der Regel wird dann von Psychiatern das Stimulanz Methylphenidat (Handelsname Ritalin) verschrieben, welches von Spöttern auch als “Koks mit Kinderfreigabe” bezeichnet wird. Kritiker unterstellen schon seit langer Zeit, ADHS wäre eine erfundene Krankheit.
Kurz vor seinem Tod gestand Eisenberg dem Medizinjournalisten Jörg Blech, daß ADHS ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung sei, wie die FAZ berichtet. Ferner stellt die FAZ fest, dass psychische Krankheiten keine Krankheiten, sondern ein Deutungsmuster seien: Als psychisch krank würde definiert, was gegen bestimmte Regeln verstoße und von Normen abweiche. Diese Normen wären nicht ein für alle Mal festgelegt, sie könnten sich verändern.
Damit ist nun die konservative FAZ zu einer Meinung gelangt, die der libertäre Psychiater und Psychiatriekritiker Thomas Szaz schon lange war. Szasz meint, es gäbe psychische Krankheiten garnicht im eigentlichen Sinne, sondern nur als Metapher für unerwünschtes Verhalten.
So auf dem Blog meinungsverbrechen.de (den ich insgesamt für bedenklich halte) nach einem Artikel in der FAZ.

ADHS und Diagnosen

ADHS sollte immer mit äußerster Vorsicht behandelt werden. Nicht die Krankheit, sondern die Diagnose. Eines der wichtigsten Ausschlusskriterien für ADHS ist, wenn das Kind erst in der Schule unerträglich wird. Da ADHS ja angeblich auf einen angeborenen Dopaminmangel beruht, hätte sich diese Störung von Anfang an im Verhalten niederschlagen müssen.
Besonders klasse finde ich allerdings die Eltern und die Lehrer, die einfach mal so ADHS diagnostizieren. Deshalb hier, als Zwischenempfehlung, an alle Lehrer: behandeln Sie nie ein Kind auf ADHS, wenn Ihnen nicht ein fachpsychiatrisches Gutachten vorliegt; außerdem sollte ein Behandlungsplan vorhanden sein: den müssen Lehrer nicht erstellen, den dürfen sie nicht erstellen. Für Eltern: Und wenn Sie schon Ihr Kind unbedingt auf eine psychische Krankheit diagnostizieren lassen müssen, akzeptieren Sie, wenn der Psychiater Ihnen sagt, dass das Kind eine Belastungsstörung familiären Ursprungs hat.

ADHS als Metapher?

Nein, natürlich nicht. Eine Metapher beruht immer auf irgendeiner Ähnlichkeit, sei es einer tatsächlichen oder einer gewünschten. In diesem Fall aber handelt es sich zunächst nur um die Bezeichnung einer Krankheit oder Störung.
Allerdings kann man ADHS trotzdem mit einem rhetorischen Effekt versehen sehen. Die Krankheit und dass das eigene Kind diese Krankheit hat, gibt zwischen den Zeilen zu lesen, wie schwierig es ist, wie gestresst man selbst ist, usw. Damit könnte man sagen, dass ADHS etwas ausdrückt, was die Eltern nicht anders anschaulich machen können: ihren eigenen Stress (oder etwas ähnliches). Das aber ist die Definition des Symbols, zumindest im kantschen Sinne (Urteilskraft, § 59). Warum Eltern dies nicht können, warum sie stattdessen die Probleme in Richtung ihres Kindes schieben, steht auf einem anderen Blatt. Unbekannt allerdings ist dieses Phänomen nicht: das Kind ist häufig Symbol und Symptomträger von familiären Störungen. (Wobei man fairerweise dazu sagen muss, dass familiäre Störungen wiederum Symptome einer aktuellen Gesellschaftsstruktur sein können. Das ganze 20. Jahrhundert steht ja im Kennzeichen einer Pathologisierung von Familienstrukturen.)

