22.10.2013

Monsterliga und Heldenkabinett

Eigentlich wollte ich mehr Rezensionen schreiben, gerade auch zu Büchern von selfpublishern. So richtig dazu gekommen bin ich noch nicht: ihr wisst, Hannah Arendt, Christa Wolf, und immer wieder — das versteht sich zurzeit bei mir fast von selbst — Immanuel Kant. Und arbeiten muss ich ja schließlich auch noch, auch das versteht sich von selbst.

Und wollte ich nicht eigentlich auch dieses Jahr überhaupt keine Selbstverleger lesen? Es ist ja nicht so, dass mein Bücherschrank nicht eh schon viel zu voll ist und dass man Bücher nicht auch zweimal lesen könnte. Gerade bei Büchern ist dies sogar notwendig. Zumindest, wenn man sie systematisch lesen will, um bestimmte Erzählmerkmale präziser zu erfassen.

Nun, die guten Vorsätze zum Trotz habe ich doch recht fleißig die Werke gelesen, auch wenn ich immer deutlicher zur Philosophie neige und derzeit zur deutschen Nachkriegsliteratur, bzw. auch zur Literatur des geteilten Deutschlands.
Von Lars Gunmann stammt die Kurzgeschichtensammlung ›Monsterliga und Heldenkabinett‹; aufgefallen ist mir der Autor, weil ich im Zuge der Buchpiraten-Diskussion über seinen Blog gestolpert bin, den ich nett, aber auch nicht herausragend finde: ich habe ihn mir auf jeden Fall als Lesezeichen gesetzt. Seine Bücher allerdings bewirbt er nicht und das hat mich verwundert und eigentlich bewogen, dann eines seiner Bücher zu kaufen. Eben jene Kurzgeschichtensammlung.

Was ist zu diesem Buch zu sagen? Es sind äußerst kurze Geschichten. Man könnte sie fast als winzig bezeichnen; Anekdoten allerdings sind es nicht: dazu fehlt ihnen das Gelehrsame. Manches von ihnen überschreitet die Grenze zur Glosse, wenn auch, wie mir scheint, eher halbherzig.
Die Ideen sind nett, aber keineswegs neu, mit einigem skurrilen Humor umgesetzt und insgesamt sehr scharf, sehr eng gefasst, wie es bei winzigen Geschichten nicht anders möglich ist. Auch die Dialoge sind, und da kann man den Autor tatsächlich aus der Masse hervorheben, gut genug, um daran nicht zu verzweifeln. Gute Dialoge zu schreiben: das scheint den meisten deutschen Autoren doch eher noch ein Niemandsland zu sein. Gunmann hat die grobe Vermessung dieses Gebietes mit Anstand hinter sich gebracht; Neues, Begeisterndes oder auch nur Solides braucht dann wohl noch einiges an Zeit.

Einiges Negatives muss man allerdings auch hervorkehren. So ist die Leserorientierung schwach, manchmal gar nicht existent. Mit Leserorientierung meine ich die Orientierung des Lesers in Raum und Zeit. Nun darf sich die humorvolle Literatur einiges erlauben, was sich die ernstere Spannungsliteratur nicht leisten darf. Eine fehlende Orientierung des Lesers allerdings gehört nicht dazu.
Gleich die erste Geschichte beginnt folgendermaßen:
30. Oktober, kurz vor Mitternacht.
„Bist du sicher, dass du zu Fuß weitergehen willst?“
„Ich kann auf mich aufpassen. Dauert sicher ewig, bis der Strom wieder da ist.“
„Na gut, viel Glück.“
„Ebenfalls.“ Tina verließ die Straßenbahn. Sie lief langsam und vorsichtig weiter, bis sie auf einer Brücke stehen blieb.
Mit wem Tina hier spricht, bleibt unklar. Und auch der Ausgangskonflikt, so minimal er auch ist, wird nur durch Anspielung dargestellt, nicht durch Benennung. Das ist in der humorvollen Literatur zumindest unüblich. Erinnern wir uns daran, was Käpt'n Blaubär erlebt, in der ersten Episode seines Buches: er hört das lauteste Geräusch der Welt! Humor arbeitet gerade mit solchen Übertreibungen und kann es sich nicht leisten, wichtige Elemente, wie zum Beispiel den Konflikt, undeutlich zu lassen.
Humor lebt auch von ihren übertriebenen Figuren. Eine Figur nicht einmal zu erwähnen ist mindestens ungünstig.
Ein zweites Problem ist wiederum ein typisch deutsches Problem: Bitte benutzt doch aktive Verben. Es ist ja nicht so, als ob diese Erkenntnis neu wäre. Die Idee, dass der bürgerliche Roman den Menschen als einen in seiner Umwelt handelnden Menschen vorstellt, war schon vor Lessings Hamburger Dramaturgie ein Allgemeinplatz. Und seitdem hat es ja auch genügend Schriftsteller gegeben, die diesem Allgemeinplatz gut gefolgt sind, klassische Schriftsteller, Goethe, Kleist, Fontane, Thomas Mann, ja, sogar Peter Handke, bei dem sich die Sprache als Landkarte von Bedeutungsräumen erweist, nicht als „Wirklichkeit“. Jener letzte, von mir zitierte Satz, zeigt diese Furcht vor der Aktivität, jene Angst, seine Figuren handeln zu lassen, in seiner ganzen Zwiespältigkeiten: zunächst ist dieser Satz rein logisch gesehen ein Unding: man läuft nämlich immer weiter, bis man stehen bleibt und insofern ist der zweite Teilsatz überflüssig. Zumindest aber hätte er anders formuliert werden müssen. So hat es aber den Anschein, als würde Tina stehen bleiben, wie eine Uhr stehen bleibt, nicht als Handlung, sondern als Ereignis, das ihr zustößt.
Dazu gehört dann auch, dass in der folgenden Passage das Ereignis nicht den Protagonisten, also Tina, trifft, sondern nur den Leser mitgeteilt wird. Vor Tina ist ein leuchtender Geist erschienen, um ihr einen Auftrag zu erteilen. Hier verschwindet er wieder:
„Ja, ich muss gehen. Ich wünsch dir viel Erfolg!“
Wieder war es stockdunkel.
Was dies für Tina bedeutet, bleibt unklar und damit auch unklar, was es für den Konflikt der Geschichte bedeutet. Damit verspielt der Autor aber ein so kleines, wie wichtiges Instrument, dass sich der Leser doch noch irgendwie mit der Hauptfigur identifiziert. Zum Glück kann er hier vieles durch Dialoge wettmachen, aber eben nicht alles.

