30.12.2013

Jahrestage V

Ihr gefällt es, wie er gastweise am Tisch zwischen den beiden Fenstern sitzt und sich nach ihrer Schule erkundigt, weil er davon wissen will, nicht aus Vormundspflicht. Sie hat mit ihm reichlich verabredet, ob es nun um ungläubige Blicke schräg von unten geht oder um Lügeversuche bei steifem Gesicht oder darum, dass sie oder er an manchen Stellen sagen müssen: was ich lediglich tat, um New York reinzuhalten; was immer an der Reihe ist.
Johnson, Uwe: Jahrestage II, 31. Dezember 1967, Seite 534

Es war mir ein inneres Blumenpflücken - LeFloid trifft Wickert

YouTube sorgt, neben den selfpublishern und einigen wichtigen Blogs für eine enorme Bewegung in der Medienszene.

Ein recht harmonisch laufendes Interview zwischen Ulrich Wickert, dem Urgestein der Abendnachricht, und LeFloid, dem Protagonisten der YouTube-Bewegung, findet ihr hier: Mehr YouTube würde der ARD gut tun.

LeFloid sagt übrigens sehr richtig, dass er Kommentare verfasst, keine Nachrichten. Dass er gute Kommentare verfasst, das ist das eine; dass darüber die Nachrichten selbst bei vielen Menschen verschwinden, das andere. Man kann LeFloid nun nicht vorwerfen, dass er aus den Nachrichten ethische Erkenntnisse herauszieht. Dazu sind Nachrichten letzten Endes da. Problematisch wird nur, wenn dieses Sich-moralisch-Verhalten die einzige Anteilnahme am Mediengeschehen wird.

Ein guter Geschmack an der Information: das ist die Grundlage für ein gutes moralisches Bewerten.

Neulich hatte ich eine Anfrage für ein Skript zur Situation der modernen Familie in Deutschland. Genauer gesagt ging es um Nachbesserungen an einem Text. Gestutzt habe ich bereits in der Einleitung. Hier wurde die uralte Tradition der Familie beschworen. Ich habe da nachgefragt, von welcher uralten Tradition er hier genauer reden würde (da ja schon nicht klar war, wie er Familie definiert hat). Und er meinte dann zu mir, so wie es immer gewesen sei: Vater - Mutter - Kind.
Diese Form der Familie, die kleinbürgerliche, ist aber eindeutig eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Ich fände das Ganze nun nebensächlich, wenn das irgendjemand auf der Straße sagen würde. Schlimmer finde ich, wenn dieser Mensch in einem Beruf arbeitet, der sich mit der „guten Struktur“ der Familie beschäftigt. Mit Familien ist es so ähnlich wie mit der Medienszene. Es gibt dieses klassische Erscheinungsbild nicht mehr oder nur noch selten. Aber unsere Gesetze und die öffentliche Moral schützen hier eine Form, die nach und nach verschwindet. Das ist die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist, dass die neuen Formen, die sich finden lassen, zum Beispiel die Position des fürsorglichen Stiefvaters, nicht geschützt werden und es hier keine Rechtssicherheit für solche Menschen gibt, es sei denn, sie wird privat geregelt, im Falle des Stiefvaters zum Beispiel von der Mutter aus.

Auf dem Weg zum Nerd

Ich hätte ja nicht gedacht, dass ich das mal sage: aber ich befinde mich auf dem Weg, ein Computer-Nerd zu werden.

Das ganze Wochenende habe ich an der Verbesserung der Videos herumgearbeitet und zumindest einige Fortschritte gemacht.
Solche Fortschritte sind immer genau dann sehr unangenehm, wenn man merkt, dass man vorher unglaublich viel Zeit auf Sachen verschwendet hat, die man viel schneller und besser hätte hinkriegen können. Wenn man sie denn vorher entdeckt hätte.

Nun: dafür werde ich mir in Zukunft noch einiges an Gedanken machen.

Ich habe das ganze Wochenende nicht gelesen. O.k., ein bisschen doch.
Ein paar Seiten bei Hannah Arendt; und mein lieber Onkel hat mir tatsächlich die Safranski-Biografie über Goethe geschenkt, sogar mit einer Original-Unterschrift, natürlich von Safranski, nicht von Goethe. Und darin habe ich auch herumgeschmökert.

Obligatorisch: die Tagespolitik.
Bisher hatte ich das Ganze eher von der Rhetorik aus betrachtet. Seit etwa einem Jahr gärt und rotiert bei mir das Interesse an der Ethik und der politischen Philosophie. Viel Zeit, mich damit zu beschäftigen, habe ich nicht gehabt. Das ist eigentlich sehr schade.
Und als einen guten Vorsatz für das neue Jahr wage ich es gerade nicht zu nehmen. Es kommt einiges auf mich zu.

26.12.2013

Und die sechste Folge meines Video-Kurses

Die ersten Videos stehen im Netz. Die Resonanz ist 100%ig positiv. Klar: waren ja bisher auch nur sechs Stimmen. Und da ich erst seit etwa zwei Wochen ernsthaft online stehe und erst seit letzten Samstag auch Werbung mache, ist noch nicht viel passiert. Wer aber wollte das den Menschen über die Feiertage verübeln? Ich nicht.

Heute habe ich das sechste Video veröffentlicht. Dabei sind wir dann beim zweiten Video zu dem Planungsmodell, mit dem ich am liebsten arbeite. Vor allem verstehen das die Menschen auch am besten.

Hier der Link zu der Playlist.

24.12.2013

Konsumterror und der innere Schweinehund

Es ist Weihnachten! — Und an dieser Stelle erstmal allen Lesern und Leserinnen eine schöne und ruhige Zeit.

