18.12.2014

Zeichnen üben

Ich komme zu wenig oder gar nichts. Hatte ich noch vorletzte Woche Zeit genug, um intensiver in meinem Gramsci herumzustöbern, liegen dessen Bücher jetzt relativ ungenutzt neben meinem Schreibtisch. Hauptsächlich bin ich gerade mit den Terminen für die Zeugnisse zugange. Hier möchte ich nichts falsch machen und trage mir jeden wichtigen Termin in drei verschiedene Kalender ein.

Auf Zetteln zeichnen

Ich hatte in meinem letzten Beitrag vorgeschlagen, Zettel vom Notizblock für Zeichenübungen zu nutzen. Das halte ich auch zur Zeit ganz gut durch. Für Übungen sind Wiederholungen wichtig. Dazu lege ich mir die bereits angefertigten Skizzen und Übungen vor mich, leere Notizzettel daneben, und dann fertige ich den Zettel einfach noch mal an.
Auf dreien dieser Zettel habe ich zum Beispiel die Grundformen skizziert, die Martin Haussmann als Grundvokabular für seine visuellen Notizen nimmt. Diese drei Zettel habe ich mittlerweile mehrmals wiederholt, wobei ich einzelne grundlegende Figuren, wie zum Beispiel die gepunktete Linie oder die Gedankenblase noch einmal auf Extra-Zetteln geübt habe. Diese beiden Formen gelingen mir nur sehr mäßig, während ich mittlerweile Glühbirnen, Wecker und Totenköpfe recht zuverlässig und einander sehr ähnlich zeichne.
Trotzdem werde ich meinen wachsenden Zettelhaufen als Übungsform beibehalten. Es geht eben nicht darum, etwas ganz präzise abzuzeichnen, sondern bei der raschen Skizze ein Selbstverständnis zu erreichen.

Abzeichnen

Ich zeichne relativ viel ab. Zum einen sind das die von Haussmann vorgeschlagenen visuellen Grundformen, Quader, Dreiecke und Kreise in verschiedenen Größen, typische Symbole wie das Pluszeichen oder Buchstaben; dazu entwerfe ich aber auch immer wieder Kombinationen, etwa Sprechblasen, auf deren Rand verschiedene Symbole sitzen, so dass ich später solche Kombinationen, wenn sie angebracht erscheinen, leichter verwenden kann. Dann gibt es einige Kritzeleien, die ich ganz sinnvoll fand, und die ich mittlerweile auch zum dritten Mal „abzeichnen“, wobei ich mir hier einige Freiheiten lassen, also keine exakte Kopie anfertige. Ich nutze Ikone aus dem Internet, sowohl Smileys als auch sehr typisierte Gegenstände. Schließlich kopiere ich Logos von Firmen, zum Teil aber auch besondere Buchstaben.

Von der Mindmap zum Infogramm

Dazu bin ich bisher nur in einem einzigen Fall gekommen. Aus meiner aktuellen Lektüre habe ich eine Mindmap erstellt und diese dann in zwei Schritten zu einem Infogramm umgestaltet. Dazu eignen sich solche kleinen Zettel hervorragend, weil sie zugleich eine scharfe Auswahl dessen erfordern, was man visualisieren möchte. Und selbst, wenn man einen komplexen Sachverhalt nacheinander auf mehreren Zetteln skizziert, muss man hier immer sehr reduziert vorgehen.
Die Übersetzung in ein Schaubild ist zugleich eine intensive Auseinandersetzung mit dem Inhalt. Insofern ist diese Technik tatsächlich ein wunderbares Hilfsmittel, um schwierige Textpassagen auszuwählen oder längere Textpassagen zusammenzufassen.

Farben und Stifttypen

In den letzten zwei Tagen habe ich zwischen Bleistift, Kugelschreiber und Filzstift hin- und hergewechselt. Gestern habe ich dann auch zwei Zeichenflächen mit dem Programm SketchBook und meinem SketchPad vollgezeichnet, allerdings auch mit den einfachsten Figuren, die Haussmann anbietet. Heute dagegen hatte ich gar keine Zeit dazu.
Dafür habe ich mir einen kompletten Satz mit farbigen Finelinern gekauft und einige der Zeichnungen farbig ausgestaltet. Einige ist allerdings recht ungenau: es sind genau drei Zettel entstanden. Den Rest des Abends habe ich mit Vor- und Nachbereitungen verbracht.
Insofern freue ich mich tatsächlich auf die Ferien: die habe ich endlich Zeit, mich intensiver mit solchen wichtigen Techniken auseinanderzusetzen und eventuell sogar einige Produkte anfertigen zu können.
Heute Morgen sind in der Bahn dazu zwei kleine Skizzen, noch ganz unfertig, zum Grammatikunterricht entstanden. Solche Sachen würde ich gerne möglichst intensiv ausarbeiten.

15.12.2014

Denken mit dem Stift

Dies ist eine Seite aus dem Buch UZMO - Denken mit dem Stift von Martin Haussmann.
Nun dürft ihr mich unken hören, dass Menschen, die nur mit dem Stift denken, statt mit dem Gehirn, gar nicht denken, sondern bloß kritzeln. Und tatsächlich sollte man dieses Buch nicht nach seinem Titel beurteilen. Richtig allerdings ist, dass der Autor, hervorragend, wie ich finde, erläutert, wie Visualisierungen beim Denken helfen können, als Übersicht und Struktur, als Medium für semantische Experimente, als Hilfe für das Gedächtnis.

Der Aufbau des Buches I

Das Buch ist hoch strukturiert, dabei aber insgesamt sehr spielerisch. Für ein Buch über Visualisierungen zeigt es erstaunlich viel Text. Das funktioniert allerdings wunderbar, weil es zugleich sehr großzügig gestaltet ist, so dass es sich leicht lesen lässt. Für ein Buch, das vor allem für Coaches, Management-Trainer und sogenannte Experten geschrieben ist, enthält es erstaunlich viele konkrete Informationen und so gut wie gar keine befremdlichen Vokabeln, hinter denen sich entweder gar nichts oder längst abgelatschter Stiefel verbergen. Man hat es also mit einem angenehm sachlichen und praktischen Buch zu tun. Ich befürchte, dass die Hälfte dieser sogenannten Experten dieses Buch als zu kompliziert empfinden wird, obwohl es einfach geschrieben ist (aber zu konkret und ohne diese Party-Vokabeln).

Der Aufbau des Buches II

Das Buch ist im Querformat gedruckt, so dass es aufgeschlagen sehr breit auf dem Schreibtisch liegt. Zudem kommen zwei Klappseiten im Einband dazu. Ungeachtet dessen ist es aber ganz handlich.
Es gliedert sich in sechs Kapitel, von denen das erste die Rolle der Visualisierung in der heutigen Welt reflektiert. Die beiden nächsten Kapitel stellen zum einen die Grundelemente der Visualisierung vor und dann die Verbindung von Inhalt und Darstellung. Die anderen drei Kapiteln zeigen den Einsatz beim Präsentieren, Dokumentieren und Erkunden.
Zudem gibt es einen ausführlichen Anhang, der schöne Tricks für das Präsentieren verrät.

Beispiel I: Zeichnen Sie live

Das ist so klar wie Kloßbrühe. In der Lehrerausbildung ist dieses Prinzip seit über 100 Jahren bekannt. Seit Mitte der sechziger Jahre nennt man Tafelbilder, die man während des Unterrichts erstellt, genetische Tafelbilder. Wem die Erklärung in den Pädagogikbüchern dazu zu mager sind, findet hier ein hervorragendes Buch, um sich mit der Gestaltung von Tafelbilder auseinanderzusetzen.
Die Empfehlung ist aber auch deshalb sinnvoll, weil in den letzten Jahren PowerPoint geradezu unmäßig verwendet wurde. Zudem ist PowerPoint relativ unflexibel, wenn man während des Unterrichts auf die Äußerungen von Schülern und Studenten eingehen möchte. Es ist vor allem peinlich, wenn ein Dozent während des Unterrichts die PowerPoint-Präsentation ändern möchte und mit dem Programm nur mäßig umgehen kann. Das habe ich einmal erlebt.
Eine Tafel, farbige Stifte und ein Wischtuch, sowie eine mäßige Fähigkeit zum Zeichnen tun hier alle mal besser ihr Werk.

Beispiel II: der Spaghettitopf

So nennt der Autor Schaubilder, auf denen alles durcheinander läuft, als habe man einen Topf voller Spaghetti vor sich. Solche Schaubilder sind wohl das, was eine PowerPoint-Präsentation so ärgerlich machen.
Da ich selbst zu solchen Skizzen neige, wenn ich mir versuche, eine schwierige Textstelle auseinanderzupflücken, fand ich gerade diesen Abschnitt besonders anregend. Ein ganz wichtiger Aspekt, der mir gestern geholfen hat, war die Verbildlichung bestimmter Ideen. Schon allein dies bringt eine gewisse Übersicht selbst in ein sehr chaotisches Cluster. Der Autor bezeichnet dies als visuelle Anker.
Das ist allerdings nur einer von zahlreichen Tipps dazu.

Beispiel III: Infogramme

Gleich im Anschluss daran zeigt der Autor, wie man Infogramme entwickelt. An einem kurzen Textausschnitt demonstriert er, wie man über acht sehr praktische Schritte zu einem Infogramm kommt. Das ist übrigens eine Technik, die ich gerne meinen Schülern beibringen würde. Zum Teil wird diese schon intuitiv beherrscht. Etwas mehr Systematik wäre allerdings hilfreich. Mal sehen, wie ich diese in den Unterricht einbringen kann.

Visuelle Vokabeln

Ein großer Pluspunkt ist die (allerdings eigentlich sehr bekannte) Idee, seine Zeichnungen aus Grundelementen zusammenzusetzen. Dies erklärt der Autor schön, allerdings auch etwas knapp, da gerade das Zeichnen von Piktogrammen vielen Menschen Mühe bereitet.

Schwachstellen

Ich möchte dieses Buch nicht über den grünen Daumen loben (oder heißt es: den grünen Klee?). Mit Sicherheit wird sich der eine oder andere an diesem Buch auch frustrieren. Der Autor ist professioneller Grafiker mit einer großen Erfahrung, wie man Informationen visuell präsentiert. Das ist seinem Buch hervorragend anzumerken. Das macht es so angenehm zu lesen. Es ist aber keine Zeichenschule und wer sich noch so gar nicht in den Bereich des Zeichnens eingearbeitet hat, wird gerade zu Beginn einen steinigen Pfad vor sich finden, bei dem dieses Buch wenig Übergänge schafft.
Gerade Anfänger oder Menschen, die lange aus der Übung sind, werden zu Beginn an ihren Grundelementen, ihren Kästen und Kreisen, Pfeilen und Linien verzweifeln.
Hier hilft nur eins: üben, üben, üben.
Und hier begeht der Autor dann auch den Fehler, mit seinen gekonnten Grafiken, dem übersichtlichen Bildaufbau, den kleinen Details, der Farbgebung und den Schattierungen ein Niveau anzubieten, das für den normalen Menschen erst nach längerer Zeit und fleißigem Training erreichbar ist. Man sollte sich daran nicht messen und sich zunächst an die einfachen Grafiken halten, die der Autor eben auch anbietet. Später kann man dann zu komplizierteren und detailfreudigeren Figuren übergehen.

Fazit

Sieht man von einigen Stolpersteinen ab, ist dieses Buch wunderbar geeignet, um sich mit der Technik der Infografik auseinanderzusetzen. Es ist sinnvoll, dass man bereits etwas Erfahrung mit Bunt- und Filzstiften gesammelt hat und sei es nur mit kleinen Kritzeleien. Aber selbst solche „unnützen“ Kritzeleien ermöglichen ein brauchbares Selbstverständnis im Umgang mit Stiften. Und mehr ist eigentlich wirklich nicht nötig.
Sinnvoll für das Buch ist auch, wenn man sich einen Block mit Notizzettel besorgt, auf dem man immer wieder die grafischen Elemente üben kann. Ein solcher Block ist nicht teuer und sofern man nicht jeden Tag 50-80 Zettel bekritzelt, hält er auch einige Zeit vor.

14.12.2014

Was ich so treibe

Eins kann ich euch sagen: Klassenleiter zu sein ist ganz schön anstrengend. Allerdings macht es auch Spaß und ich bin hochmotiviert.

Texte schreiben

Meine Schüler schreiben wöchentlich Texte und sind zum Glück dazu gerne bereit. Viele Texte sind auch wirklich gut, manche sogar so hervorragend, wie man sie von Erwachsenen nicht zu lesen bekommt. Einen Nachteil hat das ganze allerdings schon: ich sitze jedes Wochenende mit 72 Texten am Schreibtisch. Allerdings korrigiere ich diese nicht im üblichen Sinne, sondern schreibe individuelle Empfehlungen und Ermutigungen. Ganz so einfach ist das nicht, da ich die Schüler noch nicht gut kenne.

Klassenbibliothek

Mittlerweile habe ich die Klassenbibliothek um einige meiner Bücher aufgestockt. Die Schüler lesen begeistert. Ich bin ganz fasziniert davon, dass keiner der Schüler Artemis Fowl kennt. Auch die Spiderwick-Saga ist noch nicht bekannt. Diese werden auch fleißig gelesen.
Ich hatte mir Oskar und Rico von Andreas Steinhöfel gekauft. Diese Bücher kenne ich noch nicht. Ich habe noch nicht einmal angefangen zu lesen, da ich mir zuerst zahlreiche Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen habe und mir dann auch ein Wettbewerb von der Buchserie Das magische Baumhaus in die Quere gekommen ist. Davon musste ich dann auch erst mal einige Bände lesen.

Visuell präsentieren

Lange ist es her, dass ich mit meinen Zeichenstiften gearbeitet habe. Da aber gleich mehrere Schüler von Comics ziemlich begeistert sind und auch einige echte Künstler darunter zu finden sind, habe ich mir jetzt einige Bücher zum Comiczeichnen gekauft. Eines der Bücher, dass ich noch mal ausführlicher vorstellen werde, behandelt das visuelle Präsentieren. Einen Teil des Wochenendes habe ich also damit verbracht, diese Bücher auszuprobieren. Bei einem Buch musste ich allerdings auch Zensur betreiben: gleich am Anfang befindet sich ein nicht jugendfreies, sexistisches Bild. Dieses habe ich mit einem Edding eingeschwärzt.
Jedenfalls habe ich an die 100 Schmierzettel mit Übungen vollgekritzelt. Das wird mir dann hoffentlich auch bei meinen Tafelzeichnungen zugute kommen.