Zu dieser Kritik zwei Anmerkungen:
(1) Nichts ist schwieriger, als eine teils groteske, teils ironische Geschichte auf drei Seiten zu verfassen. Wo manche erzählerische Unsicherheit im längeren Roman untergeht, wird sie in solchen Miniaturen grell auffällig. Es gehört also sehr viel Kompetenz dazu, solche Kurzgeschichten mit Bravour zu meistern. Mit Bravour nun meistert dieser Autor sie nicht: erzählen kann er, aber nicht auf dem Niveau hoher Erzählkunst.
(2) Aus meiner Arbeit als Textcoach bringe ich immer wieder ein gewisses Problem mit. Zu einer guten Kritik gehört auch, zu erklären, was an einem Text gut ist. Und erklären bedeutet hier im vollsten Sinne erklären und nicht: behaupten. Hier stelle ich immer wieder eine gewisse Scheu fest. Meine Kunden wollen zwar gelobt werden, warum aber eine Textstelle besonders gut funktioniert, zumindest meiner Ansicht nach, wird nicht mehr so gerne gehört. Es ist, als würde man die Qualität einer Passage zerstören, sobald man ihren inneren Mechanismus aufdeckt. Selten sogar erstarrt ein so Kritisierter wie das berühmte Kaninchen vor der ebenso berühmten Schlange. Man sollte meinen, man hätte nicht etwas Gutes, sondern gerade etwas Schlechtes hervorgehoben. Und einmal hat mir ein Kunde dann vielleicht die heimliche Glaubensüberzeugung offen dargelegt, die dahinter steckt. Er meinte zu mir, dass das doch gar kein Lob sei und begründete das damit, dass ich seinen Text analysieren würde. Ich habe also eine Haltung entwickelt, in der ich mich mit solchen Analysen zurückhalte, zumindest bei den ersten Kontakten. Dass sich ein angehender Schriftsteller damit eigentlich nur Probleme macht, dürfte klar sein: um ein guter Schriftsteller zu werden, gehört auch dazu, festzustellen, wo man es bereits ist und wo man dann eigentlich nur noch aus einer unreflektierten Gewohnheit eine bewusst eingesetzte Technik machen muss. Man sollte meinen, dass dies der leichtere, rascher zu bewältigende Teil eines Textcoachings ist. Und umso verwunderlicher ist es, dass hier anscheinend genau das Gegenteil passiert. Zumindest bei der Hälfte meiner Kunden.
Wenn ich hier also besonders stark bestimmte Fehler in der Erzähltechnik hervorhebe, mag der Eindruck entstehen, das Buch sei insgesamt nicht gut. Ich hoffe aber, dass ich deutlich gemacht habe, dass es für mich eine Zwischenstellung einnimmt und insgesamt eher positiv zu bewerten ist als negativ. Es hochzujubeln halte ich für falsch, widerspricht auch meiner Idee von „guter“ Literatur, aber all das eben nicht vollständig ins Gegenteil verkehrt.

Fazit bleibt also, dass ich das Buch empfehle, aber nicht zum reinen Vergnügen, sondern als Texte, die gut genug sind, um gelesen zu werden, die auch soweit vergnüglich sind, dass sie einiges an Vergnügen bereiten (Tommy Jaud bereitet mir zum Beispiel kein Vergnügen und ist trotzdem Bestseller geworden); aber eben auch empfehle, um es scharf nach seinen Flausen zu durchforschen und bessere Ideen zu entwickeln, also (auto)-didaktisch. Wer es im letzteren Sinne liest, wird erst verstehen, welch enorme Aufgabe sich der Autor gesteckt hat. Diesen Texten den Schliff zu geben, den man als den letzten bezeichnet, wäre ein Zeichen für hohe Kunst.

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