Ich bin in den letzten Tagen nicht zur Ruhe gekommen. Nachdem ich ein bisschen Luft hatte und von meinen Videos auch etwas Abstand nehmen konnte, habe ich mich intensiver mit dem System von YouTube beschäftigt. Das ist im Hintergrund ganz schön umfangreich und komfortabel. Die meisten Menschen wissen das gar nicht, da sie es selbst nicht nutzen. Verwunderlicher ist, dass es auch häufig nicht von den Video-Anbietern genutzt wird. Ich habe mir jetzt eine erste Übersicht verschafft und muss das ganze ein wenig ruhen lassen, um zu schauen, wie ich das genauer gebrauchen werde.

Ob ich in Weihnachtsstimmung bin? Überhaupt nicht.
Seit Mai oder Juni beschäftige ich mich mit einigen Klassikern der Kulturkritik. Hannah Arendt hat hier den Ausschlag gegeben, wobei zuvor schon Christa Wolf und Max Frisch mich in diese Richtung getrieben haben. Es gibt sowohl bei Wolf, als auch bei Frisch Stellungnahmen zu aktuellen politischen Situation, die man aus den sechziger Jahren ohne Probleme auf die heutige Zeit übertragen kann.
Dazu habe ich bisher noch fast gar nichts geschrieben. Mich verwundert nur, dass dieses Problem von Konsum und dem Zurechtstutzen von Menschen heute so resignativ beantwortet wird. Vor zwei Jahren hatte ich zum Beispiel noch in die Szene der selfpublisher große Hoffnungen gesetzt, dass hier mehr ausprobiert wird und experimentellere Literatur entsteht und dadurch eine größere Sensibilität für das, was Kultur eigentlich ist: die subjektive Auseinandersetzung mit der Politik und der politischen Tradition um uns herum. Stattdessen findet man vor allem dieses Verkaufsargument. Ein Buch, das sich gut verkauft, ist deshalb auch schon bedeutsam; so der Trugschluss.

Und ein häufiges Argument für die Qualität eines Buches ist die Spannung. Spannung allerdings ist nur ein Teil und wahrscheinlich sogar nur ein geringer Teil von dem, was ein Buch wertvoll macht. Indem man sich auf die Spannung konzentriert, bleiben viele andere Sachen auf der Strecke. Es ist doch wunderbar, über ein Buch lange nachzudenken, auch über einen Roman. Das aber lassen Bücher, die sich nur zum konsumieren eignen, kaum zu. Man muss sie schon sehr gegen den Strich bürsten, wenn man ihnen etwas anderes abgewinnen will.

Ganz frei davon bin ich auch nicht. Ich gebe es zu. Ich bin froh, dass ich jetzt wieder ein adSense-Konto besitze. Dazu habe ich in den letzten Tagen für eine andere Adresse Artikel geschrieben. Und natürlich sollen diese Anzeigen, die ich schalten möchte, rund um meine Videos auftauchen.

JaelleKatz, alias Sylvia Hubele, hat gestern auf ihrem eigenen Blog einen Artikel veröffentlicht, der so gar zu gut zu einem meiner Artikel passt. Er heißt: Mit dem inneren Schweinehund in die Hundeschule. Mein dazu entsprechender Artikel lautet: Das innere Team beim Schreiben.
Das innere Team ist ein ganz wundervolles Konzept, wenn man zu seiner eigenen Stimme finden möchte. Ich hatte nun lauter eher positive innere Stimmen vorgeschlagen. Der innere Schweinehund, den Sylvia hier vorstellt, ist mit Sicherheit auch eine sehr taugliche Stimme, um Texte zu schreiben. Es werden nicht unbedingt Texte sein, die man veröffentlichen sollte.

23.12.2013

Plotstrukturen III — ein einfacheres Modell, angelehnt an Aristoteles

"Normalerweise hätte ich schon längst im Bett sein müssen. Man muss sich ja irgendwie selbst bemuttern.", so schrieb ich vor zwei Tagen, konnte dann aber das Video nicht auf meinem Blog einfügen. - Jetzt klappt's.

Aber ich musste dann unbedingt noch das dritte Video anfangen und fertig stellen. Nachdem ich in den letzten beiden Videos das Kompositionsmodell von Gustav Freytag behandelt habe, gehe ich in diesem Video auf ein Modell ein, das eigentlich schon zwei Jahrtausende alt ist und ebenfalls vom Theater herrührt. Ursprünglich wurde etwas ähnliches von Aristoteles formuliert. Der amerikanische Schriftsteller James Scott Bell hat dies ein wenig modernisiert, wenn auch nicht viel.
Hier also stelle ich euch dieses Modell vor. Mir persönlich ist es für längere Geschichten zu einfach und zu undifferenziert. Aber für einen ersten Entwurf, für die Strukturierung von irgendwelchen Ideen, einfach um auszuprobieren, wie die in etwa in eine Geschichte hineinpassen, ist dieses Modell ganz hervorragend, weil es sich so einfach handhaben lässt.

Hier also das Video:

Letzte Nachricht vom Tage

Das war mal ein ganz gewöhnlicher und recht entspannter Sonntag.
Viel geschlafen habe ich allerdings nicht. Ich bin schon recht früh aufgestanden. Und es war einer jener Morgen, an denen ich gemerkt habe, dass ich intensiv geträumt haben musste. Insgesamt schwächle ich gerade. Der doch eher hektische Dezember und die vielen inhaltlich sehr verschiedenen Aufträge kommen jetzt langsam hoch. Ich habe seit zwei Tagen eine beständige Müdigkeit. Und auf der anderen Seite ist es so eine Phase, wo ich merke, dass sich im Hintergrund, hinter meinen offiziellen Gedanken, ganz viel verschiebt. Hier werden sich wohl Spannungen, die sich in den letzten Wochen aufgebaut haben, ausreifen und dann wahrscheinlich wieder in eine Phase von intensivem Arbeiten münden.
Um solche Zustände bin ich nicht böse. Und im Moment fühle ich mich sogar sehr einverstanden damit. Früher habe ich solche Phasen sehr viel eher als Denkkrisen erlebt. Das ist jetzt offensichtlich vorbei.