Willensbildung und Sinnlichkeit

Das ist ein altes Thema von mir. Ich finde es faszinierend, wie sehr manche Menschen auf ihre Sinnlichkeit angewiesen sind und wie wenig sie darüber berichten können; es ist, als würden sie nicht in ihren eigenen Körpern wohnen. Zum Teil fällt das auch bei den Kindern auf. Die Welt und die Gedanken sind dort noch sehr ungeschieden.
Komischerweise habe ich gerade einen Text in Arbeit, der sich mit diesem Problemkreis beschäftigt. Es ist allerdings etwas hochgestochen zu sagen, ich hätte ihn in Arbeit. Dieses Wochenende habe ich ihn noch nicht zur Hand genommen und heute Abend werde ich es auch nicht mehr tun. Es handelt sich um Max Raphael, einem der wichtigsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. In seinem Buch Von Monet zu Picasso stellt er den Willen an den Ursprung des Gestaltungsvermögens und damit vor jegliche Sinnlichkeit. Der Ansatz ist reizvoll, alleine deswegen, weil dies dem interesselosen Anschauen des Immanuel Kant widerspricht.
Aber der Ansatz hat etwas für sich, welche die Möglichkeit aufscheint, dass der Mensch eben kein sinnliches Wesen ist, dem der Wille und alle anderen, sogenannten höheren Bewusstseinsformen aus der Sinnlichkeit erwachsen. Es ist zwar richtig, dass jeglichem Inhalt der Gedanken zunächst ein sinnliches Moment zu Grunde liegt. Doch aus irgendeinem Grund ist diese Sinnlichkeit zugleich ziemlich abstrakt und bleibt abstrakt, wenn sie nicht methodisch und systematisch aufbereitet wird.
(Dazu allerdings später mehr. Ich habe Raphael zwar an diesem Wochenende nicht gelesen, aber in meinen Notizen oftmals erwähnt. Und diese müsste ich nun selbst systematisieren und in eine Ordnung bringen. Probeweise ist dies auch schon geschehen, indem ich einige meiner Gedanken „visualisiert“ habe, also dazu Notizen in grafischer Form erstellt habe.)

08.12.2014

Unendlich (zur Lyrik Rose Ausländers)

Jetzt, einige Tage später, erhalte ich einige Pakete, Lyrik von Rose Ausländer der Inhalt. Auf den ersten Blick erscheinen ihre Gedichte sanft. Sie sind es nicht. Zahlreiche Gedichte gruppieren sich um das Thema der Vertreibung und der Auswanderung. Ausländer, die vor dem Nazi-Regime floh, eignet sich dieses Thema als ein existenzielles an. Der Mensch, so scheint sie manchmal zu sagen, ist nichts, wenn er nicht hinausgeht, wenn er nicht aus sich selbst auswandert.
Trotz liegt in ihren Gedichten, aber auch Trost. Es gibt wiederkehrende Motive: das Ineinander von Himmel und Erde, Tag und Nacht; die Ausreise und die Isolation; die Worte, die man birgt und die man sich geborgt hat.
Keines ihrer Gedichte ist vollständig, keines in sich geschlossen. Manche ihrer Gedichte sind Befehle, Aufforderungen, mutig zu sein, sich dem Unbekannten zu stellen.
Unendlich
Vergiss
Deine Grenzen

Wandere aus

Das Niemandsland
Unendlich
nimmt dich auf
(aus: Ausländer, Rose: Hinter allen Worten. Frankfurt am Main 1992, S. 125)

30.11.2014

Die drei ??? und der tanzende Teufel

Heute habe ich an eher langweiligen Sachen herum gearbeitet, zum Beispiel an der Benotung von Texten. Dazu gibt es ja äußerst verschiedene Meinungen, hier eine eigene Position zu beziehen. Das ist wohl der Vorteil und zugleich der Nachteil von der pädagogischen Literatur. Sie ist so unglaublich praktisch. Sie besteht teilweise nur aus Handlungsvorschlägen. Aber gerade dann wird es schwierig, diese Handlungsvorschläge zu diskutieren. Sie werden eben nur vorgeschlagen und nicht begründet.

Metonymie, Rätsel und die Kriegsstrategien

Mein Schreibgeschäft ist geschlossen, seit dem Frühjahr, seit ich wieder angefangen habe, in der Schule zu arbeiten. Ich kann also getrost einige meiner Geschäftsgeheimnisse ausplaudern. Wenn sie nicht sowieso schon die Runde gemacht haben. Ich habe meinen Kunden ja kein Schweigegelübde auferlegt.
In den Jahren 2006-2008 habe ich mich intensiv mit dem Kriminalroman auseinandergesetzt. Eine meiner Arbeiten, die daraus entstanden ist, war die linguistische, bzw. rhetorische Darstellung von Listen und Finten. Ein maßgeblicher Bezugspunkt waren die Strategeme von Sunzi.

Das Zeichen

Die Metonymie beruht auf dem Zeichen, bzw. der gängigen Ansicht von Zeichen. Ein Zeichen besteht aus drei Elementen, dem Signifikant, dem Signifikat und der Relation zwischen diesen beiden. Der Signifikant ist das, was materiell wahrnehmbar ist, also zum Beispiel das geschriebene oder gesprochene Wort. Üblicherweise definiert man dann das Signifikat als die Vorstellung, die sich ein Sprachbenutzer zu einem bestimmten Wort macht, zum Beispiel bei dem Wort Hund und der Vorstellung, die der Sprecher von einem Hund hat.
Typischerweise aber muss auch die Vorstellung eines Hundes zunächst erworben werden. Wenn ich von einer Drachenfrucht spreche und noch niemand eine Drachenfrucht gesehen hat, dann kann sich auch niemand eine Vorstellung davon machen. Oder jeder macht sich eine beliebige und damit willkürlich verschiedene. Bei Hunden stellt sich auch jeder Mensch etwas anderes vor, aber doch innerhalb eines gewissen Rahmens.
Wesentlich dabei ist allerdings, dass das Zeichen nicht notwendigerweise eine Vorstellung als Signifikat besitzt. Genauso gut kann ein Signifikant auch auf ein materielles Signifikat verweisen.

Spur und Index

Diese Möglichkeit, dass sowohl der Signifikant als auch das Signifikat materiell sind, wird mit dem Zeichentyp Indice bezeichnet. Diese wiederum gliedert sich auf in die Typen Spur, Index und Symptom. Die Spur ist ein materieller Signifikant, der auf eine in der Vergangenheit liegende „Nachbarschaft“ verweist und damit auf ein Geschehen, das aktuell nicht mehr vorliegt. Jemand ist zum Beispiel durch das Fenster in ein Haus eingebrochen, doch diesen Einbruch selbst, die Handlung als solche, sieht man nicht mehr. Zu sehen ist das zerschlagene Fenster. Das Signifikat ist materiell, aber verschwunden.
Ein Index wiederum verweist auf eine Nachbarschaft, deren Signifikat verborgen ist. So steigt über dem Wald ein dichter Rauch auf, der die Forstleute alarmiert, da ein Waldbrand zu vermuten ist. Das Feuer selbst sehen die Forstleute nicht. Doch durch den Rauch können sie darauf schließen. Diese Nachbarschaft ist aktuell, aber der Wahrnehmung entzogen.

Metonymie

Eine Metonymie beruht auf solchen materiellen Nachbarschaften. Allerdings wird hier der Signifikant „manipuliert“. Schreibt ein Dichter zum Beispiel den Satz „Der Wind pfeift um die Dächer.“, so kann der Leser daraus schließen, dass der Wind nicht nur um die Dächer pfeift, sondern auch um das ganze Haus. Auf der Ebene des Signifikanten wird also das Haus durch das Dach ersetzt. Als Signifikat gemeint ist allerdings das ganze Haus.
Nun gibt es verschiedene Verhältnisse zwischen dem eigentlichen Signifikanten und dem dargestellten. Das Verhältnis zwischen Dach und Haus ist der eines Teils zum Ganzen. Wenn ich mir noch ein Glas genehmige, dann natürlich nicht das Glas selbst, sondern den Inhalt davon. Hier ist das Verhältnis das von Inhalt und Hülle. Und wenn ich Goethe lese, dann natürlich nicht den Menschen, sondern (einen Teil) seines Werkes; das Verhältnis ist Verursacher/Werk.

Rätsel

Rätsel, zum Beispiel im Kriminalroman, basieren nun darauf, dass eine Metonymie entweder nicht vollständig vorliegt oder auf eine falsche Art und Weise. Bei einer unvollständigen Metonymie sieht man den Signifikant, kann aber das Signifikat nicht einsetzen. Typisch dafür sind die Spuren an einem Tatort. Man weiß, dass ein Mord begangen worden ist: die Leiche liegt sichtbar da. Aber ein Teil der Spuren lässt sich nicht sofort einer Handlung zuordnen. Der Verursacher bleibt im Dunkeln oder es gibt zum Beispiel keine Erklärung, was eine bestimmte Spur verursacht haben könnte. Mit einer solchen unvollständigen Metonymie entsteht ein Rätsel, das dann im Laufe des Kriminalromans gelöst werden muss.
Eine falsch verwendete Metonymie nutzt den metonymischen Charakter unserer Welt aus. Das häufigste Beispiel dafür, und ich werde gleich darauf ausführlicher zurückkommen, ist die „falsche Verwendung“ von Inhalt und Hülle. Man sieht die Hülle und schließt auf den Inhalt, doch der Inhalt ist ausgetauscht worden, ergänzt, vermindert, oder was auch immer. Jedenfalls ist der gewünschte Inhalt nicht mehr vorhanden oder war es noch nie. Und genau darauf, dass eine solche Metonymie im Hintergrund den Austausch des Signifikats ermöglicht, beruhen sämtliche Kriminalromane, aber auch die Kriegsstrategien des Sunzi.

Strategeme

All dies kann nun in Bezug auf die Strategeme angewendet werden. Strategeme sind meist Bündel von Metonymien, die verrätselt worden sind. Machen wir uns das an zwei der 36 Strategeme klar.
Das am häufigsten genannte Strategem heißt „den Kaiser täuschen und das Meer überqueren“. Es beruht darauf, dass der Kaiser unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen auf ein Schiff gelockt wird, das ihn dann über das Meer entführt. Das Schiff, auf dem, laut der zitierten Anekdote, ein Siegesfest stattfinden sollte, wurde heimlich von den Feinden platziert. Indem der Kaiser nun an dieser Siegesfeier teilnimmt, liefert er sich der Falle aus. Es ist klar, wie diese Verrätselung bewerkstelligt wird. Der Kaiser glaubt, dass die Einladung tatsächlich auf eine Siegesfeier hinweist. Im Hintergrund aber ist diese Siegesfeier längst ersetzt worden. Man lockt also jemanden unter der Vortäuschung falscher Tatsachen in eine für ihn missliche Situation.
Auch das Strategem „mit dem Messer eines anderen töten“ ist rasch erklärt. Typischerweise gehört dieses Messer (oder was auch immer der Schriftsteller dann verwendet) einer bestimmten Person. Doch gerade diese Personen benutzt das Messer nicht, um ein Verbrechen zu begehen. Jemand anderes hat sich heimlich dessen bemächtigt und führt nun eine verräterische oder unerlaubte Aktion aus. Das Messer ist der Signifikant und der Besitzer das Signifikat. Doch natürlich ist das Signifikat austauschbar.
Auf diese Weise lassen sich sämtliche Kriegsstrategeme erklären. Und sie lassen sich alle darüber vereinfachen, dass man sie auf unvollständige oder falsche Metonymien, also auf Rätsel, zurückführt.

Die drei ??? und der tanzende Teufel

Interessant wird die ganze Sache mit den Metonymien dann, wenn man diese dazu benutzt, einen Plot zu konstruieren, also zum Beispiel einen Kriminalroman. Dass meine Wahl hier auf einen Kinderkrimi fällt, ist dem Umstand geschuldet, dass diese auf der Ebene der Darstellung recht schnörkellos vorgehen. Damit ist es einfach, eine Reihe von Einsatzmöglichkeiten aufzuzeigen. Was die Komplexität dieser Krimis angeht, so sind sie den Erwachsenenkrimis nicht unterlegen. Im Gegenteil kann man gerade die alten Folgen der Serie der drei ??? als besonders raffiniert bezeichnen. Große Kriminalromane wie Mord im Orientexpress von Agatha Christie, Die Stimme der Violine von Andrea Camilleri oder Brixton Hill von Zoe Beck sind von gleicher Komplexität, zumindest, was den Plot betrifft. Sie sind natürlich psychologisch komplexer. Doch das ist eine Sache, die uns hier nicht interessieren muss.

Der Inhalt

Das Buch vom tanzenden Teufel erzählt einen Diebstahl, der zu einigen Verwicklungen führt. Der tanzende Teufel selbst ist eine Figur aus dem zwölften Jahrhundert, die einen mongolischen Schamanen darstellt. Sie ist aus Bronze und klein genug, um in einen kleinen Koffer zu passen. Passend zu diesem Figürchen gibt es ein lebensgroßes Kostüm derselben Machart.
Die Figur gehört einem amerikanischen Kunstsammler. Da sie aber eigentlich eine Kriegsbeute darstellt, soll sie der chinesischen Regierung übergeben werden. Diese Übergabe wird von dem Kunstsammler umstandslos akzeptiert. Nicht einverstanden damit ist allerdings der Sohn des Kunstsammler. Er beschließt, die echte Figur durch eine falsche auszutauschen und beauftragt einen Kunstfälscher mit der Anfertigung eines Duplikats.
Auf dem Weg zum Übergabeort verunglückt der Fälscher mit seinem Auto und verliert den schwarzen Koffer mit der Kopie. Da er vermutet, dass jemand aus der Nähe des Unfallortes sich des Koffers bemächtigt hat, beginnt er sämtliche Koffer ähnlichen Aussehens zu stehlen. In diesem Moment beginnt der Roman. Die drei jungen Detektive werden damit beauftragt, den Diebstahl einer Puppe aufzuklären, die sich in einem schwarzen Koffer befunden hat. Beauftragt werden sie von der sechsjährigen Besitzerin der Puppe.

Die Vorgeschichte

Gerade Krimis brauchen eine solche Vorgeschichte. Denn jeder Krimi beginnt in dem Moment, in dem die Vorgeschichte als Spur ein Verbrechen hinterlässt, einen Diebstahl, einen Mord, oder was auch immer. So ist die erste Metonymie notwendig an das Genre gebunden.
In diesem Fall ist die Spur etwas komplizierter. Der Dieb stiehlt etwas, was er gar nicht stehlen will, nämlich Koffer mit dem falschen Inhalt. Er sucht allerdings einen Koffer mit dem richtigen Inhalt, nämlich der von ihm angefertigten Kopie. Wir werden sehen, dass der Weg von dem Diebstahl des Koffers bis zu der Rekonstruktion des eigentlichen Tathergang ein recht weiter ist, der auf diese Art und Weise selten bei Krimis zu finden ist.
Für uns ist zunächst interessant, dass das Verbrechen auf ein Rätsel hinweist. Es gibt einen Signifikanten, aber noch kein Signifikat.