Der Artikel auf meinungsverbrechen.de

Der Blogname ist Effekthascherei. Quellen werden nicht zitiert, Zitate nicht kenntlich gemacht. Den Text, den ich oben aus dem Blog übernommen habe, ist zu einem guten Teil aus der FAZ geklaut. Das ist nicht nur ein Verstoß gegen das Urheberrecht, sondern für die Diskussion auch wenig hilfreich. Um ein unliebsames gesellschaftliches Phänomen anzugehen, sollte man Netzwerke erzeugen und sei es nur über die Verlinkung. Schließlich muss der Autor damit rechnen, dass viele Menschen eine solche Vorgehensweise zum Glück nicht mehr akzeptieren. Ich jedenfalls habe mich nicht nur über diesen Artikel geärgert, denn die guten Stellen sind woanders her, sondern auch über andere Erzeugnisse des Autors. Wenn er selbst keine neuen Ideen zu diesem Thema beizutragen hat, dann sollte er das bleiben, was er zu sein scheint: ein Sammler, der seine Fundstücke dem Leser präsentiert.

09.05.2013

Stöbertage; Kinofilme

Es gibt so Tage, an denen ich einfach nur am herumstöbern bin. Natürlich habe ich mich dabei leiten lassen, einmal von einem journalistischen Artikel und einmal von den Rezensenten auf Amazon (siehe die beiden vorhergehenden Artikel).
Trotzdem habe ich nebenher eine ganze Menge anderer Sachen gelesen, Roland Barthes, Gilles Deleuze, Francois Dosse; natürlich auch eine ganze Menge im Internet.
In den letzten Jahren habe ich eher zielgerichtet arbeiten müssen. Zur Zeit genieße ich es, diese verschiedenen Bereiche zu verknüpfen. Es ist auch für mich und meine Zuhörer ein Stück weit notwendig. Denn sonst fällt mir plötzlich etwas Gutes ein, das vorher noch nicht verknüpft war, und dann springe ich in einer Art und Weise gedanklich, dass mein Zuhörer mir nicht mehr folgen kann.
Meine Kunden kennen das teilweise von mir. Glücklicherweise nehmen die meisten das mit Humor.

Gestern Abend habe ich mir endlich den dritten Teil von Iron Man angesehen. Ein netter Film mit einer netten Botschaft. Eigentlich erzählen die drei Filme keine Helden-, sondern eine Liebesgeschichte. Und es ist ein typischer Mythos über die Männerwelt: willst du eine Frau oder ein Spielzeug?
Letzte Woche habe ich Hitchcock gesehen. Den fand ich nun wirklich großartig. Die Geschichte ist toll und die schauspielerischen Leistungen, nicht nur von Hopkins und Mirren, unglaublich gut. Dabei kommt dieser Film mit ganz sparsamen Mitteln daher.
Iron Man III kann man sich ansehen. Im Gegensatz zu mancher Fortsetzung schwächelt er nicht, sondern bildet einen würdigen Abschluss. Hitchcock dagegen empfehle ich ausdrücklich. Ich überlege mir, ob ich ihn mir nochmal im Kino ansehen.

Storytelling & Businessmetaphern

Storytelling, so lese ich gerade, werde in der Wirtschaft immer wichtiger. Ende der Behauptung. Manchmal findet man sogar eine Begründung: Geschichten ließen sich wesentlich besser einprägen. Zugegeben: das kann ich nachvollziehen. Dagegen sehe ich aber auch, dass diese so genannten Profis teilweise nichts zu sagen haben. (Zwischenbemerkung: natürlich gibt es sie, diese Menschen, die allein schon an der Auswahl der Themen, die sie für das Coaching anbieten, zeigen, dass sie einen Zusammenhang gut begriffen haben.) Insbesondere liegt das an unscharfen Begriffen. Erzählungen haben mit Metaphern nur bedingt etwas zu tun. Sie werden aber durcheinander geschmissen, zumindest teilweise.
Für meine Blogleser wird es nicht neu sein, dass ich hier auf eine ordentliche Trennung dieser Begriffe poche. Für meinen Buchtitel Metaphorik. Strategien der Verbildlichung habe ich deshalb Kritik einstecken müssen. Denn hier bediene ich die schlechte Begriffsweise. Das habe ich zwar bewusst gemacht, als Werbeeffekt und damit dem Marktsegment Berater und Coaches gehuldigt. Glücklich bin ich damit aber nicht. Ursprünglich, so mein Arbeitstitel, sollte dieses Buch kantsche Begriffe tragen: Hypotypose. Strategien der Versinnlichung. Aber ihr werdet zugeben müssen, dass dieser Titel noch unattraktiver ist.