Bis zum Mittag habe ich dann Zettel in meinem Zettelkasten verfrachtet. Heute waren es vor allem Notizen zu Christa Wolf. Ab Mittag habe ich dann, nach einem Spaziergang, an den Videos weiter gebastelt. Konkreter gesagt habe ich hier einige Sachen ausprobiert, die noch reifen müssen und derzeit nicht auftauchen werden. Und vermutlich sind es auch die Videos, die gerade im Hintergrund so herumpoltern und mir die vielen Träume bescheren. Auch das ist ein gutes Zeichen. Es ist mir ernst.

Aber ich habe nicht nur Notizen zu Christa Wolf in meinem Zettelkasten gebracht, sondern parallel dazu ›Hannah Arendt zur Einführung‹ von Karl-Heinz Breier weiter kommentiert. Dieses Buch ist eigentlich sehr schön. Der Autor entfaltet allerdings immer wieder sehr eigene Gedanken und weicht weit von einer Darstellung des Denkens von Hannah Arendt ab. Insofern ist es als Einführung mit ein wenig Vorsicht zu genießen. Soweit ich mich in Arendt bereits eingearbeitet habe, ist es gut und stimmig. Aber es hätte dichter an der Autorin dranbleiben dürfen.

20.12.2013

Max Frisch, Uwe Johnson, Hannah Arendt und einiges anderes

Hatte ja doch eine ganze Menge zu tun und heute dringt so langsam in mein Bewusstsein, dass nächste Woche Weihnachten ist. Es ist mir kaum aufgefallen.

Seit Mitte November haben sich die Arbeiten massiv gehäuft. Gestern Mittag habe ich alle wichtigen Sachen für dieses Jahr abgeschlossen. Und seitdem auch mal wieder etwas Freizeit. Die ich dann leider mit Verwaltungskram auffüllen musste. Also doch keine Freizeit. Besonders hübsch werde ich finden, am Montag dann Rechnungen zu schreiben. Ich glaube, damit kann ich meinen Kunden wirklich eine Freude machen. Aber die meisten werden das ihn nicht lesen, weil die erst nach Silvester wieder in ihr E-Mail-Fach schauen.

Sofern ich nichts anderes zu tun habe, werde ich mich an mein nächstes Video machen. Vielleicht kann ich das sogar heute Abend noch fertig stellen. Mein zweiter Monitor ist vor zwei Tagen kaputtgegangen. Ich werde mir einen neuen kaufen müssen. Ich bin mittlerweile zu sehr daran gewöhnt. Es geht aber auch so.

Ich habe aber auch ein bisschen inhaltlich arbeiten können. Zunächst wäre dort die kulturhistorische Schule. Meine Notizen zu Vygotskij habe ich durchgelesen und weiter kommentiert. Das habe ich schon lange nicht mehr getan. Zwischendrin sind viele weitere Zitate und Kommentare Lotman, Bachtin, aber auch Schopenhauer entstanden. Schopenhauer finde ich in Bezug auf Vygotskij deshalb so interessant, weil ein zentraler Begriff bei beiden der Wille ist. Und schon ein erster Vergleich zeigt, dass die Auseinandersetzung mit beiden im Vergleich sehr fruchtbar werden wird. Mal sehen, ob ich in den nächsten Wochen Zeit dafür finde, das zu tun. Ich befürchte nicht.

Eine ganz andere Sache sind meine Schriftsteller der Nachkriegszeit. Max Frisch, den ich wegen Christa Wolf, dann wegen Uwe Johnson, ein wenig beiseite geschoben habe, wandert jetzt so langsam in meinen Zettelkasten. Danach folgen Christa Wolf selbst, Uwe Johnson und natürlich Hannah Arendt.
Arendt ist im Bezug auf alle drei Autoren sehr spannend. Für sie taucht eine Tatsache in der menschlichen Welt nur auf, wenn sie mit anderen Menschen geteilt wird. Dieses Teilen geschieht aber nicht durch eine wissenschaftliche Untersuchung, sondern (in einem weiten Sinne gemeint) durch das Erzählen. Man könnte hier (wenn auch nur sehr überspitzt) sagen, dass eine mit anderen Menschen geteilte Welt nur durch eine vielfältig erzählte Welt existiert. Dann aber wäre die grundlegende Funktion zwischenmenschlicher Kommunikation nicht das Aushandeln, sondern dass Teilen in Mitteilen und Aufteilen. Man kann sich das ganze dann tatsächlich so vorstellen, dass die Aufteilung durch die verschiedenen Perspektiven von verschiedenen Menschen die Mitteilung ist, nicht die eigentliche Aussage. Und das eine Mitteilung in der Kommunikation nur geschieht, insofern die Aussagen verschieden sind. Mitteilung entsteht also durch einen Leerraum, der nicht usurpiert werden muss.
Etwas Ähnliches schreibt Frisch in seinen Tagebüchern zur Liebe.

Jahrestage IV

„Nachher, wenn sie sich die stramme Kappe vom Kopf zieht, wird sie inmitten ihrer langen winterblonden Haare älter aussehen als ihre zehneinhalb Jahre.“
Johnson, Uwe: Jahrestage II, Frankfurt am Main 1993, Seite 488

16.12.2013

Und noch einmal: Videos

Ihr ahnt es wahrscheinlich schon: meine leicht zugejammerten Posts über allerlei technische Wehwehchen beim Video-Gestalten werden wohl so etwas wie ein running gag.