Koffer und Kopie

Aus meiner kurzen Nacherzählung der Geschichte lassen sich zwei wichtige Metonymien herausfiltern, die den ganzen Krimi strukturieren. Die erste Metonymie ist die von Original und Fälschung. Hier wird die äußere Gestalt als Signifikant genommen, während das Alter als Signifikat dient. Diese Metonymie ist deshalb besonders "trickreich", weil sich der Autor darauf berufen kann, dass der Unterschied nur durch einen Spezialisten erkannt wird. Es reicht also nicht aus, wenn ein unbedarfter Mensch diese Figur sieht, um die Täuschung aufzulösen. Insofern ist der Autor legitimiert, relativ offen mit der Verwechslung zu spielen.
Die zweite Metonymie ist üblicher für Krimis: der schwarze Koffer ist der Signifikant für einen unbekannten Inhalt, das Signifikat.
Für den Plot selbst ist weiterhin wichtig, dass der Koffer die Kopie der Figur enthält, also nicht, wie die drei ??? zuerst annehmen, das Original.

Der erste Diebstahl

Bevor allerdings all diese komplexen Verwicklungen enthüllt werden, muss die Geschichte mit einem ersten Rätsel beginnen. Ein sechsjähriges Mädchen beauftragt die drei Detektive mit der Suche nach ihrer Puppe. Diese habe sich in einem schwarzen Koffer befunden, den ihr Vater ihr als Bett für die Puppe gebaut habe. (Man merkt an diesem Beispiel schon, dass der Krimi gelegentlich nicht sonderlich auf die Logik achtet. Denn der Dieb sucht ja nicht den Koffer, sondern den Inhalt. Nun war aber der Koffer wohl geöffnet, als er gestohlen wurde, die Puppe also sichtbar. Sie hätte damit für den Dieb nutzlos sein müssen.)
Von der Mutter des Mädchens erfahren die drei Jungen, dass die Polizei in den letzten zwei Tagen mehrere solcher Diebstähle angezeigt bekommen habe. Es seien aber ganz unterschiedliche Dinge gestohlen worden, eine Puppe, eine Bohrmaschine, ein Mikroskop, usw. Nichts weist auf eine Gemeinsamkeit hin.

Die signifikante Serie

Es ist aber klar, dass es auch keine Gemeinsamkeit geben kann. Der Dieb sucht zwar das Signifikat, hält sich aber an den Signifikanten, also den Koffer. Erst hinterher stellt er fest, dass auch dieser Koffer der falsche ist und stiehlt deshalb weiter.
Es gibt immer wieder solche Serien in Krimis. In dem Film Jack Reacher bringt ein Scharfschütze mehrere Personen direkt hintereinander um. Die Polizei steht vor einem Rätsel, denn die Personen haben nichts miteinander gemein. Erst hinterher stellt sich heraus, dass der Scharfschütze nur eine Person umbringen wollte. Um sein Motiv zu verbergen, hat er gleichzeitig einige andere Personen erschossen. Sein gemeintes Ziel wird dadurch in der Serie aus Todesfällen verborgen.
Joan Rowling nutzt diese Technik ebenfalls. In Der Gefangene von Askaban gleicht die Tiergestalt des Zauberers Sirius Black dem Todesomen des schwarzen Hundes. Sirius Black wird durch eine Verwechslung als böser Zauberer dargestellt. Zusammen mit der Ähnlichkeit mit dem Todesomen und einigen anderen Verwechslungen gelingt es Rowling bis fast zum Schluss die Täuschung vor dem Leser aufrecht zu erhalten. Sie versteckt das Gute zwischen bösen und schlechten Zeichen. Sie kann sie aufgrund der Ähnlichkeit der Signifikanten verstecken.

Die undeutliche Gestalt

Gleich am Ende des ersten Kapitels wird ein weiterer Koffer gestohlen. Dies passiert vor den Augen der drei ???.
Dieses kurze Ereignis ist auf doppelte Weise bedeutsam. Der gestohlene Koffer gehört dem Vater von Peter, einem der drei Junior-Detektive. Dadurch wird der Fall zu einer persönlichen Angelegenheit. Persönliche Betroffenheit ist immer ein wichtiger Aspekt, um eine Geschichte spannend und plausibel zu machen.
Zum anderen wird der Dieb eingeführt. Allerdings wird er in einer Weise beschrieben, die eindeutig etwas Fantastisches konnotiert:
Die drei ??? sausten um das Haus herum und sahen gerade noch eine seltsame Gestalt mit großen schwarzen Flügeln über den Zaun hinten fliegen und verschwinden!
S. 11
Die großen schwarzen Flügel sind wohl Frackschösse. Doch so richtig aufgelöst wird diese Beschreibung nicht. Jedenfalls haben wir jetzt ein äußerst reduziertes Bild von dem Dieb. Nur: dieses Bild ist so unklar, dass die betreffende Person jedermann sein könnte. Hier wird ein Austausch des Inhalts (also der Person) durch die vage Beschreibung möglich.

Der tanzende Teufel

Schließlich taucht in der Geschichte noch ein tanzender Teufel in Lebensgröße auf. Dieser tanzende Teufel ist ein maskierter Mensch, der Sohn des Statuen-Besitzers, der durch sein Auftauchen die ganze Geschichte noch rätselhafter machen möchte. Die Maske ist eine besondere Form der Metonymie: natürlich verbirgt sie ihren Inhalt. Zugleich verweist sie aber auch auf einen ganz anderen Inhalt, nämlich auf ihre Herkunft als mongolische Schamanenmaske. Sie verbirgt, sie täuscht aber zugleich durch eine Ähnlichkeit eine Verbindung vor.
Wir finden denselben Trick in der Natur als Mimikry vor. Indem sich die Orchidee als Hummel "verkleidet", bringt sie diese dazu, ihren Pollen weiterzutragen.
Die Metonymie ist insofern komplizierter, als der Signifikant nicht nur ein einfaches Merkmal oder ein einfacher Gegenstand ist, sondern etwas, was die Linguisten einen Text nennen, eine durchstrukturierte Ansammlung von Zeichen. Das Kostüm eines Schamanen besteht aus einer Mischung sehr verschiedener Zeichen, die zusammen etwas bedeuten sollen. So wird diesem Kostüm ein Wolfskopf und Yakhörner angedichtet (ungeachtet dessen, was mongolische Schamanen tatsächlich trugen: die Kleidung ist vermutlich der Fantasie des Schriftstellers entsprungen). Es gleicht der gestohlenen Figur. Einmal wird dies auch ganz deutlich benannt (S. 52).

Der Text als Täuschung

Wohlgemerkt: der Text oder die Textur, in diesem Fall das Schamanenkostüm, ist noch nicht die Metonymie. Aber sie ist ein komplexer Signifikant, der metonymisch benutzt werden kann. Ein anderes Beispiel für solche komplexen Signifikanten als Metonymien sind die Geschichten von Spionen, Doppelspionen und Schläfern. Diese bauen ein Leben oder auch nur eine Fassade auf, die den eigentlichen Inhalt verbirgt. Jedermann hält den Bäcker von nebenan für einen unbescholtenen Bürger, der jeden Tag seinem "Broterwerb" nachgeht, und ist umso überraschter, als diese Fassade einen Riss bekommt. Warum, so könnte sich der Protagonist fragen, sollte sich der Bäcker, der doch von Berufs wegen selbst backt, seine Brötchen heimlich liefern lassen? Ist er vielleicht gar kein Bäcker? Aber was ist er dann?

Fallen

Damit können wir zu den Kriegsstrategemen zurückkehren. Manche dieser Strategeme kombinieren mehrere Metonymien miteinander. Andere wiederum benutzen einen Text als Signifikanten. Betrachten wir das erste Beispiel, "den Kaiser täuschen und das Meer überqueren": es gibt nur eine Metonymie, aber einen ganzen Text, die Ankündigung einer Siegesfeier auf einem luxuriösen Schiff. Man darf sich nun ausschmücken, wie diese bevorstehende Feier ausgesehen haben mag. Aber sie wird sicherlich aus mehr als ein paar Zeichen bestanden haben.
Auch in Die drei ??? und der tanzende Teufel finden wir diese Strategie.
Justus hat das Rätsel des schwarzen Koffers gelöst. Er weiß nun, dass der Dieb die schwarzen Koffer stiehlt, aber nur einen ganz bestimmten Inhalt sucht. Also nutzt er seinerseits die Möglichkeit der Metonymie, um dem Unbekannten eine Falle zu stellen. Das Signifikat besteht darin, den Dieb in der Garage einzusperren. Der (komplexe) Signifikant wird durch den Fund eines schwarzen Koffers durch die drei Detektive, ihrer offensichtlichen Freude über den Inhalt, dem Wegschließen in der Garage und dem Weggehen gebildet. Damit verleiten sie den Dieb zu einem Diebstahl. Genau wie beim chinesischen Kriegsstrategem wird der Getäuschte mit einem Versprechen in eine unangenehme Situation gelockt.

Vier, drei, fünf

Wir hatten bereits angemerkt, dass sich der Sohn des Besitzers zum Schluss als Drahtzieher entpuppen wird. Er ist es auch, der sich das Schamanenkostüm anlegt und als tanzender Teufel auftritt. Später wird noch eine andere Figur aus dem Hintergrund auftauchen. In schlechten Kriminalromanen wäre dies eine Hauptfigur. Hier ist es allerdings ein Handlanger und damit ist das späte Auftauchen gerechtfertigt. Es ist kein Deus ex Machina.
Der Sohn verdoppelt sich also durch die Verkleidung und kann so zwei Gruppen voneinander trennen. Als Sohn und junger Mann nimmt er an den Recherchen der drei Detektive teil, als Dieb nutzt er sein Wissen aus, um zum Ziel zu gelangen. Die andere Gruppe, die ihm bei dem Diebstahl hilft, besteht aus dem Butler Quail und dem dubiosen Kunsthändler Wilkes. Zwischendurch taucht noch ein Hehler namens Hummer auf. Der Butler hilft dem Sohn allerdings nicht direkt. Er verhält sich nur loyal. Dabei versucht er das Schlimmste zu verhindern. Und der Hehler weiß nichts von seinem Glück. Er kommt durch Zufall an die Figur und verliert sie, ohne zu wissen, welchen Schatz er in den Händen gehalten hat. Der Butler wiederum weiß von dem Kunsthändler nichts. Dadurch entsteht eine weitere Verdoppelung des Sohnes.
Zusammen mit dem Künstler, der die Fälschung anfertigt, dem Butler Quail, dem Kunsthändler und dem Hehler bilden sich verschiedene Gruppierungen von je drei, vier oder fünf Personen. Diese Konstellationen sind mehr zufällig. Sie scheinen mir jedenfalls nicht geplant. Sie tauchen je nach dem Stand des Rätsels auf und verschwinden wieder. Durch die zwei Identitäten, die sich der Sohn zugelegt hat, einmal als tanzender Teufel und einmal als Drahtzieher eines Diebstahls, kann der Autor die Geschichte so verwickelt aufbauen, wie sie der Leser dann vorgesetzt bekommt.

Die Unterbrechung

Kehren wir zurück zu der Szene, in der der Fälscher in die Falle gehen soll. Die Jungen warten in ihrem Versteck. Der Mann taucht auf und, wie erwartet, macht sich an der Garage zu schaffen. In diesem Moment wird allerdings die Täuschung unterbrochen. Zum ersten Mal taucht der tanzende Teufel auf und erschreckt die drei Detektive, so dass der Fälscher mit dem Koffer entkommen kann.
Es ist übrigens unklar, woher der Sohn des Kunstsammlers weiß, dass die drei Detektive seinem Komplizen eine Falle stellen. Jedenfalls vereitelt er diese.
Im Laufe des Romans tauchen weitere solcher Unterbrechungen auf. Die Geschichte nimmt eine überraschende Wendung. Ganz offensichtlich wird hier der Zufall in die Geschichte eingebaut. Bzw. ist Zufall das falsche Wort, denn der Autor hat natürlich die Geschichte so geplant. Sie verweist aber auf ein grundlegenderes Phänomen des Krimis. Jeder Krimi, zumindest jeder gut konstruierte, baut die Kerngeschichte auf einer logischen Abfolge auf (dies hatte ich in einem anderen Artikel schon einmal ausführlicher geschildert). An den Rändern dieser logischen Abfolge jedoch tauchen immer mehr Ungereimtheiten auf und eigentlich kann man jeden Krimi daraufhin abklopfen, was in ihm nicht stimmt.
Nun könnte man sagen: o. k., es gibt eben Krimischriftsteller, die können keinen logischen Plot durchkonstruieren. Wenn es so einfach wäre! Das 20. Jahrhundert hat in großen philosophischen Schriften gezeigt, dass die Rationalität von irrationalen Elementen durchzogen und zusammengehalten wird. Wollte man dies in einem kernigen Schlagwort zusammenfassen, dann könnte man sagen: Die Rationalität des Menschen ist eine Täuschung.
Genau diese begrenzte Rationalität finden sich im Mikrokosmos des Krimis. Die Kinderkrimis um die drei ??? sind von fantastischen Elementen durchzogen, die sich nur mühsam rational auflösen lassen; teilweise sind sie an den Haaren herbeigezogen (man denke etwa an den lachenden Schatten oder an die Geschichte von der singenden Schlange). Auch der rationale Kern des Krimis ist zwar durchgehend vorhanden, wird aber rasch durch unlogische und widersprüchliche Figuren begrenzt. Den erwachsenen Leser wird das nicht mehr befriedigen. Trotzdem möchte ich noch einmal darauf beharren, dass sich gerade deshalb diese Serie so vortrefflich für die Analyse anbietet.

Der Weg der Figur

Es gäbe eine ganze Menge weiterer Sachen zu der Geschichte zu sagen. Ich möchte hier aber den Artikel auf eine letzte Bemerkung abkürzen.
Die Figur, so wissen wir, ist bei dem Autounfall des Fälschers verloren gegangen. Der Koffer wurde von einem Jungen mitgenommen, dessen Spur die drei Detektive verfolgen. Schließlich stöbern sie ihn in seinem Versteck auf. Dort befindet sich zwar der Koffer, aber nicht mehr die Figur. Von dem Jungen erfahren sie allerdings, dass das Versteck gelegentlich von einem Obdachlosen für die Übernachtung benutzt wird. Und sie vermuten, dass dieser Mann die Figur hat mitgehen lassen. Hier beginnt eine Nebenhandlung, die den Weg der Figur verfolgt. Nachdem die drei ??? einen Informanten auftreiben konnten, der den Aufenthaltsort des Obdachlosen kennt, teilt dieser ihnen mit, dass er die Figur an den Hehler Hummer weiterverkauft hat. Diesen Hehler suchen sie nun auf, geraten in eine Falle und verlieren die Figur wieder. Natürlich hat der Sohn, unter Mithilfe des dubiosen Kunsthändlers, mittlerweile die Figur wieder in seinen Besitz gebracht. Dabei handelt es sich, wohl gemerkt, immer noch um die Kopie, nicht um das Original.
Auch diese Umwege sind typisch. Sie basieren nur noch zum Teil auf der Metonymie. Stattdessen gerät das eigentliche Objekt „ins Gleiten“, d.h. es wechselt mehrfach seinen Besitzer. Üblicherweise ist die Jagd nach dem Objekt nicht notwendig für die Haupthandlung. Es streckt diese aber und behält, zumindest beim ersten Lesen, seine Spannung. Da eine solche Jagd sehr handlungsorientiert geschildert werden kann, fällt dem Leser kaum auf, dass hier der Roman hätte gekürzt werden können.
Gut konstruierte Romane nutzen allerdings solche Umwege dazu, um die zentrale Geschichte verwickelter zu gestalten. Irgendein Element aus der Nebenhandlung gibt der Haupthandlung eine überraschende Wendung. Joan Rowling führt dies z. B. sehr gekonnt an der Geschichte von Norbert, dem Drachenbaby in Harry Potter und der Stein der Weisen vor. Gleich mehrmals verändert sich die Haupthandlung durch dieses eigentlich unbedeutende Ereignis. Der Autor von Die drei ??? und der tanzende Teufel nutzt diese Möglichkeit dagegen nur in einem sehr geringen Maße. Anders kann man es von einem Jugendkrimi mit knapp 130 Seiten auch kaum erwarten.