Wie verführerisch es sein kann, dass bestimmte Begriffe nicht durch Logik, sondern durch Gewohnheit zusammengehören, sieht man an den Kommentaren zu dem "Buch" (es handelt sich wohl in diesem Fall um 50 Karten) Storytelling: Businessmetaphern in 50x2 Minuten. Offensichtlich sind es aber weder Geschichten, noch Metaphern, auch keine Regeln für das Geschichtenerzählen, sondern etwas, was Kant Maximen nennt und als allgemeine Handlungsanweisungen definiert. Jedenfalls ist die Verwirrung unter den Rezensenten groß.
Um noch einmal ein Grundgerüst zu liefern, mit hoher Abstraktion, erkläre ich deshalb den Unterschied zwischen Paradigma und Syntagma. Beide Begriffe tauchen früh im 20. Jahrhundert in der Linguistik auf und sind dann auf verschiedenste Art und Weise aufgegriffen worden.

Paradigma

Ein Paradigma beschreibt alle Phänomene, die an einem bestimmten Platz "sinnvoll" sind. Das ist sozusagen die theoretische Beschreibung. In der Praxis drückt sich ein Paradigma allerdings nicht durch eine Aufzählung aus, sondern dadurch, dass ein einzelnes Element aus dem Paradigma ausgewählt werden muss. Man kann sich dies sehr gut am grammatisch korrekten Satz ansehen:
"Das Auto bewegt sich Richtung Norden."
Das ist sozusagen unser Ursatz. Nun kann ich anstelle von "das Auto" auch andere Wörter schreiben, zum Beispiel:
"Der Flüchtling bewegt sich Richtung Norden."
Damit können wir sagen, dass das Auto und der Flüchtling zum selben Paradigma gehören, weil beide in die Satzregeln hinein passen. Dasselbe kann ich mit Lauten/Buchstaben machen. Hund und Hand unterscheiden sich nur durch einen Vokal. In der Umgebung von H*nd verhalten sich also der Buchstabe U und A paradigmatisch.
Manchmal findet man für bestimmte Mengen die Bezeichnung Paradigma. Die vier Elemente (Luft, Feuer, Wasser, Erde) seien dann ein Paradigma. Hier benutze ich allerdings lieber die Bezeichnung Gruppierung oder kulturelle Gruppe.
Wir können dies auch in der Kultur, die nicht schriftlich ist, feststellen. Bei einem Architekturwettbewerb haben sich zehn Architekten mit ihrem Entwurf beworben. Allerdings kann auf dem Grundstück nur ein Haus gebaut werden. Ebenso ist es mit Erzählungen. Es gibt typische Erzählmuster, zum Beispiel in einem Krimi, aber je nachdem, welches Erzählmuster ich auswähle, verändere ich den Verlauf der Erzählung selbst. Möglich sind allerdings eben verschiedene dieser Erzählmuster.
Halten wir fest: ein Paradigma bietet die Möglichkeit, an einer Stelle verschiedene Elemente zu platzieren, bloß eben nicht gleichzeitig.