Worum geht es? Nun, ich habe in den letzten zwei Wochen recht viel entdeckt, viele neue Möglichkeiten, aus dem vorhandenen Material schöne Sachen zu gestalten. Und das hört sich zunächst ja sehr gut an. Dann allerdings musste ich auch wieder feststellen, dass all diese vielen schönen kleinen Entdeckungen gar nicht zu meinem Kurs passen. Bzw. kann ich mir derzeit noch nicht vorstellen, was ich mit denen anfangen werde. Und insofern haben mir die letzten beiden Wochen wieder relativ wenig genützt.
Trotzdem: vermutlich wird diese Erfahrung jetzt erstmal bei mir eine Weile gähren müssen. Und eventuell muss ich von Anfang an die Planung stärker auf die grafischen Elemente auslegen und auch auf die Eigenständigkeit des filmischen Erzählens. Das war ja das zweite Problem, was ich dann gesehen habe: im Prinzip sind diese Videos noch viel zu sehr verbal ausgestaltet. Die grafischen Elemente sind vorwiegend Hilfsmittel, so wie man das fast immer im klassischen Unterricht sieht. Das ist jetzt nicht unbedingt eine Kritik, aber richtig innovativ kann so etwas auch nicht werden. Und auch wenn ich mich da überhaupt nicht unter Druck setze: ich möchte schon eine stärker auf die Grafik oder auf den Film angelegte Struktur der einzelnen Videos erreichen. Nicht in diesem Kurs. Wahrscheinlich auch nicht in den nächsten beiden. Aber in den nächsten zwei Jahren.

Hier also das erste Video, in neuer Gestalt. Das zweite steht auch schon online. Ebenso werdet ihr ein drittes finden, in dem ihr noch die alte Grafik seht. Das ist nicht schlecht, aber eben durchaus wenig aufregend.

07.12.2013

Feine Kunden - diesmal: die queer-Theorie und die Pädagogik

In meinem letzten Post hatte ich von einer Kundin berichtet, die mich angerufen hatte, weil sie über die Darstellung von "hegemonialer Männlichkeit" verunsichert war. Das hat zu einem weiteren kleinen Nachbeben geführt.
Die Kundin ist hier deutlich zwischen einer queer-freundlichen Auffassung und dem pädagogischen Anspruch, Kindern die Entwicklung einer gesunden Identität zu ermöglichen, aufgerieben. Da sich Identitäten entlang von Schablonen und Vorbildern entwickeln, manchmal durch Nachahmung und manchmal durch Widerstand, ist jene junge Frau in die Zwickmühle gekommen, wie sich eine sinnvolle pädagogische Intervention gestalten ließe, die zwischen "queeren" Ansprüchen und den sehr klischeehaften Rollenbildern, die manche ihrer (zukünftig) zu betreuenden/erziehenden Kinder mit sich bringen, vermittelt.

Identitätsverluste

Zunächst muss man sämtlichen Gegnern von Judith Butler den Zahn ziehen, sie wolle eine queere Gesellschaft. Lesen wir dazu zunächst sie selbst:
Sie [die Aufsätze im vorliegenden Band] konzentrieren sich auf die Frage, was es bedeuten könnte [!], restriktiv normative Konzeptionen des von Sexualität und Gender bestimmten Lebens aufzulösen ... Die Aufsätze behandeln diese Erfahrung des Aufgelöst-Werdens ... gleichermaßen in guter wie schlechter Hinsicht. Manchmal kann eine normative Konzeption von Gender die Personalität auflösen, indem sie die Fähigkeit untergräbt, sich in einem lebenswerten Leben zu behaupten. Dann wieder kann die Erfahrung, dass eine normative Beschränkung aufgelöst wird, eine frühere Vorstellung davon, wer man ist, auflösen, nur um eine relativ neue zu eröffnen, deren Ziel es ist, das Leben lebenswerter zu machen.
Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2011, S. 9.
Hören wir also genau auf dieses "sowohl ... als auch ...", und dass sich die Frage nach einer unbeschädigten Identität nicht einfach durch die Verqueerung einer Gesellschaft lösen lässt. Dies wird aber auch weniger von Gender-Theoretikern vertreten, als von Menschen, die Butler nie gelesen haben. Doch natürlich findet man auch die abstruse Forderung, Kindern eine heterosexuelle Identität abzuerziehen.

Heterosexualität aberziehen?

Philosophie, insbesondere politische Philosophie, neigt dazu, Fragen der Erziehung nur am Rande zu erwähnen, auch wenn es sich explizit um Fragen der Ethik und der Politik handelt. Bekannt und berühmt ist die Behandlung in Platons Gesetzen (7. Buch, meist wird der entsprechende Abschnitt mit 3 beziffert). Es folgen idealistische Positionen wie die von Rousseau. Im Allgemeinen sucht man aber explizit pädagogische Erläuterungen vergeblich. Dewey bildet eine Ausnahme, mit "Demokratie und Erziehung". Ansonsten muss man sich auf philosophisch ambitionierte Pädagogen und Soziologen verlassen, auf Psychologen oder einfach auf nachdenkliche Menschen des Alltags.
Judith Butler kann in diese Erziehungs"blindheit" bedingt ebenfalls eingereiht werden. Trotzdem gibt sie deutliche Hinweise, die eben nicht in Richtung einer zwanghaften Aberziehung von Heterosexualität gehen:
Daraus folgt allerdings nicht, dass die Queer-Theory jedwede Geschlechtszuordnung bekämpfen würde oder die Wünsche derer fragwürdig machen wollte, die zum Beispiel bei Intersex-Kindern solche Zuordnungen sicherstellen möchten, weil Kinder sie durchaus brauchen können, um sozial zu funktionieren, selbst wenn sie später im Leben - um die Risiken wissend - zu dem Entschluss gelangen, ihre Geschlechtszugehörigkeit zu ändern. Dahinter steht die vollkommen berechtigte Annahme, dass Kinder nicht die Last auf sich nehmen müssen, Helden einer Bewegung zu sein, ohne zu einer solchen Rolle ihre Zustimmung als Mündige geben zu können. In diesem Sinne ist die Kategorisierung angebracht und kann nicht auf Formen eines anatomischen Essentialismus reduziert werden."
Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2011, S. 19.
Man könnte aus dieser Passage also folgern, dass die Erziehung zur Heterosexualität 1.) nicht falsch ist und 2.) als Übergangslösung begriffen werden kann, insofern Kinder keine eindeutigen Signale aussenden, bzw. Erwachsene Zweifel hegen.
Weder aber wird gesagt, dass Kinder Erzieher brauchen, die Zweifel an der eigenen Identität haben, auch wenn dies manchmal vorkommen soll und nicht immer zu einer Schädigung der kindlichen Identität führt, noch heißt das, dass in den Kindern Zweifel gesät werden sollen.