Zusammenfassung

Halten wir noch einmal fest, worauf sich die Konstruktion eines Krimis stützen muss: für den Plot nutzt sie den Zeichentyp der Indices und hier insbesondere die Spur und den Index. Diese beiden Zeichentypen nutzt sie metonymisch und, insofern sie das Signifikat austauscht, als Rätsel.
Der Signifikant kann einfach oder komplex sein. Komplexe Signifikanten eignen sich für Fallen, an die Mimikry angelehnte Täuschungen und für bestimmte Kriegsstrategeme.
Die Kriegsstrategeme wiederum bestehen entweder aus einfachen oder kombinierten Metonymien.
Der zentrale Plot eines Krimis ist streng logisch aufgebaut. Seine „Ränder“ dagegen werden willkürlich gesetzt. Jugendkrimis handhaben diese Regelung weitaus großzügiger als viele Krimis für Erwachsene (ich rede hier wohl gemerkt von echten Krimis; neuerdings wird dieses Genre relativ wahllos auf Erzählungen draufgeklebt, die eher als Thriller oder sogar als Fantasy zu bezeichnen sind).

29.11.2014

Ein bisschen Tod, ein bisschen Universum

Jetzt konnte ich nicht einschlafen. Ein paar Mal habe ich mich herumgewälzt, dann wanderten meine Gedanken zu meinem gestrigen Tag zurück. Mittags bin ich nach Hause gekommen, habe mich an meinen Computer gesetzt und begonnen, zunächst Max Raphael weiter zu kommentieren. Dann bin ich zur Post gefahren und habe mir ein Buchpaket abgeholt (Edward deBono: Der kluge Kopf). Zwischendurch war der Postbote da und hat mir die Bücher von Matthias Pöhm in die Hand gedrückt. Später bin ich in meine Buchhandlung gegangen, um mir die Gefängnishefte von Antonio Gramsci zu besorgen. Diese hatte ich am Tag zuvor bestellt. Auch gekauft: Rico und Oskar (Andreas Steinhöfel).

Kitschgeschichte

Ich weiß nicht, was Pöhm sich gedacht hat, als er dieses Buch (Sie wollen keinen Erfolg, Sie wollen glücklich sein) verfasst hat. Vermutlich hat er gar nichts gedacht. Bei Gramsci finde ich das Wort Kitschgeschichte, mit dem gewisse italienische Schriftsteller die italienische Geschichte verklären. Und ähnlich ist es wohl mit Matthias Pöhm, wenn er von seinem spirituellen Wandel erzählt. Gramsci vergleicht diese Darstellung der nationalen Geschichte mit den grellen Bildchen christlicher Matronen. Und bei Pöhm ist das genauso, nur dass es nicht um eine nationale Geschichte, sondern eine individuelle geht.

Konkret und Abstrakt im Übersprung

Es lohnt sich, an dieser Stelle eine Passage von Gramsci ausführlicher zu zitieren, weil das, was dieser von der Geschichte Italiens schreibt, genauso auf Pöhm zutrifft. Frappierend ist vor allen Dingen, dass Pöhm den Übergang vom Konkreten zum Abstrakten so sprunghaft vollzieht, dass er kaum nachzuvollziehen ist. Gramsci schreibt also:
1. Man setzt voraus, dass das Gewünschte immer existiert hat und wegen des Dazwischentretens äußerer Mächte oder weil die inneren Tugenden »eingeschlafen« waren sich nicht offen durchzusetzen und zu zeigen vermag; 2. das führte zur populären Kitschgeschichte: Italien wird wirklich als etwas Abstraktes und Konkretes (zu Konkretes) zugleich gedacht, wie die schöne Matrone der populären Kitschbildchen, welche die Psychologie gewisser Volksschichten mehr beeinflussen, als man denkt, positiv wie negativ (aber immer auf rationale Weise), wie die Mutter, deren »Söhne« die Italiener sind. Mit einem Übergang, der brüsk und irrational erscheint, aber zweifellos wirksam ist, verwandelt sich die Biografie der »Mutter« in die kollektive Biografie der »guten Söhne«, die den missratenen, vom Weg abgekommenen Söhnen entgegengesetzt werden usw.
Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, 19. Heft, S. 2000

Endlosschleifen und Unglück

Was aber bietet Pöhm uns an?
Ein bisschen Tod, ein bisschen Universum, ein wenig Auflösung ins Nirwana (das er die dritte Realität nennt; nicht zu verwechseln mit der dritten Welt eines Karl Poppers), ein wenig Lästerei über Etikettierungen und wie weltlich diese seien. Der Tod jedenfalls arbeitet mit, wenn Pöhm seine Bücher schreibt:
Dann besorgte ich mir einen Walkman und besprach eine Kassette mit der immer selben Botschaft: »Dieses Buch verkauft sich so und so viel mal, dieses Buch verkauft sich so und so viel mal, dieses Buch verkauft sich so und so viel mal …« Der Walkman war an meinem Gürtel befestigt, und während des Schreibens hatte ich immer einen Knopf im Ohr. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat hörte ich diese Botschaft.
S. 17
Was die Etikettierung angeht, die zu vermeiden ist, weiß Pöhm folgendes:
Es ist nicht richtig, dass irgendjemand in Ihrer Umgebung glücklich wäre. Ihr Nachbar ist nicht glücklich, der erfolgreiche Unternehmer ist nicht glücklich, der anerkannte Künstler ist nicht glücklich, der gläubige Christ ist nicht glücklich, der berühmte Popstar ist nicht glücklich — alle, denen Sie in der Fußgängerzone begegnen, sind nicht glücklich.
S. 9

Der Päderast im Universum

Schließlich aber unterstützt uns auch das Universum. Es unterstützt uns, so Pöhm, in jedem Ziel. Folglich schreibt er:
Das Universum unterstützt den Kinderschänder, der ein neues Opfer zum Vergewaltigen sucht.
S. 41
Das also ist der besagte Glücksdurchbruch. Lass dich von deinem Universum unterstützen und du wirst das tiefe Glück empfinden. Folgerichtig schreibt er weiter unten, dass man die Gefühle des Universums nicht verletzen könne. Was ist dagegen schon ein vergewaltigtes Kind?

Fatalismus und Prädetermination

Es ist ein überflüssiges, es ist ein gefährliches Buch. Nein, gefährlich wäre übertrieben. Ein gefährliches Buch wiese über den hübschen Kitsch im Bücherschrank hinaus. Selbst das aber schafft Pöhm nicht. Wenn es nach ihm ginge, dann würde sich der Leser aus der Welt entfernen und alles so sein lassen, wie es ist, jedenfalls aus seiner Perspektive. Doch genau das ist Gesellschaft nicht. Die Auffassung Pöhms ist fatalistisch und im Hintergrund winkt bereits die Prädeterminationslehre, die sagt: Beschwere dich nicht! Gott hat dich genau an den Platz gestellt, an dem er dich haben wollte. Und wenn du elendiglich unter einer Brücke krepierst, während nebenan im teuren Restaurant das Menü so viel kostet, wie du im Jahr zusammen betteln kannst, dann ist das eben Schicksal.

Belanglos

Pöhm wohnt in Wolkenkuckucksheimen. Seine Rhetorik-Bücher, die sich unverständlicherweise so gut verkaufen, sind ein alberner Abklatsch wirklich guter Lehrwerke, wie etwa dem Ueding. Mit diesem Buch hat er die ohnehin zweifelhaften esoterischen Theorien intellektuell dermaßen unterboten, dass man sich an das sinnlose Brabbeln eines durch Isolationshaft in den Wahnsinn Getriebenen erinnert fühlt. Nicht einmal seine Rhetorik auseinanderzupflücken macht Spaß: auch hier stolpert der Text so konturenlos und schlampig daher, mit solch banalen Metaphern, mit solch belanglosen Anekdoten, dass es für jemanden, der dies schon 100 mal gemacht hat, wenig reizvoll ist.
Irgendjemand schreibt auf Amazon, man müsse für die Gedanken dieses Buches offen sein. Was mich angeht, bin ich sowas von verschlossen. Und fühle mich - ja, glücklich dabei.

28.11.2014

Glück, der Durchbruch ist geschafft

Sollte man Matthias Pöhm, den gefeierten Rhetorik-Trainer (vor allem von sich selbst gefeiert), als ein Kleidungsstück darstellen, nähme er notwendigerweise die Gestalt einer Kittelschürze an. Es wäre nicht irgendeine Kittelschürze, sondern eine solche mit Stiefmütterchen bedruckten, unpassend zu einem mopsblauen Hintergrund. Matthias Pöhm ist die Erma Bombeck der Trainer-Literatur. Wenn meine Welt voller Phrasen wäre, was machte ich mit den Trainern?

Hegemoniale Mopsigkeit

Möpse, dies hatten auf unterschiedliche Art und Weise Loriot und Russ Meyer erkannt, sind die quasi natürliche Bedingung des Erfolgs, Verzeihung!, des Glücksdurchbruchs. So jedenfalls könnte man Pöhms letztes Werk lesen, ein Doppelband, dessen sinnvollste Erkenntnis bisher war, dass der zweite zum ersten Band gehört und der erste Band zuerst gelesen werden sollte. Der erste Band bietet eine wertvolle Aussicht auf das sich ausdünnende Haar des erfolgreichsten Rhetorik-Trainers Europas. (Der zweite Band zeigt Blümchen.)
Möpse sucht man bildlich vergebens. Sie haben sich in und zwischen die Zeilen verkrochen. Die von Loriot wie die von Meyer. Was mich in gewisser Weise an den Begriff der hegemonialen Männlichkeit erinnert, wieso, weiß ich allerdings nicht. Es ist über das Glück, zwei Bücher geschenkt zu bekommen, in die Tiefen des nebligen Berliner Novemberwetters verschwunden.

Pöhms polnische Post

Nie hätte ich damit gerechnet. Nie hätte ich geglaubt, was ich jetzt greifbar vor mir liegen habe. Ich besitze zwei weitere Bücher von Matthias Pöhm. Wieso? Wieso, lieber Gott, tust du mir das an? Mein Leben war bisher halbwegs angenehm sinnentleert verlaufen. Ich wusste nichts mit mir anzufangen, habe meinen Körper eine Zeit lang auf die Couch eines Psychoanalytikers gelegt und mich heimlich über ihn lustig gemacht, bin genauso neurotisch aufgestanden und dann gleich in die nächste Kneipe, um mit irgendwelchen Jungs ein Bier zu trinken und Frauen doof zu finden. Es hätte ewig so weitergehen können.
Da erreichte mich vor einigen Tagen eine Mail. Man habe erfahren, dass ich auf meinem Blog Matthias Pöhm erwähnt habe. Erwähnt! Dies mache mich zum idealen Rezensenten. — So schnell geht das.

Ein erster glücklicher Gedanke durchzieht mich

Nach dieser ersten Mail habe ich lange mit mir gehadert, ob ich tatsächlich auf das Angebot eingehen sollte. Die Post kam aus Polen. Das Deutsch war schauderhaft. Ganz ganz unglückselige Gedanken durchzogen mich. Ich stellte mir vor, dass ich, wenn ich dieses Buch bestelle, gleich auch einige Eheverträge mit russischen und afrikanischen Frauen unterschreiben würde, oder zumindest ein langjähriges Abonnement des Sterns, inklusive der Videos von Joerges, aufgedrückt bekäme. All das ließ mich zurückschrecken. Andererseits: wann habe ich schon jemals einem Buch widerstehen können, diesem leisen Knistern der Seiten, diesen flackernden Buchstaben, wenn man es durchblättert, diesem Geruch nach Leim, in dessen Grundfarbe sich ein Hauch von Maschinenöl mischt?
Und was soll ich sagen? Bisher ist alles glücklich verlaufen. Seit drei Tagen liegt die Benachrichtigung von DHL auf meinem Schreibtisch. Heute habe ich, dank eines flexiblen Ferientages, endlich die Post abholen können.

Bombeck

War dies schon der glückliche Gedanke? Keineswegs! Der glückliche Gedanke entstand, als ich die ersten Zeilen las, zwischen einem zweiseitigen Inhaltsverzeichnis und der drängenden Frage: Warum sind wir auf dieser Welt? Ich hätte mich nun gerne hingesetzt und Herrn Pöhm eine ausführliche Antwort geschrieben, doch er weilt derzeit auf einem Seminar, auf dem er Managern beizubringen versucht, das Glück durchzubrechen. Wir müssen uns also mit Hausfrauen begnügen. Und die gibt es bei Pöhm haufenweise, zum Beispiel hier:
Einer jungen Mutter kommt beim Wäsche Aufhängen in der Waschküche plötzlich der Gedanke:
„Ich habe doch alle Erwartungen erfüllt, die man an mich hatte. Wo ist das versprochene Glück?“
Aber wer hat dir denn das Glück versprochen? wollte ich da rufen. Ich unterließ es. Das Papier und der Kopf von Herrn Pöhm trennten uns. Ich werde niemals zu dieser jungen Mutter kommen und sie beglücken.

Anonyme ältere Herren

Mir ist noch nie das Glück versprochen worden. Darin unterscheide ich mich wohl von jungen Müttern. Zumindest aber löst dies ein Rätsel, das mir die Welt lange Zeit aufgegeben hat: man sieht in Berlin des Öfteren adrett gekleidete ältere Herren herumlaufen, deren Namen man nicht erfährt. Es sind wohl jene Herren, die im Auftrag des Glücksversprechens unterwegs sind, und die, ich verstehe das sehr gut, ihre Versprechen am liebsten bei jungen Müttern loswerden. Ob sie etwas mit Ursula von der Leyen zu tun haben, konnte ich allerdings bisher nicht in Erfahrung bringen. Es ist zu vermuten. Schließlich muss unsere Weramtsbevollmächtigte ihre Attraktivitätsinitiative unter feministisch unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen ausstreuen.