Syntagma

Ein Syntagma beschreibt die Regeln oder Gewohnheiten, nach denen ein Element auftauchen kann. Betrachten wir folgende Sätze:
"Das Auto bewegt sich Richtung Norden."
"Das Auto kommt aus Frankfurt."
"Das Auto befand sich eine Zeit lang im Besitz von George Clooney."
Alle diese Sätze fangen mit denselben Wörtern an, verändern sich aber dann. Diese Veränderungen zu einem bestimmten Phänomen nennt man ein Syntagma. Wie man von dem Satz weiß, bestehen Syntagmen aus mehr oder weniger festen Regeln. Im Falle des Satzes werden diese Regeln in der Grammatik gesammelt. Doch erst die Bedeutung regelt das genauer. Ein Satz wie:
"Das Auto stieg in die warme Londoner Frühlingsluft."
macht in unserem Alltag wenig Sinn, obwohl er grammatisch korrekt ist. In der Umgebung von Harry Potter dagegen gewinnt der Satz eine "normale" Bedeutung.

Fasst man die Unterscheidung zusammen, dann kann man zunächst eine Nähe zu dem Kontrast Raum/Zeit feststellen. Im Raum liegen die Gegenstände nebeneinander (Paradigma). In der Zeit folgen sie nacheinander (Syntagma). Ebenso kann man eine gewisse Ähnlichkeit mit Menge/Reihe feststellen. In einer Menge befinden sich Elemente, die ich unter gewissen Beziehungen gleich benutzen kann (Paradigma). Eine Reihe dagegen beruht auf bestimmten Regeln, nach der ich ähnliche Reihen herstellen kann (Syntagma).

Paradigma und Syntagma in der Erzählung

Wer sich mit den Bausteinen der Erzählung auseinandersetzt, wie ich, versucht natürlich solche Paradigmen und Syntagmen zu systematisieren. So gibt es zum Beispiel verschiedene Möglichkeiten, den Helden charakterlich zu gestalten. Er kann ein flammender Draufgänger sein, ein gewissenhafter Wissenschaftler oder ein zweifelnder Künstler. Und hier sind 1000 andere Beispiele möglich. Dieses Paradigma taugt wenig für eine Systematisierung, weil es viel zu umfangreich ist. Ein präziseres Paradigma wäre zum Beispiel: die Helden bei Shakespeare, also Lear, Hamlet, Othello, usw.
Orte lassen sich hier besser erfassen, vor allem, wenn man Konventionen folgt. Der jugendliche Raufbold zum Beispiel kann in einem Familiendrama auftauchen. Dessen Ort ist relativ fixiert auf das Haus der Eltern und die nähere Umgebung. Oder er gerät in ein Gespensterhaus, dass relativ abgeschottet ist und dem er (natürlich zusammen mit einer ganzen Gruppe anderer Jugendlicher) nicht entgehen kann. Flieht der Jugendliche von zuhause, befindet er sich auf einer Reise, auf der verschiedene Orte "besucht" werden. Das zweite Beispiel verweist auf einen Horrorroman, das dritte zum Beispiel auf einen Bildungsroman.
Das Familiendrama zeigt dann verschiedene typische Orte, das Wohnzimmer, die Küche, das Zimmer des jungen Mannes, eventuell der Speicher und natürlich in irgendeiner Weise das Haus des angebeteten Mädchens, Klassen in der Schule, usw. Diese werden dann nach bestimmten Prinzipien, Gewohnheiten oder Regeln angeordnet, nach Erzählschemata.
Solche typischen Abfolgen findet man zum Beispiel mit Gefangenschaft-Befreiung, Katastrophe-Rettung, Streit-Versöhnung, Verbrechen-Aufklärung, usw. Man findet sie ebenfalls in Kochrezepten. Es gibt zahlreiche Arten, einen Käsekuchen herzustellen (das ist allerdings noch das Paradigma in diesem Falle). Durch die unterschiedlichen Zutaten sind die Handlungsabfolgen allerdings unterschiedlich und jeweils nützlich angepasst. Das Backen erfordert also Regeln für eine Abfolge, also ein Syntagma.
Hier noch einmal in Übersicht das Schema:

Syntagma und Paradigma in der Verbildlichung

Die Verbildlichung, von Kant Hypotypose genannt, stellt Ideen dar, die nicht anschaulich sind. Ich hatte schon öfter Beispiele für Ideen genannt. Hier sind sie noch einmal: Motivation, Menschenkenntnis, Liebe, und so weiter. Auch hier lassen sich zwei Typen unterscheiden, also eine paradigmatische und eine syntagmatische Verbildlichung. Zu der syntagmatischen Verbildlichung gehören alle Textphänomene, die in irgendeiner Weise Handlungsabfolgen zur Illustration eines Sachverhalts benutzen, also zum Beispiel das Gleichnis oder die Parabel. Zu der paradigmatischen Verbildlichung kann man Metaphern und Analogien, die pictura (wenn auch nur bedingt) zählen: sie "ersetzen" ein oder mehrere andere Wörter.
Allerdings kann man hier nicht so trennscharf unterscheiden. Eine Parabel zum Beispiel ist (oft) voller Metaphern. Je komplexer ein Text wird, umso eher verzahnen sich auf unterschiedlichen Ebenen die Strategien der Verbildlichung. Sie unterstützen sich in der Textwirkung oder beißen sich.
Analytisch gesehen jedenfalls sollte man sie auseinanderziehen und einteilen können.

Storytelling & Businessmetaphern

Ich hatte mich ja schon öfter darüber beklagt, dass die moderne Coaching-Theorie die Erzählung und die Metapher durcheinander schmeißt. Die Erzählung benutzt natürlich Metaphern. Zunächst aber wird eine Erzählung durch Handlungen definiert und zwar durch mindestens zwei Handlungen, die miteinander verknüpft sind. Dies ist zum Beispiel eine dieser minimalen Erzählungen:
Die Königin wurde geköpft. Der König weinte.
Der Zusammenhang wird über das Paar Königin/König gebildet und dadurch, dass der Leser nachvollziehen kann, dass man weint, wenn die Ehefrau stirbt. Keine minimale Erzählung ist dagegen:
Es regnet. Die Erde wird nass.
Beides sind keine Handlungen. Eine Handlung braucht immer einen Handlungsträger, immer jemanden, der zu dieser Handlung irgendwie motiviert ist.
Erzählungen müssen also syntagmatisch aufgefasst werden, aber natürlich nur, wenn man sie auf dieser abstrakten Ebene des Handelns erfasst. Im Alltag ist eine Erzählung ein abgeschlossener Text mit allen möglichen Strategien der Verbildlichung. Meine Definition von eben ist zwar für den Praktiker unbrauchbar, aber für den Analytiker bietet sie zumindest ein orientierendes Gerüst.
Metaphern dagegen sind eindeutig paradigmatisch. Ich kann beides sagen: es regnet; der Himmel weinte. Ich kann es aber nicht gleichzeitig sagen. Ich muss mich entscheiden.

Wenn heute Metapher und Erzählung durcheinander geschmissen werden, verlieren diese Begriffe an Trennschärfe. Dieser Verlust an Trennschärfe heißt immer auch, dass ich sie nicht mehr präzise einsetzen kann, dass ich ihre Wirkungen nicht mehr überprüfen kann. Vor allem bedeutet es aber, zum Beispiel für mich als Coach, dass ich sie nicht mehr verständlich beibringen kann. Für den Unterricht brauche ich möglichst scharfe Begriffe. Und wenn ich hier keine Schärfe einziehen kann, keine präzise Definition, wie das häufig bei Softskills ist, brauche ich mindestens ganz andere Unterrichtsmethoden. Auf jeden Fall muss ich mich darauf einlassen, dass die Verständlichkeit darunter leidet. Das lässt sich nicht vermeiden, es sei denn man versucht, dieses Problem unter den Tisch zu kehren. Dann aber sieht es leider nur so aus, als habe man kein Problem, hat es aber trotzdem.

Ich kann zu dem Produkt Storytelling: Businessmetaphern in 50x2 Minuten nun wenig sagen. Für mich war es mehr der Aufhänger, die Begriffe Paradigma und Syntagma zu klären. Allerdings ist es doch immer wieder schön, auf einem ungeliebten Phänomen herumzureiten.