(Sexuelle) Identität und Erziehung

Folgt man Butler weiter, ist Identität ein heterogenes Konzept. Auf diesem Hintergrund wird es für den Erzieher manchmal schwierig, die verschiedenen Anforderungen an die Identität des Kindes in widerspruchsloses erzieherisches Verhalten umzusetzen.
Auf diesem Hintergrund hat dann die Kundin etwas desillusioniert gesagt: Also läuft alles darauf hinaus, Kindern gegenüber sensibel zu sein und ihnen einen Schutzraum zu bieten?
Ja, so scheint es wohl.
Dieser Rückzugsort muss gewährleistet sein, anscheinend von der Entscheidung an, ein Kind zu bekommen bis zu dem Moment, da das Kind eigenständig und selbstverantwortlich ist. Die Kundin berichtete, dass es unklar ist, inwieweit Väter für eine gesunde Identitätsentwicklung notwendig sind und dass mit der zunehmenden Zahl an alleinerziehenden Vätern immer fraglicher wird, ob Mütter dafür notwendig sind. Was Kinder allerdings nicht gebrauchen können, ist ein Rückzugsort, der von massiven Konflikten durchzogen ist.

Mündigkeit und queer-Sein

Unterstreichen wir also im letzten Zitat, was Butler scheinbar nur am Rande erwähnt: die Mündigkeit. Und damit kann man, bei aller scheinbar radikalen Zuschreibung der Butlerschen Konzepte, im guten wie im bösen Sinn, einen sehr klassisch-humanistischen Kern ausmachen: die sittliche Autonomie auch als Kern einer queer/gender-Ethik. (Ich erinnere an dieser Stelle auch daran, dass Foucault, auf den Butler sich sehr häufig bezieht, sehr starke Verbindungen zu Kant pflegte und diesen immer wieder kommentiert hat. Es wäre durchaus sinnvoll, dies einmal genauer zu untersuchen.)
Auf diese sittliche Autonomie dürfen sich dann auch wir Heterosexuelle berufen und zu dieser müssen wir uns auch verpflichten.

02.12.2013

Radikale Instabilitäten — die Kategorie der Frau und Männlichkeit

Zumindest heute Nachmittag konnte ich mich mal wieder meiner eigenen Literatur zuwenden, jenseits von der Notwendigkeit, etwas ökonomisch sinnvolles zu tun.

Intertextualität

Zwischendrin, auch um mich immer wieder daran zu erinnern, lese ich natürlich Judith Butler. Die leitende Idee dahinter ist die der Intertextualität. Julia Kristeva schreibt dazu:
"Écrivain autant que "savant", Bakthine [Bachtin, FW] est l'un des premiers à remplacer le découpage statique des textes par un modèle où la structure littéraire n'est pas, mais où elle s'élabore par rapport à une autre structure. Cette dynamisation du structuralisme n'est possible qu'à partir d'une conception selon laquelle le "mot littéraire" n'est pas un point (un sens fixe), mais un croisement de surfaces textuelles, un dialogue de plusieurs écritures: de l'écrivain, du destinataire (ou du personnage), du contexte culturel actuel ou antérieur."
Kristeva, Julia: Le mot, le dialogue et le roman. in: dies.: Semeiotike. Recherches pour une sémanalyse, Édition du Seuil 1969, p. 83.

Feministische Elite

Das fantasmatische Wir des Feminismus

Ich spinne also den Faden von Judith Butler in andere Bücher hinein und wieder zurück. Dabei geht es weniger um die eigentliche Bedeutung, sondern um das Spiel der Doubles.

So fand ich es neulich fast schicksalhaft ironisch, als ich durch Hannah Arendt wieder einmal zu Nietzsches Schrift Schopenhauer als Erzieher kam und von dort aus zu den Aphorismen zur Lebensweisheit von Schopenhauer selbst. Wo ich dann über recht ähnliche Formulierungen zur Sexualehre des Weibes in Bezug auf das fantasmatische Wir des Feminismus bei Judith Butler stieß. Ich berichtete davon: Vom Schreiben und Erzählen.

Radikale Instabilität des feministischen Wirs

Nun: am Freitag schreckte mich kurz nach dem Mittagessen ein Anruf aus meiner Versunkenheit, ich weiß gar nicht mehr in was. Jemand war über meinen Blog gestolpert und die erste Frage war, ob ich denn auch Ahnung von hegemonialer Männlichkeit habe. Was er denn wissen wolle, fragte ich zurück. Nun, er habe Probleme mit der Aussage, hegemoniale Männlichkeit sei stets prekär, instabil und sozial offen. Das nun war der Moment, in dem ich endgültig wach wurde. Ich fühlte mich sofort an eine Aussage von Judith Butler erinnert. Diese schreibt in Das Unbehagen der Geschlechter:
Das feministische »Wir« ist stets nur eine fantasmatische Konstruktion, die zwar bestimmten Zwecken dient, aber zugleich die innere Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit dieses »Wir« verleugnet und sich nur durch die Ausschließung eines Teils der Wählerschaft konstituiert, die sie zugleich zu repräsentieren sucht. Freilich ist der schwache oder fantasmatische Status dieses »Wir« kein Grund zur Verzweiflung — oder besser gesagt: nur ein Grund zur Verzweiflung. Die radikale Instabilität dieser Kategorie stellt die grundlegende Einschränkungen der feministischen politischen Theorie in Frage und eröffnet damit andere Konfigurationen, nicht nur für die Geschlechtsidentitäten und für die Körper, sondern auch für die Politik selbst. (209)

Männliche Kontingenz

Ich habe also pflichtbewusst erstmal darauf gepocht, dass ich jetzt natürlich eine Dienstleistung anbiete, bzw. anbieten kann. Und dass ich natürlich begründete Interessen daran habe, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Da es für mich ein Selbstgänger war, konnte ich sogar einen sehr humanen Preis anbieten. Ich habe dann das entsprechende Zitat von Judith Butler zugeschickt und in einem weiteren Telefonat auseinander gepflückt und mit dem Zitat, das der Kunde vorliegen hatte, parallelisiert.