Neue und alte Volkskrankheiten

ADHS, lange Zeit der unwillige Helfer zappelnder Kinder in der Pädagogik, ist mittlerweile dermaßen im bürokratischen Filz korsettiert worden, dass man eine relativ präzise Diagnose der Bewegungsunfähigkeit stellen kann. Dass es immer noch ADHS gibt, ist wahrscheinlich dieser institutionellen Ironie zu verdanken, die einen zumindest leicht schmunzeln lässt. Die neue Kinderkrankheit Nummer eins dagegen ist das Asperger-Syndrom, eine Spielart des Autismus. Sobald ein Jugendlicher mehr als 10 Minuten auf seinem Handy herumtippt, kann ein Psychiater oder Neurologe treffsicher diese Diagnose stellen.
Früher war dies alles ganz anders und sowieso viel besser.
Doch darum soll es hier gar nicht gehen. Die neue Volkskrankheit Nummer eins ist die Depression. Gelegentlich wird sie vom Herzinfarkt und der Fettleibigkeit überholt. Gegen die Fettleibigkeit nun tritt Matthias Pöhm an. Und zeigt hervorragend, wie dies geht: Statt Depression (mein Leben macht keinen Sinn!) die Logorrhoe.

Der Durchbruch

Ja, ihr habt richtig gelesen. Bei einem Durchbruch kann so einiges fließen, je nachdem, ob der Damm oder der Darm gemeint ist. Und beim Glücksdurchbruch sind es wohl die Worte, die ungehemmt in das Tal der Ahnungslosen fließen. Es ist ja auch alles egal, solange das Leben Sinn macht. Und wenn das Leben erst Sinn macht, dann müssen es die Worte nicht mehr tun. Sagt und handelt danach: der Matthias Pöhm, Europas teuerster Rhetorik-Trainer.
Jedenfalls bin ich jetzt, nachdem ich das erste Buch durchgelesen habe, so von der Notwendigkeit befreit, dieses Buch weiterzulesen, dass der Rest meines Lebens geradezu überquillt an Sinnhaftigkeit. Ganz in der Tradition der neueren Postmoderne theatralisiert Pöhm die Wege der Erkenntnis.

Das materialisierte Leid

Pöhm redet also von dem Leiden des modernen Menschen. Er hat die Rede darüber geradezu entdeckt, ihr Bahn gebrochen und zum Durchbruch verholfen. Der moderne Mensch ist unglücklich. Er leidet. Pöhm schreibt:
Das Leid, das ich meine, ist diese ständige subtile Unzufriedenheit mit dem, was ist, dieser ständige rastlose Begleiter unter der Oberfläche, das nie zur Ruhe kommende, unter der Oberfläche köchelnde Unbehagen.
Ja, möchte ich an dieser Stelle rufen: Herr Pöhm, Sie haben so recht. Seit ich Ihr Buch in den Händen halte, spüre ich es deutlich, dieses Unbehagen, das wohl nichts anderes ist als das Unbehagen in der Kultur, wortgewandt in Worte gefasst, wie Freud selbst es nicht vermocht hatte.

23.11.2014

Kleine Faszinationen und gewollte Dialektik

Ich komme nicht zum Schreiben, oder vielmehr: Alles, was ich schreibe, ist mit einem so persönlichen Ton versehen, dass ich es so nicht veröffentlichen mag. Das ist die eine Seite meines Schaffens, die eine Veröffentlichung nicht erlaubt. Und der persönliche Ton betrifft weniger die Rücksicht auf mich selbst als die Rücksicht auf meine Schüler, die gerade sehr viel Platz in meinem Denken einnehmen. Einen sehr schönen, sehr produktiven Platz übrigens.
Die andere Seite, die mir die Veröffentlichung versagt, ist meine sehr sprunghafte Arbeitsweise. Innerlich, von mir aus gesehen, erscheint sie mir sehr kohärent; und trotzdem dürfte sie nach außen hin verwirrend sein. Mir stürzt gerade alles durcheinander. Einige Kommentare, die ich vor fast zwei Jahren zu Max Raphael gemacht habe und die den ästhetischen Dialog mit dem Material (in diesem Fall der Bildkomposition einiger Impressionisten, zum Beispiel Cezanne) betreffen, dazu meine Notizen zu Hannah Arendt und darüber wiederum zu Christa Wolf, was, immer über die Umwege zu Erlebnissen in meiner Klasse, zu einem fruchtbaren Austausch über die Notwendigkeit einer Ästhetik und der politischen Freiheit geführt hat.
Und ihr merkt schon, dass alleine diese kryptischen Anmerkungen ein wenig von dem Tohuwabohu widerspiegeln, mit dem meine Kommentare durcheinander gehen.

Ästhetische Hohlformen

Vielleicht aber doch einige konkretere Anmerkungen, auf welchen Leitlinien mein Denken sich gerade bewegt; es ist auch nichts wirklich Neues, vielmehr ein Aufleben einer Beschäftigung, der ich vor allem zum Beginn meiner Beschäftigung mit Michel Foucault nachgegangen bin, der Frage nach der Ästhetik der Existenz.
Der Gedanke ist also folgender: wenn man von Kant ausgeht, dann objektiviert sich die subjektive Form in der Wahrnehmung und erscheint so, als wäre sie Natur und nicht die Gestaltungskraft eines Menschen. Wir sitzen also der Spontanität unseres Schöpfertums auf und verfallen diesem, ohne es willentlich nutzen zu können. Jeder Mensch ist ein Künstler, sagt man so leicht hin, aber ein Künstler, der um sich nicht weiß und auch nicht um die Unwahrheit, die einem solchen Künstlertum innewohnt. Denn ein solcher Künstler sieht immer nur diejenige Seite des Objekts, die er sich selbst zurecht gebogen hat, nie aber das Objekt selbst. Und da er dem Objekt kein Eigenleben zugestehen kann, verliert er die Fähigkeit, dieses von sich selbst zu trennen. Genauso, wie er seiner Gestaltungskraft verfallen ist, ist er dem Material verfallen, das er gestaltet.
Darum kann sich ein Mensch nicht einfach so von seinem Schöpfertum trennen. Wenn er nicht auf diese Art und Weise gestaltet, wenn er sich von seiner momentanen Gestaltungsweise lossagt, erlangt er nicht ein objektives Stadium, sondern nur ein anderes subjektives. Und auch von diesen mag er sich lossagen, verlässt es aber wiederum nur für eine andere Gestaltungsweise, und so weiter.
In diesem Prozess ist das einzelne Stadium notwendig, aber nicht ausschlaggebend. Erst in seiner Gesamtheit, wenn jede Möglichkeit der Gestaltung eines Objekts durchmessen worden ist, wenn es an einem Objekt nichts mehr zu entdecken gibt, was die Geschichte nicht bereits erprobt hat, dann liegt dieses Objekt gleichsam in einer Art ästhetischer Hohlform vor, deren Wände durch die je einzelnen Gestaltungen geschaffen wurden.

Objektivieren und subjektivieren

Unschwer lässt sich hier eine Parallele zu den historischen Koordinaten finden, die Christa Wolf beschwört. Während aber die historischen Koordinaten die objektive Form des Subjekts betreffen, enthüllen die Gestaltungsweisen die jeweils subjektive Form des Objekts. Damit verknüpfen sich diese beiden Positionen innig.
Gerade weil der Mensch seine Objekte ›automatisch‹ erkennt, misshandelt er diese. In der Kunst, in der ästhetischen Freiheit der Gestaltung, erprobt er andere Möglichkeiten des Erkennens und damit andere Möglichkeiten, der Welt Bedeutung zu verleihen. Gerade durch dieses ›subjektive Spiel‹ objektiviert er [also der Mensch] die sachlichen Zusammenhänge. Der Künstler erprobt im Dialog (oder: der Dialektik) die Reichweite dieser subjektiven Formen und die Grenzen, an denen diese subjektiven Formen in einen Unsinn übergehen.
Auf diese Pendelbewegung setzt sich eine zweite dialektische Bewegung auf: diese resultiert aus dem unterschiedlichen Empfinden einer solchen Grenze zwischen Sinn und Unsinn der jeder Mensch hier wahrscheinlich eine andere Art des Erlebens hat, entsteht ein Widerspruch der Erkenntnismöglichkeiten, der dann durch Argumentation ausgehandelt und vermittelt wird. Der Subjektivismus wird also gerade dadurch überwunden, dass die Kunst die subjektive Produktion in den Vordergrund stellt, ihr ›egomanisches Wesen‹ betont, aber gerade in dem Moment betont, da es Bewegung ist und damit bereits ein Verlassen eines stabilen Zustandes. Dem Dogmatismus des spontan erkennenden Subjekts wird die Dialektik des experimentierenden Subjekts entgegengestellt: wobei das experimentierende Subjekt sich diese Dialektik selbst erschafft.

Dialektik und Experiment

Erst das Experiment erschafft solche Zustände des Oszillierens. Die Dialektik ist kein Schicksal, dem der Mensch unterworfen ist, sondern ein produktiver und gewollter Zustand.

Historischen Koordinaten und Machtschwellen

Die historischen Koordinaten, in die sich ein Subjekt eingebunden sieht, erarbeiten diese Vielstimmigkeit seines Zustandes und damit die Möglichkeiten dialektischer Prozesse. Gehen wir davon aus, dass diese historischen Koordinaten nie ohne Widersprüche und Spannungen existieren, dann ist die autobiografische Arbeit für die Teilnahme an der Gesellschaft eine notwendige (Mit-) Bedingung.
Ins Praktische gewendet: die Koordinaten, die zum Beispiel Christa Wolf in Kassandra analysiert, verorten das Subjekt nicht in einem leiblichen Raum, sondern in einem symbolischen, der vom leiblichen Raum Besitz ergreift und diesen in ein Gefüge aus Differenzen der Macht einspannt.
Nicht der Raum als solcher, sondern die Interpretation dieses Raumes, die Schwellen der Bedeutung, sind der Ort, wo die Koordinaten des Subjekts zu suchen sind. Deshalb lassen sich diese Schwellen auch nicht wegerklären: es gibt keinen machtfreien Raum. Es gibt nur soziale Räume, in denen eine automatisierte Macht in eine ausgehandelte Macht übergeht, in der das Politische seinen Naturzustand verlässt und zu einem Vertrag zwischen Menschen wird.

16.11.2014

Sonntagsarbeit

Rein äußerlich betrachtet war mein Sonntag unbewegt. Ich habe am Schreibtisch gesessen. Allerdings habe ich sehr viel getan. Unter anderem habe ich etwa 70 Texte korrigiert, bzw. durchgesehen. Es hat etwas länger gedauert, als ich eingeplant hatte. Zwischendurch musste ich immer wieder auf meine Fachliteratur zurückgreifen, um mich bei bestimmten Entscheidungen zu versichern.

In Berlin ist es kalt geworden. Und da ich in den letzten Wochen mit Sicherheit wieder ein paar Kilo abgenommen habe, bin ich ziemlich durchgefröstelt.

Nico verdanke ich (mal wieder) wunderbare Literatur. Rose Ausländer. Er hat einige Gedichte in seiner Klasse besprochen. Und mir Lust gemacht, etwas ähnliches mit meiner Klasse zu machen.
(Ich selbst habe in den letzten Wochen immer mal wieder, aber äußerst lustlos, in die Gedichte von Stefan George hineingeschaut. Das ist ein Autor, der mir wenig zu sagen weiß.)

Unter der Woche bin ich fleißig gewesen, wenn ich gerade mal nichts für die Schule zu tun hatte und noch nicht schlafen konnte. Ich habe zahlreiche Notizen in meinen Zettelkasten übertragen. Vor über zwei Jahren habe ich mir das Werk von Max Raphael zugelegt und dann zu seinem Buch Von Monet zu Picasso zu arbeiten begonnen. Das ist dann eingeschlafen. Zurückgeblieben sind an die 80 Kommentare. Diese wollte ich nun ebenfalls in meinen Zettelkasten übertragen. Und hier hat mir Christa Wolf einen Strich durch die Rechnung gemacht. Meine Notizen passen in gewisser Weise ganz wunderbar zu Kassandra und zu der Poetik-Vorlesung zu der Erzählung.
So sehr ich Kassandra liebe, der Sprache wegen, so verschlossen ist mir diese Erzählung bisher geblieben. In den letzten Wochen jedoch konnte ich tatsächlich intensiver mit ihrem Text arbeiten, was sich zunächst dem Buch von Sigrid Weigel über Walter Benjamin verdanke; jetzt kommt Max Raphael dazu. Und ich werde mich doch noch einmal intensiver mit der marxistischen Literaturtheorie auseinandersetzen müssen.

Jedenfalls habe ich gestern über eine Stunde fleißig weiter kommentiert, was sich damals zu Raphael geschrieben habe, immer mit Bezug auf Kassandra und, das ist mein eigentliches Lieblingsbuch von Christa Wolf, Leibhaftig.

Herumgebastelt habe ich auch an meinem Dokumentationssystem für die Schule. Es ist gar nicht so einfach, sich ein solches System zu entwerfen, in dem sowohl der einzelne Schüler gut beachtet wird, als auch ein Gesamtüberblick erhalten bleibt. Darüber werde ich mir noch viele Gedanken machen müssen.

14.11.2014

Historische Koordinate: ein ästhetischer Begriff in Christa Wolfs Kassandra

Nur sehr gelegentlich komme ich zur Zeit zum Lesen, jedenfalls zum Lesen querbeet. Sehr langsam schreitet zum Beispiel die Interpretation von Kassandra voran.
Von letztem Wochenende ist folgende Notiz (diese hat mich die Woche über beschäftigt):

Als ein zentraler Begriff könnte man „Koordinate“ bezeichnen, als ein zentraler Begriff in der Ästhetik von Christa Wolf. Er taucht bei Bachtin auf (Chronotopos) und bei Lotman (Die Innenwelt des Denkens), aber auch bei Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung). Und das ist noch längst nicht alles.
Doch der Begriff der Koordinate ist bei Christa Wolf doppeldeutig. Auf der einen Seite geht es um die raum-zeitliche Koordinate, auf die Bachtin am Ende seines Buches ›Chronotopos‹ zurückkommt, und dort spricht er von einer Verzerrung; auf der anderen Seite geht es um diese Verzerrung selbst, die bei Lotman wohl durch das Wort Topologie ersetzt wird.
Dieser Doppeldeutigkeit müsste man also nachgehen, auch in der Ästhetik von Christa Wolf. Sie schreibt also:
„Wenn der erste Blick auf die minoischen Malereien — auf ihre Rekonstruktionen — ein freudiger Schrecken, merkwürdig genug: ein Wiedererkennungsschrecken ist: die Gefilde der Glücklichen, es gibt sie, man wusste es ja — so werden sie durch eine nähere Kenntnis der Verhältnisse, die sie hervorbrachten — anscheinend für eine gewisse historische Periode in einer produktiven Balance gehalten, aber doch nicht, wie man zuerst unvernünftig zu hoffen wagte, doch nicht eine Insel der Seligen außerhalb der Koordinaten ihrer Zeit — nicht entzaubert.“ (Voraussetzung einer Erzählung: Kassandra, 78 f.)

