07.11.2013

Gratwanderungen: Kunst, Recht und Pornographie

Wenn ich nicht gerade für andere Menschen schreibe, schreibe ich natürlich für mich. Lang gepflegtes Projekt: Judith Butler. Und nebenher sammeln sich Fundstücke, wie zum Beispiel das Urteil der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zu dem Comic ›Bullenklöten‹ von Ralf König. Nachzulesen ist das ganze auf der Website von Männerschwarm.

Ich möchte zwei Zitate aus dieser Schrift hervorheben:
(1) „Die Pornographie gilt nach dem Willen des Gesetzgebers als offensichtlich schwer jugendgefährdend.“
(2) „Ein Tatbestandsmerkmal der Pornographie ist, dass das Medium unter Hintansetzen aller sonstigen menschlichen Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher Weise in den Vordergrund rückt und seine objektive Gesamttendenz ausschließlich, oder überwiegend auf Aufreizung des Sexualtriebe abzielt.“
Zu (1):
Dies erstaunt mich immer wieder, welche Vorstellung die Menschen vom Recht haben. Natürlich nicht alle, aber doch auffällig viele. Recht wird gerne mal mit der Wahrheit verwechselt, dabei hat beides nur relativ wenig miteinander zu tun. In der Rechtsprechung sind natürlich wissenschaftliche Ergebnisse enthalten, wie zum Beispiel das Wissen, dass Pornographie die Entwicklung einer Identität bei Jugendlichen empfindlich stören kann bis hin zu schweren Traumatisierungen. Das Recht allerdings zielt nicht auf Wahrheit ab, sondern auf die Strukturierung von Konflikten, die nicht mehr in der Interaktion gelöst werden können.
Das Recht ist positivistisch, muss sogar positivistisch sein, da es Fakten schafft und über diese Fakten an der Gesamtordnung einer Gesellschaft teil hat. So zielt Recht letzten Endes auf Interaktion und die Ordnung der Interaktion. Man ermutigt es dazu, den Rechtsweg zu beschreiten und mal entmutigt es zu diesem Weg.
Als jugendgefährdend können deshalb solche Schriften gelten, die die Entwicklung einer Identität behindern, deutlich abgrenzen oder sogar verhindern. Und offensichtlich sieht der Gesetzgeber einen Zusammenhang zwischen der monotonen und eindimensionalen Darstellung von Identitäten in pornographischen Schriften und Filmen und deren Auswirkung auf eine reduzierte oder verkrüppelte Identitätsbildung bei Jugendlichen.
In den entsprechenden Gesetzen sind die wissenschaftlichen Ergebnisse aufgehoben. Allerdings ist dieses Verhältnis kein einfaches, da die meisten wissenschaftlichen Ergebnisse aus diesem Gebiet eine statistische Streubreite aufweisen, also keinen scharfen Schnitt vorsehen, bis wohin es noch erlaubt und ab wann es gefährdend ist. Insofern haben die reinen Gesetze ein deutliches Spannungsverhältnis zum empirischen Einzelfall.
(Dazu sind einige Artikel aus Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main, 1999, sehr aufschlussreich: es handelt sich um Kapitel 3: Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen, Kapitel 4: Die Funktion des Rechts: Erwartungssicherung oder Verhaltenssteuerung?, Kapitel 5: Konflikt und Recht und Kapitel 11: Funktionale Methode und juristische Entscheidung.)

Von der Rhetorik gesehen ist das Wörtchen ›offensichtlich‹ zumindest befremdlich: denn so offensichtlich ist die Gefährdung von Jugendlichen durch Pornographie keineswegs. Kinder und Jugendliche können aus allen möglichen Gründen situativ verstört sein, auch über längere Zeiten hinweg. Typischerweise gehören dazu die Trennung der Eltern; diese verbietet der Gesetzgeber nicht.
Das Gremium unterstreicht hier die Grundlage des Gesetzes, ein empirisches und statistisches Ergebnis, als eines, das in der Wirklichkeit wahrgenommen werden soll. Hier schleicht sich eine typische positivistische Flause ein: dass eine Norm sich immer auf einen sichtbaren Tatbestand bezieht (und nicht auf eine Struktur).