Sein Zitat lautete dann vollständig folgendermaßen:
»Das Soziale wie auch das Diskursive werden als radikal kontingente Räume begriffen, die allerdings zeitweise über Diskurse und hegemoniale Machtbeziehungen strukturiert werden« … Obwohl Kontingenz das Soziale kennzeichnet, wird dennoch für die Konstitution von Hegemonien ein letzter gemeinsamer Grund behauptet. Auf Männlichkeit übertragen bedeutet dies nicht selten einen Rekurs auf eine vermeintlich ähnliche Natur aller Männer. So wird die universelle Geltung von Normen legitimiert und damit das Einverständnis der Beherrschten gesichert. Hegemoniale Herrschaft — und so Heilmann weiterführend auch hegemoniale Männlichkeit — beruhen auf einem unauflösbaren (logischen) Widerspruch zwischen der Postulierung einer universalen Bezugsebene und einer faktischen Kontingenz von Machtverhältnissen, in denen sich partikulare Interessen aktuell als dominant durchsetzen. Hegemoniale Herrschaft und hegemoniale Männlichkeit sind somit »stets prekär, instabil und sozial offen« …
Scholz, Sylka: Männlichkeitssoziologie, Münster 2012, 24

Extrapolation

Die Kritik, die die Autorin an dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit übt, basiert also auf dem Unterschied zwischen einer idealtypisch gedachten Herrschaft der Männer und einer im Einzelfall realen Machtstellung des Mannes. Genauer gesagt kommt hier, wie die Autorin ausdrücklich sagt, eben jener Paralogismus zum Vorschein, um den ich mich in den letzten Jahren so intensiv gekümmert habe: die Extrapolation.
Gerade in den letzten Jahren wurde deutlich, dass der Mann, aber auch der Vater in Bezug auf das Kind, eine zunehmend schwierigere gesellschaftliche Stellung zugewiesen bekommt, je mehr er sich um das Kind zu kümmern wünscht, dies aber gesellschaftlich unterbunden wird. Der Kunde nannte dann den Titel eines Buches, der Entsorgte Väter lautete und, seinen Angaben nach, recht wissenschaftlich gehalten sei (was man ja manchmal in dieser Väterdebatte vergeblich sucht).

Soziale Evolution, Restabilisierung und Elitebildung

Jedenfalls war die verblüffte Aussage des Kunden dann: dann würde sich der Feminismus gar nicht von der hegemonialen Männlichkeit unterscheiden!
Nun, nicht ganz. Der Feminismus ist natürlich nicht automatisch schon eine Hegemonie. Genauso wenig ist Männlichkeit automatisch hegemonial. Deshalb gibt es ja diese Zusammensetzung, schon auf der verbalen Ebene. Hegemonie ist eben, und das ist das Problem, nicht von Subjekten initiiert, sondern entsteht aus der sozialen Evolution heraus und stabilisiert sich dann über (versuchte) Elitenbildung. Das einzelne Subjekt gerät also in eine Elite hinein und stabilisiert diese dann aus Eigeninteresse, wodurch sich Eliten dann gerne auch mal „nach unten“ abschotten.
Das lässt sich meiner Ansicht nach auch beim Feminismus beobachten. Auch hier haben sich mittlerweile Formen von elitären Bündnissen gebildet, die sich gegenüber anderen Frauen verschließen und zwar mit der gleichen Geste, die von denselben Frauen den Männern vorgeworfen wird. Und auf der anderen Seite lassen sich diese subkulturellen Eliten wieder sehr gerne von Eliten absorbieren, die man, so war neulich ein „verrückter“ Einfall von mir, Super-Eliten nennen könnte: dazu gehört das Bündnissystem innerhalb der Wissenschaft, insbesondere der Sozialwissenschaft, aber auch Wirtschafts-Eliten oder politische Eliten.

Relative Stabilitäten, Exklusion am Rand

So stellt sich die Frage, ob der derzeitige Umbau der Gesellschaft entlang des gender-Diskurses tatsächlich Ungerechtigkeiten abbaut oder nur anders verteilt. Derzeit beobachte ich die ganze Situation eher mit einem gewissen Stirnrunzeln. Vielleicht spielt dabei der Feminismus nur eine sehr geringe Rolle, aber auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft sind wir weißgott nicht. Und wo sich der Feminismus nicht nach unten marginalisiert, so marginalisiert er sich dann nach oben.

Man kann hier, ganz im Sinne von Gabriel Tarde, von »Plateaus« sprechen, die »instabile Gleichgewichtszustände« seien. Und man kann hier eine doppelte Instabilität postulieren. Auf der einen Seite sind solche Plateaus in sich instabil. Und auf der anderen Seite erlangen sie eine relative Stabilität, indem an ihren Rändern beständig instabile Elemente ausgesondert werden. Dies würde die konflikthaften Erscheinungen innerhalb der Gesellschaft erklären, wie man sie ja auch beim Feminismus kennt. Und dies würde auch erklären, warum es trotz der inhaltlichen Unterschiede durchaus Ähnlichkeiten mit dem Kampf um die „christliche“ Familie gibt: Dynamisch, also der schwankenden (De-)Stabilisierung nach, sind sich diese beiden gesellschaftlichen Strömungen durchaus ähnlich.

Feind = Freund; eine Ununterscheidbarkeit

Genauso parallelisiert sich dann auch die mal latente, mal manifeste Frauenfeindlichkeit Schopenhauers zu der angeblichen Frauenfreundlichkeit des Feminismus. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn egal ob es sich um ein Ideal oder ein Anti-Ideal handelt: in Bezug auf die empirische Aussage gerät man schnell in Paralogismen hinein, und derzeit ist es mir noch gar nicht klar, ob es tatsächlich eine solche umsichtige Argumentation gibt, die solche Paralogismen vermeiden kann. Ich habe meine Zweifel.