09.11.2014

Analyse von Lernstoff

Heute morgen habe ich mir ein Upgrade von einem Programm (Magix) geleistet, um meinen Computer aufzuräumen. Bisher hatte ich meine alte Version, die noch nicht für Windows 8 ausgelegt war, weiter verwendet. In den letzten Wochen ist mein PC deutlich verzögert gestartet. Jetzt legt mir das Upgrade gerade meinen Computer lahm: es gibt zu viel aufzuräumen.

Schule: Analyse des Lernstoffs

Für die Schule stöbere ich gerade in meinen Grammatik-Büchern herum. Eine für mich wichtige Arbeitstechnik ist die Analyse des Lernstoffes mit den Instrumenten Peter von Polenz'. Dieser klassifiziert in seinem Buch Deutsche Satzsemantik die semantischen Rollen von Satzteilen und die semantischen Klassen von Verknüpfungen.
Polenz bietet damit ein wesentlich präziseres Modell an als Fillmore. Fillmore wiederum findet sich als Bezugstheoretiker bei Hans Aebli, wenn es um die Analyse von Handlungsfolgen geht. Diese sind auf doppelte Weise für den Unterricht nützlich: (1) können Handlungen, die die Schüler lernen sollen (Aebli beschreibt zum Beispiel die Herstellung von Hartkäse), in einzelne Schritte aufgegliedert werden; (2) ist Unterricht selbst eine Handlungsabfolge, die so analysiert und damit differenzierter durchdacht werden kann.

Aebli und die semantischen Netze

Hans Aebli ist ein Schweizer Psychologe, der den Lehrstuhl für Lernpsychologie in Bern inne hatte. Er gilt als einer der bedeutendsten Schüler Jean Piagets.
Seine Handlungstheorie hat er in Denken: Das Ordnen des Tuns I dargestellt. Ein zentraler Punkt dafür sind semantische Netze, die darstellende und eingreifende Assimilationsschemata verknüpfen und so handlungsleitend wirken. Die semantischen Netze sind, wie die darstellenden und eingreifenden Assimilationsschemata, symbolische Repräsentationen von Vorgängen und Objekten in der Welt.

Schemata

Das war jetzt nun ein bisschen arg viel Fachvokabular auf einmal. Bleiben wir zunächst bei den Schemata als solche.
Als Schema gilt eine zusammengefasste Vielheit, die eine Handlung strukturiert und wiederholbar macht. So kann man sich zum Beispiel ein Schema aus Mund und Daumen vorstellen, einem unangenehmen Gefühl und die Erwartung einer Befriedigung, die durch das Daumenlutschen erzeugt wird. Indem das Kind nun diesem Schema folgt, handelt es und erreicht dann, nachdem es den Daumen in den Mund gesteckt hat, entweder eine Erfüllung oder eine Versagung.

Darstellend

Schemata kann man, in diesem Sinne, als Kleinstbausteine unseres Denkens bezeichnen. Sie bilden sich aus den ersten, sehr undifferenzierten Erfahrungen. Im Laufe des Säuglingsalters bilden sich nun zahlreiche solcher Schemata, die sowohl die Handlung als auch die Wahrnehmung betreffen.
Schemata bezüglich der Wahrnehmung nennt Aebli darstellende Assimilationsschemata. Der Zusatz Assimilation bedeutet, dass die von außen kommenden Reize in ein solches Schema integriert werden, wenn es nur hinreichend passt.
So lernen Neugeborene relativ rasch, Gesichter zu erkennen. Sie reagieren dann eine Zeit lang auf jedes Gesicht durch Signale. Dabei wird aber zwischen verschiedenen Gesichtern nicht unterschieden. Diese werden als etwas anderes als andere Objekte in der Umwelt erkannt, aber nicht als in sich unterschieden. Relativ kurz darauf kann der Säugling dann aber Gesichter differenzieren, Mama, Papa, Geschwister unterscheiden und dann immer individueller reagieren.
Die Unterscheidung der Gesichter läuft über Schemata. Zunächst scheint es ein einziges solches Gesichtsschema zu geben, mit dem passende Signale aus der Umwelt erfasst werden. Passend bedeutet, dass diese noch recht unterschiedlich sein können; sie werden an das bisher entwickelte Schema des Gesichts angepasst. Deshalb nennt sich diese Art von Schema auch darstellendes Assimilationsschema.

Eingreifend

Eingreifende Assimilationsschemata entwickeln sich in derselben Form. Sie dienen aber nicht der Wahrnehmung/Interpretation der Umwelt, sondern ihrer Veränderung. Sie greifen in die Umwelt ein.

Semantische Netze

Sobald genügend Assimilationsschemata vorliegen, können diese miteinander kombiniert werden. Daraus entwickeln sich dann feste Kombinationen von Schemata, sog. semantische Netze. Semantische Netze selbst können dann so automatisiert ablaufen, dass sie zu Schemata gerinnen und in noch komplexere semantische Netze eingebunden werden können.

Analyse von Lernstoff

Damit sind wir im Prinzip bei einer einfachen Analyse des Lernstoffs angelangt: zunächst muss ich mir den Stoff fachlich darstellen; dann schaue ich, welche Elemente darstellende, welche eingreifende Assimilationsschemata sind.
Für die Pflege eines Meerschweinchens muss das Kind wissen, was ein Meerschweinchen ist, d.h. es muss das entsprechende Schema aufgebaut haben, um dieses Tier von anderen Tieren zu unterscheiden. Um es aber zu pflegen, gehört zum Beispiel das Schema dazu, dem Tier Futter in seine Schale zu geben. Das ist ein eingreifendes Schema.
Jedes eingreifende Schema stützt sich auf ein oder mehrere darstellende Schemata. Eine Handlung braucht, so sagt man, ein Handlungssignal.

Handlung und Konstellation

An dieser Stelle kommen nun "grammatische" Theorien ins Spiel. Eine Handlung koordiniert entlang der Körpergrenze eine innerlich/äußerliche Bewegung. Um Text in meinen Computer einzutippen, muss ich meine Finger bewegen und die Tasten der Tastatur drücken. Um einen komplexeren Text einzutippen muss ich noch gelegentlich einen Blick auf meinen Fahrplan werfen, den ich mir für die Gliederung meines Textes entworfen habe.
Die Koordination von Körper und Umwelt wird in der kognitiven Psychologie durch Sätze dargestellt, in deren Mittelpunkt eine Bewegung, also ein "aktives" Verb steht.
Entlang solcher "aktiver" Verben kann nun der Lernstoff entschlüsselt werden.

Didaktisierung

Wenn man nun einen Lernstoff entschlüsselt, dann sind zunächst die Handlungen herauszuarbeiten, die zu einer gewünschten Tätigkeit mit einem gewünschten Ziel führen. Die Kinder bilden etwa Plusquamperfekt-Formen aus Sätzen, die im Präsens stehen (man muss dort einberechnen, dass dieses Ziel ein künstliches, schulisches ist). Die Handlung besteht darin, die Verbformen des Satzes zu ersetzen, indem die Verbform im Präsens erkannt und ins Plusquamperfekt abgeändert wird.
Das ist aber nur das einfache Handlungsschema, das die Kinder später verinnerlicht haben sollen. Auf dem Weg dorthin sind methodische Umwege nötig, die die Kinder zur Wahrnehmung der Verbformen eines Satzes befähigen, die verschiedenen Tempi eines Verbes verknüpfen und eventuell auch noch die Kinder (ausgiebig für diese trockene Übung) motivieren.
Die einfache Handlungsabfolge kann also so nicht stehen bleiben: sie muss didaktisiert werden.

So, mein Computer signalisiert mir gerade, dass ich jetzt weiterarbeiten darf: alles weitere folgt später. Ich muss auch noch ein wenig Unterricht vorbereiten.

03.11.2014

Gauck

Ich wollte schreiben, ich habe geschrieben, und es dann doch nicht veröffentlicht. Zu Gauck. Jetzt aber doch. Wenn auch nicht alles, was zu sagen wäre.
Also: Gauck. Sein Buch Freiheit. Sein Thema; meines auch. Und halten wir uns mal ganz zurück, was der gute Herr Gauck sonst noch ist, gewesen ist, seine Rolle in der DDR und sein Aufstieg als politische Person im vereinigten Deutschland. Das Buch jedenfalls ist komplexer, als manche Menschen dies hinstellen und die Argumentation, wenn auch nicht unumstößlich, so doch nicht durch ein Schulterzucken abzutun. Ich arbeite daran. Und nicht erst seit kurzer Zeit.

Eingriffe und Aktualität

Seine aktuelle Äußerung ist, zugegebenermaßen, zu einem unglücklichen Zeitpunkt gefallen. Die Linken haben die Aussicht, den Ministerpräsidenten eines Landes zu stellen. Gespräche über eine Koalition sind im Gange. Das ist Parteipolitik. Hier hat sich der Bundespräsident herauszuhalten.
Was er allerdings geäußert hat, ist trotzdem immer noch zwiespältig zu werten. Es ist natürlich eine Albernheit, aus dem aktuellen Zustand der Linken auf eine Tradierung der SED zu schließen. Aber viele Menschen machen es eben, und der Einwand, den Gauck hier bringt, sein Verständnis für die Befürchtungen, ist nur der eine Teil seiner Argumentation. Der andere Teil ist eben jenes Trotzdem, jenes: trotzdem sind die Linken demokratisch gewählt worden und wenn man Schwierigkeiten haben darf, mit den Linken, dann wohl eher mit einem Teil dieser Partei.
Der andere Aspekt dieser Argumentation, den ich für schwierig erachte: wenn ich von meinem Politikverständnis, von meinem Bild der aktuellen politischen Lage in Deutschland ausgehe, dann habe ich immer mit einem Teil einer Partei große Probleme. Was bedingt, dass ich mit einem anderen Teil der Parteien keine großen Probleme habe. Gut, für einige Splitterparteien am rechten oder linken Rand gilt das natürlich nicht. Die NPD ist für mich keine Diskussion wert. Auch nicht in Teilen.

Erweiterte Tautologie

Die Extrapolation, die sich hier Gauck leistet, jene Emphase, die die Linken in den Vordergrund rückt, ist überhaupt nicht sachlich gebunden. Ihr Gehalt ist rein emotional. All dies läuft auf eine erweiterte Tautologie hinaus.
Eine Tautologie ist eine Äußerung, die in Worten zu viel sagt, was an Merkmalen vorhanden ist. Der „weiße Schimmel“ ist deshalb eine Tautologie, weil ein Schimmel per Definition weiß ist, wie ein Rappen schwarz und ein Fuchs braun. Als Argumentation existiert die Tautologie durch ein „Es ist so, wie es ist!“, durch ein Auslöschen der Argumentation. Argumentieren heißt: begründen. Begründen heißt, dass man die Argumentation an das sinnliche Objekt oder die konkretisierte Ideen zurückbindet. All dies leistet eine tautologische Argumentation nicht.
Die erweiterte Tautologie besteht aus einer Scheinargumentation. Das Definierte besitzt zwar eine Definition, doch ist diese Definition entweder mangelhaft oder sogar genauso erläuterungsbedürftig wie das Definierte selbst. Es läuft auf den alten Witz hinaus: »Was hast du da?« - »Ein Glom.« - »Und was ist ein Glom?« - »Dasselbe wie ein Bröm.« - »Aber was ist denn ein Bröm?« - »Nun, das ist doch ganz einfach. Es ist ein Glom.«
Die Kritik an den Linken läuft auf einen ähnlichen Zirkel hinaus. Weil die Linken die Nachfolgepartei der SED ist, ist die SED natürlich die „Vorfolge“-Partei der Linken. Dann wird das Staatsverständnis der SED herbeizitiert und nahtlos auf die Linken übertragen. Man mag die Art und Weise, wie die Linken die aktuelle Debatte beeinflussen, für unglücklich oder falsch halten. Es sind jedenfalls nicht dieselben Debatten, die damals in der DDR geführt worden sind. Ob sich aus einzelnen Themenkomplexen, etwa der Beteiligung Deutschlands an bewaffneten Einsätzen im Ausland, der Finanzpolitik der Europäischen Union, der Gestaltung des Schulwesens, usw. ein zusammenfassend gleiches Bild ergibt, das die SED von sich gegeben hat, möchte ich bezweifeln.

Filz und Zensur

Keineswegs möchte ich damit die Kritik an den Linken unterbinden, wie ich keine Kritik an irgendeiner Partei unterbinden möchte. Aber es gibt schon bestimmte Formen der Kritik, die einen mehr an eine Denkfaulheit erinnern, als an ein gewissenhaftes Verständnis des demokratischen Streits.
Politik muss sich an ihrer Aktualität messen und kritisieren lassen. Fraglich ist sowieso, ob man eine Partei aus einem ganz anderen Staatsgebilde importieren kann. Fraglich ist also, ob die Linken, selbst wenn sie es wollten, der SED nachgefolgt sind. Politik existiert eben nicht in einem luftleeren Raum; sie kann sich höchstens Treibhäuser schaffen, in denen sie seltsame Blüten treibt. Das passiert immer dann, wenn eine Regierung sich über ihre Grenzen hinaus institutionalisiert, wie dies bei despotischen Parteien der Fall ist. Der Stalinismus wäre genauso wenig möglich gewesen wie das Militärregime in Chile, wenn nicht maßgebliche Funktionen des öffentlichen Lebens gleichgeschaltet worden wären, durch Filz und Zensur.
Von Filz und Zensur kann beim derzeitigen Zustand der Linken aber keine Rede sein. Da fallen mir doch ganz anderen Parteien ein.
Schließlich aber muss eine Diskussion, die sich solch grobe Fehler auf der formalen Ebene vorwerfen lassen muss, als zensierend gewertet werden. Das gute Argument kann nicht durch die schlechte Anspielung ersetzt werden, und schon gar nicht durch die grob unsinnige Behauptung. Dies allerdings ist nicht mehr gegen die aktuelle Äußerung Gaucks gerichtet, sondern eher gegen gewisse Menschen auf Facebook.

Wiederholte Müdigkeit

Für mich wird es immer schwieriger, am politischen Leben teilzunehmen. Ich merke, dass ich mittlerweile eine gewisse Unerträglichkeit gegenüber diesem tagtäglichen Gezänk entwickle. Vor einigen Stunden bin ich auf einen alten Artikel gestoßen, einen, den ich mitten in der Auseinandersetzung zur guten Argumentation geschrieben habe: Verlust der Argumentation.
An meinen Worten hat sich nichts geändert. Und ich könnte hier zahlreiche weitere meiner Artikel benennen, die alle die formelle Seite der Argumentation in den Vordergrund rücken. Von der inhaltlichen Seite sind wir damit noch weit entfernt. Die formelle Seite, so sollte man meinen, ist zwar wichtig, aber nur das Gerüst, damit eine Argumentation nicht in den Zustand des Geplärres regrediert. Doch sie ist nicht der politische Inhalt. Nicht das, um was es wirklich geht. Es befriedigt mich nicht mehr, immer wieder darauf zu pochen. Es gibt diese zahllosen, wundervollen Bücher zur guten Argumentation. Und das eine oder andere, darum darf man doch bitten, sollten auch diejenigen Menschen gründlich durchgearbeitet haben, die sich in politischen Diskussionen profilieren wollen.