Zu (2):
Was mich an dieser Stelle persönlich berührt, ist die Gleichsetzung der Pornographie mit allen anderen Methoden, eine Identität zu reduzieren und auszumerzen. Dadurch ergeben sich Bezüge zum Mobbing oder auch zur Arroganz. Mit diesen beiden Aspekten hatte ich in den letzten 15 Jahren leider recht viel zu tun: das kommt davon, wenn man Menschen in sein Leben lässt, die eigentlich schon von ihren Voraussetzungen nicht für eine differenzierte Wahrnehmung geeignet sind.
Als ich vor einigen Tagen zu dem Ursprungsort kriminologischer Untersuchungen geschrieben habe, hatte ich ungefähr folgendes im Blick: dass sich die Differenz zwischen Handlungen und Erleben, zwischen Aktion und Passion, nicht wegerklären lässt. Sie kann erklärt werden, sie muss sogar erklärt werden. Die Frage ist nur: von wem? Ich hatte weiter vorgeschlagen, hier den Ursprungsort von einer Kriminalisierung anzusetzen: nämlich Bezugssysteme zu suchen, die sich durch ihre Interpretationsmacht dieser Differenz bemächtigen und sie dingfest machen. Dingfest heißt vor allem: sie jeder anderen Deutung zu entziehen. Das lässt sich zum Beispiel durch Überdramatisierung erreichen, eine bestimmte Form der Hyperbel, also der Übertreibung.