Wilde Strukturen

Damit kommen wir zu dem Zitat von Julia Kristeva zurück. Auch hier bin ich mir nicht wirklich sicher. Aber man könnte doch die Beziehung zwischen verschiedenen Strukturen in einen produktiven und bedingt auch wilden Prozess setzen. Wie sähe ein solcher Prozess aus? Vom Standpunkt des subjektiven Bewusstseins aus? Derzeit spiele ich wieder, angeregt durch Hannah Arendt, mit der Idee, dass sich anhand von (bestimmten) Tatsachen zahlreiche Erzählfäden kreuzen dürfen und müssen. Dann ist die Tatsache, die so lange in den Vordergrund gerückt wurde, tatsächlich nur noch der Knotenpunkt, an dem sich die Differenz der Erzählungen am deutlichsten zeigt und am ehesten verhandeln lässt.

01.12.2013

Heute fühle ich mich nach …

Selbstbeweihräucherung.

Warum eigentlich?
Ganz nahe liegend: ich habe einen recht langen Tag hinter mir, mit zahlreichen Arbeiten rund um meinen Beruf. Und jetzt, am frühen Morgen des Folgetages auch zwei Gläser Wein intus. Erschwerend kommt hinzu, dass ich seit drei Wochen keinen Alkohol getrunken habe. Man könnte also sagen, dass ich völlig aus der Übung bin.

Etwas objektiver sind allerdings meine Besucherzahlen. Über die ich jetzt eigentlich schreiben wollte: während ich ganz zu Beginn mal den einen oder anderen Besucher im Monat hatte, konnte ich letzten Monat, im November, sogar mal die 5000-Marke an einem Tag sprengen.

Vermutlich sind es diese vielen kleinen Nischenthemen, die ich über die Jahre hinweg angeschnitten habe, die mir diese enorme Aufmerksamkeit ermöglichen. Es ist übrigens eine zwiespältige Aufmerksamkeit.
Fast täglich erreichen mich E-Mails mit Schmähungen. So hat sich eine gewisse Bevölkerungsgruppe darauf festgelegt, ich sei ein Frauenversteher und deshalb natürlich schwul. Deshalb sind auch alle meine Artikel schwul und deshalb schreibe ich auch nur zu schwulen Themen. So jedenfalls der Tenor.
Andere wiederum meinen, es sei intelligent, mir Unkenntnis in der Logik fortzuwerfen. Das ist in doppeltem Sinne ärgerlich: ich bin durchaus bereit, sofern es sich um einen vernünftigen Gesprächspartner handelt, meine Kenntnisse in der Logik als begrenzt zu bezeichnen. Das liegt vor allem daran, dass die Logik sich im 20. Jahrhundert immer stärker an bestimmten ethischen Verpflichtungen orientiert hat und so in einem weiten Bereich die Logik ohne die Ethik gar nicht zu denken ist. Umso ärgerlicher ist es, wenn hier gewisse Menschen mit einer simplem Schlusslehre meinen, mir eine Unkenntnis vorwerfen zu können. Die Schlussregeln von eindeutig wahren und falschen Aussagen sind aber, wie man sich leicht überzeugen kann, nur formale Definitionen, also Definitionen, die sich auf Tatsachen der Form und nicht auf Tatsachen des Inhalts beziehen, die also a priori richtig, aber a posteriori deutlich reduzierend sind.

Insofern schadet mir diese kleine Selbstbeweihräucherung überhaupt nicht. Sie erinnert mich daran, worauf uns Immanuel Kant einmal festgelegt hat: dass wir uns in einem Zeitalter der Aufklärung befinden, aber noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter. Und das man dazu seinen Beitrag leisten sollte, möglichst durch eine und geduldige Prüfung sämtlicher Argumente.

Adventure Game Design

Eine der schöneren Sitzungen aus The future of storytelling war diejenige über Adventure Game Design. Und zumindest ist hier jemand aufgetaucht, den die langjährigen Leser meines Blogs kennen, ich hoffe nicht nur von mir: Roland Barthes.

Nicht ganz so glücklich empfand ich allerdings die Darstellung, die dann geliefert wurde. Sie betraf die integrativen und distributiven Elemente des Erzählens. Diese hatte Roland Barthes in seinem Aufsatz Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen dargelegt. Etwas ausführlicher, allerdings zu einem anderen Zeichenbereich, findet sich diese auch in Die Sprache der Mode.

Integrative Elemente tauchen in der einen Codierung auf, verweisen aber auf eine andere Codierung. Das sind zum Beispiel in Erzählungen ganz typisch Gesten. Diese verweisen auf die Codierung von Personenkonstellationen. Barthes gibt dazu ein treffendes Beispiel: James Bond telefoniert. Aber er telefoniert nicht einfach nur, sondern um dieses eine Telefon, das er benutzt, stehen weitere Telefone. Diese Telefone sind integrative Elemente. Sie verweisen auf James Bond als Stellvertreter einer machtvollen Organisation und damit weiter auf die moralische Codierung dieser Erzählung, die letztendlich auf der Opposition von Gut und Böse beruht.