Und wo wir gerade von der Müdigkeit sprechen: ich kann nicht schlafen. Ich bin völlig aufgedreht, vermutlich nur innerlich, aber viel zu sehr, um mich ins Bett legen zu können. Das habe ich jetzt vier Stunden lang vergeblich versucht. Und es dann aufgegeben. In einer Stunde, um fünf Uhr, muss sich sowieso aus den Federn.

02.11.2014

Schnelle Hunde, noch schnellere Vietnamesen — und Kassandrarufe

Mein Frühstück habe ich kurzerhand meinen Mittagessen verbunden, heute zumindest, und bin zu dem Vietnamesen in der Torstraße gegangen, dem dort, wo die Torstraße durch den Rosenthaler Platz unterbrochen wird.
Gegessen habe ich Vit Chien, Ente in scharfer Sauce; wobei mir der Name des Gerichtes zu vielfältigen Assoziationen Anlass gegeben hat. In China essen sie Hunde und das ziemlich schnell. Meine Vietnamesen allerdings waren überraschend flott: kaum hatte ich mich gesetzt, hatte ich das Gericht bereits vor mir stehen.

Christa Wolf liegt vor mir, schon seit gestern Abend. Nachdem ich in den letzten Tagen wirklich geschafft habe, meine sämtlichen Notizen zum Homo Faber in den Zettelkasten zu übertragen, dazu auch alle meine Notizen zu den Tagebüchern von Max Frisch, einige umfangreichere Kommentare zu Aufsätzen von Christa Wolf, und einen teilweise sehr innigen Dialog aus einer Lektüre des Homo Faber und Leibhaftig (Christa Wolf), habe ich dann begonnen, meine Notizen zu Kassandra durchzusehen und diese zu ergänzen.

Eigentlich hatte ich nur die Sachen, die ich zu Susanne Gerdoms Buch Last Days on Earth notiert hatte, in eine Form bringen wollen, dass sich mit ihnen systematischer arbeiten kann. Und das ist natürlich immer mein Zettelkasten gewesen, der mir das ermöglicht hat. Dann aber hat mich diese unglaubliche Menge an Fragmenten, Ideen und halb ausgeführten Kommentaren, die ich ja immer auf OneNote abspeichere, so erschlagen, dass ich mir einfach jeden Tag zwei Stunden Zeit genommen habe, um sie mit Stichwörtern und Querverweisen zu versehen.

Jedenfalls liegt nun Kassandra wieder auf meinem Schreibtisch. Wunderbare Satzgefüge, dicht gewebt in Wiederholungen, die das Thema langsam verschieben, zum Beispiel hier:
Und ich, hörte ich mich zu Aineias sagen, ich habe es von Anfang an gewusst. Die Stimme, die das sagte, war mir fremd, und natürlich weiß ich heute, weiß ich seit langem, es war kein Zufall, dass diese fremde Stimme, die mir oft schon in der Kehle gesteckt hatte, in seiner Gegenwart zum ersten Mal aus mir sprach. Willentlich ließ ich sie frei, damit sie mich nicht zerrisse; was dann kam, hatte ich nicht in der Hand. Ich hab es gewusst, ich hab es gewusst, immer mit dieser fremden hohen wimmernden Stimme, bei der ich mich in Sicherheit bringen musste, mich an Aineias anklammern, der erschrocken war, aber standhielt. Standhielt, ach Aineias. Schlotternd, gliederschüttelnd hing ich an ihm, jeder meiner Finger tat, was er wollte, klammerte sich in seine Kleider, riss an ihnen; mein Mund, außer dass er den Schrei hervorstieß, erzeugte diese Art von Schaum, der sich auf Lippen und Kinn absetzte, und meine Beine, die ich so wenig in der Gewalt hatte wie irgend ein andres Glied, zuckten und tanzten in einer anrüchigen unpassenden Lust, die ich gar nicht empfand, unbeherrscht waren sie, war alles an mir, unbeherrscht war ich. Vier Männer konnten mich kaum halten.
(53)

Vorläufiges Denken

Immer wieder treffe ich auf Menschen, denen ich mich sehr verbunden fühle. Und diesmal ist es Gramsci. Gramsci ist mir bereits einige Male über den Weg gelaufen, ohne dass ich mich näher mit ihm beschäftigt habe. Neulich bekam ich dann ›Antonio Gramsci zur Einführung‹ von Thomas Barfuß und Peter Jehle zugesteckt. Heute habe ich zu lesen begonnen.

Die beiden Autoren schreiben:
Gramsci hat 33 handbeschriebene Schulhefte hinterlassen (darunter vier, die ausschließlich Übersetzungen enthalten), ein immer wieder neuansetzendes gedankliches Experimentieren, begriffliches Zuspitzen, Kritisieren. Die Vorläufigkeit des so entstehenden Geflecht von Materialien und Reflexionen wird vom Autor nicht verspielt.
(16)
Ich finde mich selbst in diesem Zitat wieder. Ich möchte nun nicht behaupten, dass meine Methoden dieselben sind wie die von Antonio Gramsci, obwohl wir beide wohl einen starken Hang zur Philologie haben (obwohl ich nicht verstehe, wie man diesen Drang nicht haben kann: ist doch das gründliche und systematische Lesen das Fundament jeder Auseinandersetzung mit Texten).
Und zum anderen lässt sich der Sinn eines Textes nicht erschließen, wenn man nicht auch Interpretationen versucht, in der das Verhältnis zwischen Original und Interpretation bereits zum Zerreißen gespannt ist. Es gibt einfach Interpretationen, die ausprobiert werden müssen, einfach um zu sehen, dass sie nicht funktionieren. Damit ist die Interpretation zwar falsch, aber eine wichtige Erkenntnis über den Text gewonnen.

30.10.2014

Dialoge schreiben

Nur mal so als Zwischenruf:
Neben vielen anderen Fragen zu Dialogen ist wohl eine der häufigsten, wie man Dialoge schreiben lernt.

Nun, die Frage ist ziemlich einfach zu beantworten: indem man sich Dialoge anderer Schriftsteller gründlich anschaut. Möglichst sollte man auch viel dazu schreiben, weil die hand(werk)liche Tätigkeit die Arbeit intensiviert (ich schreibe eigentlich alles auf, jeden kleinen Gedankenschnipsel, eine Angewohnheit, die ich mir von Julia Cameron , Der Weg des Künstlers übernommen habe).

Viel dazu schreiben heißt: vieles kommentieren. Ganz sinnvoll ist es, sich vorher ein kleines Begriffsgebäude erarbeitet zu haben. Bei Texten ist es natürlich sinnvoll, vor allem auf grammatische Ausdrücke zurückzugreifen. Bei Dialogen nutze ich dann noch ein sehr einfaches Vokabular aus der Dialoglinguistik (einfach heißt, dass ich viele speziellere Begriffe weglasse).

Und gelegentlich sollte man dann auch Dialoge schreiben, bzw. nachschreiben.
Aber das versteht sich ja fast von selbst.

Gewissheit und Wahrheit

Ich hatte gestern Abend eine sehr fruchtbare Phase des Schreibens. Unter anderem habe ich mich mit den Begriffen der Gewissheit und der Wahrheit bei Wittgenstein auseinandergesetzt. Dazu sind zahlreiche Aphorismen entstanden. Einige davon habe ich hier zusammengestellt:
Wir können unsere eigenen Gefühle nicht falsifizieren. Wir können uns lediglich über sie täuschen und sie dem anderen vortäuschen. Aber das scheint vorauszusetzen, dass die Falsifikation nur auf Wahrheiten beruht, die im zwischenmenschlichen Bereich möglich sind, d.h., dass die Wahrheit von jeher intersubjektiv sein muss.
Aber ist das, was Wittgenstein als Gewissheit bezeichnet, nicht dasselbe wie die Wahrheit? Nur, dass die Gewissheit nur für mich, die Wahrheit für alle gilt?

Die Wahrheit benutzt ein anderes Medium als die Gewissheit.

Die Gewissheit geht mir voraus, die Wahrheit muss ich erarbeiten.

Es gibt zwei Arten von Unterstellung: die Täuschung in der Gewissheit und die Falsifizierbarkeit in der Wahrheit.

Die Falsifikation kommt mir vom anderen zu:
„Richtig ist, dass, wenn ich über den anderen reden, eine Falsifikation meines Urteils nie auszuschließen ist.“

Das besagt aber nicht, dass die Falsifikation direkt geschehen muss, also direkt von dem anderen kommen muss. Ich kann zum Beispiel feststellen, dass der andere griesgrämig ist, und dann vermuten, dass er ein schlimmes Erlebnis hatte, über das er noch nicht weggekommen ist. Dann aber kann ich vielleicht erfahren, dass er immer griesgrämig ist und dass dies ein allgemeiner Charakterzug von ihm ist oder, vorsichtiger gesagt, eine allgemeine Verhaltensweise.

Was aber interveniert, wenn ich sage, dass ich mich über den anderen getäuscht habe?

Kann man dann vielleicht sagen, dass die Gewissheit des anderen interveniert?
Denn wenn ich mir selbst gewiss bin, dass etwas so und so ist, und dann einsehen muss, dass es doch nicht so ist, dass ich mich also getäuscht habe, dann muss diese Einsicht durch etwas hervorgerufen sein, das außerhalb meiner Gewissheit liegt.

Aber worin besteht die Intervention? Interveniert der andere in meiner Gewissheit oder in den Ausdruck meiner Gewissheit?
Doch kann ich dazwischen unterscheiden? Kann man sich über etwas gewiss sein, ohne sich auch des Ausdrucks gewiss zu sein, den man dazu hat?

Sicherlich: man kann sich über ein Gefühl im Klaren sein und trotzdem einen anderen Ausdruck haben. Man kann sich zum Beispiel beibringen, ein Gefühl der Freude zu haben und gleichzeitig ein Gesicht, das Trauer anzeigt. Aber wofür macht man das, wenn nicht für einen anderen? Und selbst wenn es nur ein Spiel ist, muss ich für dieses Spiel doch die Lüge begriffen haben.
Wenn ich aber nicht begriffen habe, dass ich eine Gewissheit auch so ausdrücken kann, dass der andere diese Gewissheit nicht merkt oder eine andere Gewissheit vermutet, dann kann ich auch nicht lügen.

Doch ob ich eine Intervention zulasse oder nicht, hängt auch davon ab, ob ich die Intervention als zum selben Sprachspiel gehörig betrachte oder nicht.

Ich kann nur feststellen, dass ich mich nicht irre, wenn ich bereits weiß, was ein Irrtum ist. Ich muss also gelernt haben, wie man in einem Sprachspiel das Wort Irrtum gebrauchen kann.
Solange ich aber nicht sagen kann, dass ich mich nicht irre, kann ich mir auch der Gefühle nicht gewiss sein. Denn wenn die Unterscheidung wahr/falsch zurückgewiesen werden kann, dann nur auf der Basis, dass man die Unterscheidung Wahrheit/Gewissheit anerkannt hat.

Damit die Gewissheit eine Gewissheit ist, muss sie als solche erkannt werden. Ich muss das Sprachspiel der Gewissheit erlernt haben.
Wenn ich sage, dass ich mir meiner Schmerzen gewiss bin, dann muss ich erkannt haben, dass Schmerzen noch etwas anderes bedeuten als sie selbst.
Es gibt keinen Solipsismus der Gefühle. Jedes Gefühl ist operativ.

Trotzdem kann ich mir natürlich Gewissheit verschaffen, ob der andere tatsächlich Schmerzen hat oder nicht. Ich kann ihn zum Beispiel fragen, ob mein Eindruck richtig ist und er kann dies bestätigen.
Auch das Argument der Lüge kann nicht gelten, wenn ich zum Beispiel weiß, dass der andere Mensch immer ehrlich ist.
Deshalb gibt es natürlich auch so etwas wie eine Gewissheit, wenn es um das Innenleben anderer Menschen geht.

Der Zweifel hat ein Ende.

Man darf sich mit seiner Gewissheit nicht zu einfach machen.
(Alles andere wäre arrogant.)

Gewissheit bezeichnet das Sprachspiel, bei dem ich noch nicht zu zweifeln gelernt habe.

Zweifeln will geübt sein.

Die Menschen erfinden Sprachspiele. Der Philosoph erfindet Denkspiele.
(Denkspiele sind von den Sprachspielen abgeleitet.)

Wer sich Denkspiele erfinden kann, muss mit sich selbst im Widerstreit liegen.
(Der Philosoph erschafft sich im "Dialog".)

Das philosophische Denken zittert. (Es oszilliert.)

Man kann nicht ohne Grund zweifeln. (Ich muss das Zweifeln ebenso erlernen, wie ich den besonderen Zweifel selbst erlernen muss. Um zweifeln zu können, muss ich also zweimal gelernt haben.)

Doch genau so, wie man das Sprachspiel des Zweifelns erlernen muss, so gibt es auch ein Sprachspiel des Sichüberzeugens. Und auch dieses muss man erlernen.
Aber worauf basiert die Unterscheidung zwischen Zweifeln und Sich-überzeugen? Denn wo man sich überzeugen möchte, da zweifelt man ja. Und man könnte annehmen, dass diese beiden Sprachspiele (oder Denkspiele) notwendig zusammengehören.

Man müsste vielleicht sagen: »Es schmerzt mich.«, weil der Schmerz durch mich (durch mein Bewusstsein) hindurchgeht.
Betrachte dagegen den Satz: »Ich habe Schmerzen.« Das wäre ja so, als könne man die Schmerzen ablegen und behaupten, man habe keine Schmerzen mehr, sobald man diese weg gegeben habe. Und es sei eine Sache des Bewusstseins, diese wegzulegen.

27.10.2014

Körperräume IV — Der beschriebene und der erzählte Raum

Und der letzte Abschnitt zu meiner Serie Körperräume. Die ersten drei Folgen haben den Raum eines Romans vor allem aus dem Blickwinkel betrachtet, was ein Autor bei der Planung beachten sollte. Diesmal geht es um die Darstellung des Raumes im Roman selbst, also ganz konkret um den geschriebenen Text und dem, was der Leser schließlich in die Hände bekommt.