Das Befremdliche an dieser ganzen Geschichte ist nun, dass Judith Butler in einer sehr aufschlussreichen Passage Pornographie und Hyperbel zusammengebracht hat und als eine mögliche Auflösung dieses Spannungsverhältnisses die Resignifikation vorgeschlagen hat. Resignifikation, das bedeutet, vereinfacht gesagt, Umdeutung.
Hier ergeben sich wichtige Verbindungslinien zu dem Spätwerk von Hannah Arendt, aber auch zu ihren wesentlich früheren Schriften zur Tradition und zum Traditionsbruch.
Ein anderes Problem stellen die formalen Logiken dar. Eine formale Logik reduziert die Objekte, mit denen sie umgeht, auf wenige Merkmale. Dadurch ergibt sich automatisch eine Art Übertreibung der noch übrig gebliebenen Merkmale. Dies alles gehört zum Tatbestand der Extrapolation. Extrapolation: die ungebührliche Hervorhebung von Merkmalen. Wenn man sich die Debatte um Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab erinnert, dann lässt sich die Struktur dieser Debatte weitestgehend auf die Feststellung reduzieren, dass hier ein Kampf um die „richtige“ Übertreibung stattgefunden hat, nicht aber um die Bedingungen dieser Übertreibung.
Wenn man nun die Pornographie als ein rein vom Subjekt getragenes Merkmal ansieht, geraten einem diese gesellschaftlichen Strukturen aus dem Blick, unter denen Pornographie entsteht, unter denen allerdings auch die Rechtsverletzung durch Pornographie entsteht. Hier ist es fast zynisch, dass derselbe Gesetzgeber, der die Deformation von Identitäten durch Pornographie unter Strafe stellt, ähnliche Deformationen der Identität durch Lohnarbeit nicht nur begünstigt, sondern zum Teil sogar gewaltsam durchsetzt. Diese Unsicherheit, die hier vom positivistischen Recht anscheinend aus der Welt geschafft wird, ist natürlich eine Unsicherheit, die sich immer dann einfindet, wenn die Frage nach der Zukunft gestellt wird. Beispielhaft ist dafür der Begriff des Kindeswohls. Das Kindeswohl bedeutet ja nicht nur einen momentanen Zustand, sondern auch die Zukunft einer unbeschädigten Identität. Im Kind wird also nicht nur das Kind in seinem derzeitigen Verhalten gesehen, sondern auch schon der Erwachsene. Dieser Vorgriff in die Zukunft wird allerdings im Einzelfall durch keine Statistik getragen.
Der Vorgriff auf die Zukunft ist eine ganz andere paralogischer Figur: die der bijektiven Applikation. Damit werden alle Argumentationen bezeichnet, bei denen vorher schon fest steht, was hinterher herauskommt. Das Rechtssystem muss natürlich mit solchen paralogischen Figuren arbeiten, um Sicherheit bieten zu können. Was im Einzelfall tatsächlich nicht mehr Recht ist, muss im Allgemeinen genügend Spielraum bieten, um Freiheiten in der Planung zu gewährleisten, gleichzeitig aber eben auch Sicherheiten in der Planung. Nichtsdestotrotz sind solche Begriffe wie Pornographie oder Kindeswohl keine logischen Begriffe und schon gar keine formal-logischen.
Wie aber könnte man den Status solcher Begriffe fassen? Ich denke, dass man dies zumindest auf folgendem Weg besser in den Griff kriegt. Es sind zunächst ins Allgemeine übertragene Erfahrungen, d.h. Generalisierungen. Dann sind es durch wissenschaftliche Ergebnisse gestützte Erfahrungen. Und schließlich sind es Erfahrungen, die danach begrenzt werden, was einem Subjekt noch zumutbar ist und was nicht mehr. Dass dadurch manchmal (oder, wie man durchaus befürchten darf, häufig) nicht nur die Freiheit eingeschränkt wird oder Bedingungen der Freiheit (zum Beispiel Solidarität) ungleichmäßig verteilt werden, sondern auch die ausgeschlossene Seite, die Seite des Unrechts stärker und machtvoller dargestellt wird, als sie in Wirklichkeit ist, das sind wohl die Probleme, die ein positivistisches Recht mit sich bringt. Zu erinnern ist zum Beispiel an die Angst vor der Unabhängigkeit der Frau oder an die Angst vor homosexuellen Menschen, die lange Zeit dazu geführt hat, dass diese an sich im Menschenrecht verankerten Freiheiten gesetzlich ausgeschlossen wurden. Frauen durften, soweit ich mich erinnere, ohne die Erlaubnis des Mannes nicht arbeiten; aufgehoben wurde dieses Recht 1953. Und die Abschaffung des § 175 erfolgte sukzessive 1973 bis zur vollständigen rechtlichen Gleichstellung heterosexueller und homosexueller Taten und Straftaten im Jahr 1994.
Hören wir zum Schluss noch einmal Judith Butler zu, zu dem Verhältnis zwischen Pornographie, Macht und Subjekt und der Interpretation dieser Konstellation:
Es hat daher wenig Sinn, sich das Visuelle Feld der Pornographie als Subjekt vorzustellen, das spricht und durch sein Sprechen hervorbringt, was es benennt. Seine Autorität ist deutlich weniger göttlich; seine Macht weniger wirksam. Es hat nur dann Sinn, sich den pornographischen Text als rechtsverletzendes Handeln eines Subjekts vorzustellen, wenn man ein Subjekt sucht, dem die Handlung zugeschrieben und das rechtlich verfolgt werden kann. Andernfalls ist unsere Aufgabe schwieriger, denn was Pornographie liefert, ist, was sie aus dem Fundus kompensatorische Geschlechternormen rezitiert und übertreibt, ein Text aus ebenso beharrlichen wie falschen imaginären Beziehungen, die nicht dadurch verschwinden, dass dieser Text abgeschafft wird, ein Text, der einer unnachgiebigen feministischen Kritik noch zu lesen bleibt.
Wichtig ist vor allen Dingen, welche Schlussfolgerungen für die Praxis Butler bereithält. Sie schreibt gleich im Anschluss an das letzte Zitat:
Wenn man solche Texte gegen den Strich liest, räumt man damit ein, dass die Performativität des Textes keiner souveränen Kontrolle untersteht. Im Gegenteil, wenn ein Text einmal handelt, kann er wieder handeln und das vielleicht genau gegen die frühere Handlung. Resignifizierung wird so zu einer Möglichkeit, Performativität und Politik neu zu lesen.
Butler, Judith: Flammende Taten, verletzendes Sprechen. in: Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006, Seite 112 f.
Kunst fungiert an dieser Stelle (dem Urteil zu Ralf Königs Comic ›Bullenklöten‹) als Scheide, die der Pornographie die Wirkung ihrer Übertreibung nimmt, auch sofern denn sexuelle Handlungen vulgär oder sogar drastisch dargestellt werden (wie das Gremium zu diesem Werk konstatiert).

Ein Problem bleibt an dieser Stelle offen: das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen und rechtlichen Begriffen, mitsamt der Rolle(n), die die Statistik dabei spielt, also eine zum Teil auf formale Logik aufbauende Berechnung (=Erzeugung?) von Tatsachen.

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