Distributive Elemente dagegen verweisen auf Elemente der gleichen Codierung. So gehört es zu der grundsätzlichen Logik von Erzählungen, dass Gegenstände, die vorher in einer Erzählung auftauchen, später nochmal eine weitere Bedeutung bekommen. Der Kauf eines Revolvers zu Beginn einer Erzählung, so das Beispiel von Barthes, korreliert mit dem späteren Zeitpunkt, zu dem er benutzt wird.
Besonders häufig fällt einem das in den Büchern von Harry Potter auf. In jedem Buch dieser Reihe streut Rowling zu Beginn Hinweise auf Gegenstände ein, die später wichtig werden. Dies ist im ersten Band zum Beispiel das geheimnisvolle Päckchen, welches Hagrid aus den Verliesen von Gringotts holt. Und wenn man es genau nimmt, zieht dieses Päckchen geradezu korrelative Elemente an, zum Beispiel den Einbruch bei Gringotts am selben Tag, was Harry Potter später in der Zaubererzeitung liest.
Dasselbe geschieht aber auch über ganz weite Distanzen hinweg, zum Beispiel mit dem Motorrad, mit dem Hagrid gleich zu Beginn des Romans den kleinen Harry Potter zu den Dursleys bringt; oder mit den Zauberern, die sich willentlich in ein bestimmtes Tier verwandeln können, wie gleich zu Beginn die Katze, die eigentlich Professor McGonagall ist.

Insofern finde ich die Darstellung in dem Video zu den Adventure Games missverständlich, da sie das dahinterliegende linguistische Prinzip nicht erklärt. Integrative und distributive Elemente tauchen nicht nur in Erzählungen auf. So sind die grammatischen Markierungen innerhalb eines Satzes die integrativen Elemente für die Sätze, während die anaphorischen Elemente innerhalb von Sätzen integrative Elemente für den erzählten Raum und die erzählte Zeit sind. Distributive Elemente wiederum sind zum Beispiel alle Familienverhältnisse, die auf eine bestimmte Codierung der Familie verweisen. Diese Verweise müssen übrigens nicht realisiert werden. So erweist sich die simple Erwähnung eines Mannes in einer Erzählung als korrelativ zu anderen Männern, Frauen und Kindern oder auch Eltern. Dabei ist das Wort Korrelation sehr unspezifisch. Es wird durch eine Erzählung immer konkretisiert.
Werbung arbeitet ebenfalls mit solchen distributiven Elementen. Eine Nudelpackung, zu deren Füßen reife Tomaten, Zwiebeln und Oliven liegen, und im Slogan Sommer, Sonne, Sinnlichkeit verspricht, garniert mit einer italienischen Fahne, verweist auf die Codierung Italien. Und es macht überhaupt nichts, dass diese Codierung höchst mythisch ist. Sie funktioniert in einem gewissen kulturellen Kontext (nämlich in Deutschland) ganz hervorragend. Der Kitt dieser Codierung ist mit Sicherheit nicht auf langjährige Erfahrungen gegründet, sondern auf kurzfristige Urlaubsreisen.

Wenn man sich das Video anschaut, könnte man allerdings meinen, dass es Gegenstände sind, die auf Handlungen in anderen Szenen eines Abenteuer-Spiels verweisen. So findet der Avatar an einem Ort einen Apfel und an einem anderen Ort benutzt er ihn, zum Beispiel, um ein wildes Pferd zu zähmen, was für den weiteren Verlauf des Spiels wichtig ist. Korrelieren tut hier allerdings nicht der Apfel mit dem Zähmen, sondern der Apfel mit dem Pferd und das Finden mit dem Zähmen.
Und hier stoßen wir auf eine Schwierigkeit, zu der ich weder in der Literatur eine Lösung gefunden habe, noch selbst auf eine gekommen bin. Denn offensichtlich nutzt die Geschichte hier zwei Korrelationen aus zwei unterschiedlichen Codes, um diese zu integrieren. Etwas schlichter gesprochen: Sie stellt eine Analogie her, nämlich die Analogie zwischen Apfel-Pferd und finden-zähmen.

Nun wäre dieses Beispiel leicht hinzunehmen, wenn es sich nur auf solche Codierungen beschränkt, die alltäglich nachvollziehbar sind. Viel schwieriger wird es bei Codierungen, die sich auf deutliche Systemwechsel beziehen, wie zum Beispiel die Handlungsfolgen eines Romans und der Eindruck von Spannung bei dem Leser. Nicht nur, dass es äußerst gewaltsam erscheint, wenn solche Spannungselemente herausgefiltert werden (und zwar als die psychologische Seite der Spannung, nicht die Elemente einer bestimmten Schreibtechnik); es ist schon gar nicht klar, welche Codierung hier integriert und welche integriert wird. Und dann wird es schon fast dekonstruktivistisch: offensichtlich besteht hier am Ursprung der Spannungserzeugung ein anthropologisches Paradox.

Anthropologisches Paradox? Das verlangt nach einer Erklärung. Nun, ein anthropologisches Paradox ist zum Beispiel, dass die Souveränität des Menschen seiner Gemeinschaftlichkeit entgegensteht. Das ist eine Sache, die man an Hannah Arendt wirklich kritisieren muss. Nämlich, dass sie diese grundlegenden Paradoxien nicht gut herausgearbeitet. Und insofern ist der Ansatz, den Judith Butler vertritt, und der tatsächlich eine gewisse Nähe zu Hannah Arendt aufweist, deutlich interessanter, weil er deutlich ehrlicher ist. Politik ist, so mag man das schlagwortartig sagen, in einer Gesellschaft von Einzelwesen schwierig.
Es gibt auch andere anthropologische Paradoxien. Wer hier meisterhaft darauf hinweist, ist Niklas Luhmann. Der andere Mensch muss mir mit seinen Gedanken unzugänglich sein, damit er mir zugänglich wird. Zugänglich worüber? Über Kommunikation. Dass diese Zugänglichkeit über Kommunikation wieder neue Paradoxien schafft, liegt wohl in der Natur von dynamischen und autopoietischen Systemen. So jedenfalls kann man Luhmann lesen.

Auch die Paradoxie zwischen Handlungsstruktur und Spannungsempfinden scheint eine Paradoxie aufzuheben, nämlich die zwischen der Leere des Signifikanten und dem Lesen des vollen Sinns.
Vielleicht versteht der eine oder andere Leser, warum mir diese Ausformulierung so viel Mühe macht. Schließlich geht es darum, zwei Paradoxien zu würdigen (wenn es denn diese überhaupt sind) und sie zugleich in ein sich gegenseitig reduzierendes Verhältnis zu setzen.