Der beschriebene und der erzählte Raum

Eine Beschreibung ist, so hatte ich bereits in einem früheren Artikel gesagt, statisch. Sie kommt weitestgehend ohne Bewegungen und Handlungen aus (auch wenn wir gelegentlich eine Handlung beschreiben: dann aber benutzen wir einen Alltagsbegriff, der undeutlich ist). Beschreibungen sind nicht das, was eine Erzählung ausmachen, auch wenn sie gelegentlich dazugehören. Eine Erzählung besteht vorrangig aus Handlungen.
Damit bekommen wir die Begründung, warum Räume die Voraussetzung für eine Erzählung bilden, aber in der Erzählung selbst nicht ganz so wichtig sind, bzw. nicht so deutlich dargestellt werden müssen. Bleibt aber zunächst dabei, dass meine Darstellung in gewisser Weise paradox ist: ohne einen Raum funktioniert die Handlung nicht und deshalb ist der Raum besonders wichtig; doch die Erzählung stellt vorwiegend Handlungen dar und entsteht durch Handlungen, weshalb der Raum in den Hintergrund rückt. Damit ist der Raum zugleich wichtig und nicht wichtig.
Dass es sich hier um ein Paradox handelt, merkt man vor allem auch daran, dass sich Leser unglaublich über eine unlogische Darstellung von Räumen aufregen. Sie reagieren nicht auf einen gut konzipierten Raum; der Schriftsteller kann sich noch so viel Mühe geben, seinen Raum logisch zu erfassen und logisch darzustellen: er wird das Lob seiner Leser nicht dafür bekommen. Sobald aber der kleinste Fehler passiert, entdecken das die Leser und werfen es dem Schriftsteller vor. Wenn es um die Darstellung von Räumen geht, dann ist der Leser hier eindeutig an Defiziten orientiert.
Zumindest aber können wir jetzt die Aufgabe des Schriftstellers genauer bestimmen, wenn er Räume in seinen Roman einbindet. Auch hier gibt es wieder Tausende von Möglichkeiten. Auch hier muss ich euch letzten Endes wieder darauf verweisen, eure bevorzugten Schriftsteller zu studieren. Ganz exemplarisch möchte ich euch dies an einem Roman von Karl May, Die Pyramide des Sonnengottes, vorstellen.

Die Pyramide des Sonnengottes

Die Pyramide des Sonnengottes ist der zweite Roman eines fünfbändigen Werkes, das mit Das Schloss Rodriganda beginnt. Ursprünglich wurde dieser Roman als Fortsetzung unter dem Titel Das Waldröschen veröffentlicht. Im Untertitel hieß es Eine Rächerjagd rund um die Erde. In dieser ersten Fassung sind große Teile noch deutlich anders zusammengesetzt. Hier hat sich der Charakter der Fortsetzung wesentlich stärker in die Erzählstruktur eingeschrieben als bei der späteren Veröffentlichung als Buch. Wie bei vielen Werken von Karl May darf man auch hier den Eingriff fremder Autoren vermuten, die von den Erben beauftragt wurden, die Geschichten der veränderten Verlagskultur anzupassen. Das ist zwar für die Geschichte und die Schreibtechniken wenig interessant, aber zumindest zeigt dies, dass auch schon vor 100 Jahren ein Roman kein Heiligtum war, sondern sich dem Vergnügen der Leser angepasst hat.
Die Kapitel sind relativ klassisch aufgebaut. Sie erzählen immer einen Abschnitt aus der Geschichte, der für die Geschichte eine bestimmte Wendung bedeutet. Man könnte die Kapitel als eigenständige Geschichten bezeichnen, die meist nur recht geschickt aneinander gekettet sind. Da sie insgesamt aber einem größeren Ziel folgen, ergibt sich daraus natürlich ein Zusammenhang, der über das einzelne Kapitel hinaus weist.
In den folgenden Abschnitten werde ich aus diesem Roman den Beginn des dritten Kapitels genauer betrachten. Es heißt Im Kielwasser des Piraten. Hier verfolgt ein deutscher Trapper, der natürlich zugleich Arzt ist, ein gewisser Doktor Sternau, einen Bösewicht, der den Geliebten einer Freundin und Sohn eines Grafen entführt hat. Um diese Verfolgung aufnehmen zu können, muss Sternau ein Schiff besorgen. Damit beginnt das dritte Kapitel. Es schließt an das zweite Kapitel an, welches von Rheinswalden, Sternaus Heimatort, aus noch kurz die Reise nach Köln schildert. Dann erfolgt, im Übergang, ein kompletter Ortswechsel.

Die Orientierung des Lesers: der geographische Ort

Zunächst schildert Karl May die Lage des neuen Ortes:
An der Westseite Schottlands, da, wo der Clydefluss sich ins Meer ergießt, bildet dieses einen Busen, an dessen Südseite die unter allen seefahrenden Nationen berühmte Stadt Greenock liegt. Auf den Werften dieser Stadt sind viele Schiffe des Deutschen Lloyd und der deutschen Kriegsmarine gebaut worden, und manches stolze Orlogschiff sowie manches große oder kleine Handelsfahrzeug, das Greenock zum Geburtsort hat, durchflog die See.
Man könnte diese Stelle für wenig aufregend halten. Tatsächlich aber zeigt sie einige sehr wichtige Kriterien für eine Beschreibung. Karl May braucht nur ganz wenige Sätze, um die Bedeutung der Stadt zu unterstreichen. Nur sehr indirekt, aber trotzdem sehr deutlich, vermittelt uns der Autor das Bild einer belebten Stadt. Wir stellen uns sofort Szenen dazu vor. Und der ganze Trick beruht natürlich darauf, dass wir auf Bekanntes, bereits Gesehenes zurückgreifen, also genau die Bilder benutzen, die nicht von Karl May, sondern von uns selbst stammen.
Details sind für die Beschreibung natürlich wichtig. Aber genauso wichtig ist es, hier einige, wenige und bedeutsame Details herauszusuchen. Details sollen nicht wissenschaftlich präzise geschildert werden, sondern so, dass sie eine bestimmte Atmosphäre vermitteln. Sind es zu wenige Details, dann leidet darunter die Atmosphäre. Sind es dagegen zu viele, lenken diese von der Handlung ab, wodurch der Spannungsaufbau gefährdet wird.

Aktive Verben

Das ist die eine Sache, auf die ich euch hinweisen möchte. Die andere Sache sind die Verben. Verben: darauf muss man gerade junge Schriftsteller immer wieder hinweisen. Es gibt so viele, tolle Verben im Deutschen. Diese sollte man verwenden. Vor allem aber sollte man sie kennen. Es spricht aber nichts gegen die Verwendung von ganz schlichten Wörtern. Genau das macht Karl May hier. Ergießen, legen, bauen, durchfliegen - keines dieser Verben ist ungewöhnlich; nur das letzte ist metaphorisch, also zusätzlich bildhaft. Natürlich sind manchmal auch besondere Verben wichtig, aber trotz allem gilt auch hier die Regel: fasse dich einfach und kurz. (Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel!)

Das Verb sein

Wichtig ist aber auch, dass das Wort sein selten gebraucht wird. Manche Linguisten zweifeln daran, dass es ein richtiges Verb ist. Zumindest wird es häufig für Definitionen gebraucht. Das ist für die Wissenschaft wichtig, aber nicht für die Literatur. Karl May jedenfalls baut in seinen Beschreibungen immer irgendwelche Vorgänge oder Handlungen ein, und seien diese auch sehr allgemein gehalten. Schon auf dieser Ebene, auf der Ebene einer Lagebeschreibung, sind also Handlungsmöglichkeiten mitgedacht. Und wenn wir eine solche Passage schreiben wollen, dann müssen wir gar nicht so kompliziert denken. Es reicht, wenn wir passende Verben für einen passenden Ort aussuchen und den Rest der Fantasie des Lesers überlassen.

Die Orientierung des Lesers: die Ausgangssituation

Wenn ich von der Leserorientierung spreche, dann meine ich vor allem die Orientierung in Zeit und Raum. Dies ist vermutlich deshalb auch so wichtig, weil wir uns selber über Zeit und Raum orientieren und so eine Ordnung entsteht, die uns den Roman übersichtlich macht. Es mag zwar Leser geben, die irgendwelche zusammengewürfelten Orte akzeptieren. Im allgemeinen erwarten wir aber einen bestimmten Zusammenhang. Und auch wenn dieser nicht präzise ausgeführt werden muss, sollte man ihn trotzdem nicht vernachlässigen. Man muss die „gute Ordnung“ im Hintergrund mitlaufen lassen. Allerdings sollte man auch nicht damit prahlen, was für eine umfangreiche und farbenfrohe Welt man sich ausgedacht hat, denn dabei verschwindet meist die Geschichte hinter den Beschreibungen, und das wollen die meisten Leser nicht lesen.
Ich hatte eben den Beginn des dritten Kapitels zitiert. Dieser liefert sowohl eine geographische, als auch eine allgemein kulturelle Beschreibung. Die nachfolgende dagegen ist auf eine bestimmte Situation gerichtet. Sie trägt bereits einige erzählende Elemente in sich. Insgesamt kann man die Beschreibung als eine ›von dem Allgemeinen zum Detail‹ bezeichnen (man könnte auch umgekehrt vorgehen, oder zum Beispiel vom Auffälligen zum Nebensächlichen, und einige andere Sachen mehr).
In einem der besuchtesten Hotels dieser Stadt waren Doktor Karl Sternau und der Steuermann Unger abgestiegen. Sie hatten sich hierher begeben, weil sich hier am leichtesten ein kleines Fahrzeug, wie sie es für die Verfolgung Landolas brauchten, kaufen konnten. Sie haben schon den ganzen Hafen und auch die Werften abgesucht, ohne ein solches zu finden, und unterhielten sich nun an der Gasthaustafel von dieser Angelegenheit. Gegenüber saß ein alter Herr, der ihre Worte hörte und daraufhin ihnen mitteilte, dass oben am Fluss eine prachtvolle Dampfjacht liege, die zu verkaufen sei. Er fügte hinzu, ein dort in der Nähe wohnende Advokat sei mit dem Verkauf beauftragt. Das Fahrzeug liege gerade vor der Tür der Villa, die dieser bewohne.
Karl May fährt also mit einigen Details fort. Diese sind nicht wirklich wichtig, verankern aber die Geschichte. Das Hotel spielt zum Beispiel keine weitere Rolle. Und dass es besonders berühmt ist, ist tatsächlich eine komplett überflüssige Information, zumindest in Bezug auf das Hotel selbst. Für Karl May allerdings ist es typisch. Es ist diese „Für meinen Helden nur das Beste“-Haltung. Diese muss man natürlich nicht mitmachen.

Detail und Atmosphäre

Eine ganz andere Sache ist an dieser Stelle ebenfalls wichtig. Die Stadt wird nicht einfach nur beschrieben, sondern auch hier werden einige besondere Orte ausgewählt, die natürlich in Bezug auf die Handlung eine Rolle spielen. Karl May nun beschreibt einige, wenige und recht banale Handlungen seiner Helden, und sofort kann er seiner Geschichte noch ein wenig Atmosphäre beifügen. Wir haben es nicht mehr nur mit der Stadt zu tun, sondern mit einigen typischen Gebäuden darin. Der ganze Trick dabei ist, dass sich die Orte und die Handlungen gegenseitig ausdifferenzieren und konkret machen. Wir können uns im Prinzip darauf verlassen, dass wir, solange wir konkrete Handlungen schildern und dies in vollständigen deutschen Sätzen niederschreiben, automatisch konkrete Orte mit schildern.

Zusammenfassung und indirekte Rede

Eine letzte Sache ist zu erwähnen, ein Textmuster, das von vielen jungen Schriftstellern selten oder gar nicht benutzt wird. Die Anekdote nutzt die Zusammenfassung von Handlungen, um kurz zu bleiben. Man erfährt von dem Restaurant, in dem die beiden Helden tafeln, rein gar nichts, außer dass dort ein alter Mann sitzt, der einen entscheidenden Hinweis gibt. Die beiden Protagonisten wiederum müssen an dieser Stelle nicht genauer beschrieben werden. Das Gespräch wird durch eine indirekte Rede wiedergegeben. So kann sich Karl May sehr kurz fassen und trotzdem einen logischen Aufbau beibehalten. Diese kurze Passage ist deshalb wichtig, weil die Helden nicht einfach von einem Ort zu dem anderen springen. Sie markiert einen Übergang. Da sie aber gleichzeitig eher nebensächlich ist, würde sie, wenn man sie länger schildert, den Spannungsaufbau unterbrechen. Dieses Textmuster ist also ein Kompromiss zwischen logischer Abfolge und Spannungsaufbau. Auch hier solltet ihr euch ein wenig Zeit nehmen, und solche Übergänge zwischen Orten und zwischen wichtigen Handlungsszenen studieren. So könnte man zum Beispiel bei Harry Potter feststellen, dass die indirekte Rede in diesen Büchern nicht existiert. Joanne Rowling benutzt andere Techniken, um Zeiten zu überbrücken, die für die Handlung nicht wichtig sind. Ein Theodor Fontane (um mal einen Zeitgenossen von Karl May zu nennen) arbeitet mit anderen Mitteln als ein Ernest Hemingway, und bei Edgar Wallace finden wir wiederum andere Mittel als zum Beispiel bei Raymond Chandler. Hier lohnt es sich, zu sammeln. Man mag zwar sagen, dass die unwichtigen Szenen zu unwichtig sind. Aber sie sind eben nur für die Handlung nicht besonders wichtig, für die Stimmigkeit des Buches dagegen gehören sie notwendig dazu. Wenn solche Szenen fehlen, so kurz sie auch sein mögen, kann es geschehen, dass der Roman nicht mehr nachvollziehbar ist und sich die Leser rasch langweilen.

Die Orientierung des Lesers: die Annäherung

Kehren wir von diesem längeren Umweg zurück. Textmuster sind einer der wichtigsten Aspekte für das Schreiben von Erzählungen. Sie entstehen aber auch nebenher und solange man auf eine gute Charakterisierung, ein lebendiges Erzählen, die Leserorientierung und den Spannungsaufbau achtet, wird man vieles richtig machen, ohne sich intensiv damit beschäftigt zu haben.
Wir haben nun die geographische Beschreibung betrachtet, dann den raschen Überblick, den der Autor zu einer Situation gibt, und kommen nun zu einer weiteren, kleinen Passage, die einfach deshalb interessant ist, weil sie zwei Orte miteinander verknüpft. Auch diese Szene ist für die eigentliche Geschichte fast nebensächlich. Sie dient aber der Logik der Erzählung. Sie macht die Geschichte glaubwürdig.
Das folgende Zitat schließt sich nahtlos an die bisher zitierten Stellen an:
Sternau dankte ihm für diese Mitteilung und machte sich nach beendigtem Mittagsmahl sofort mit dem Steuermann auf, die Jacht anzusehen. Sie hatten nur den Hafen bis dahin untersucht, wo der Fluss in diesen mündet, jetzt aber schritten sie am Ufer weiter aufwärts und nach einiger Zeit entdeckten sie die geschilderte Jacht, die am Ufer vor Anker lag. Es war ein ausgezeichneter Schnelldampfer, vierzig Meter lang, sechs Meter breit und zehn Meter tief, mit zwei Masten, Takel- und Segelwerk versehen, um den Dampf durch die Kraft des Windes zu unterstützen, sodass es kaum ein anderes Schiff mit der Geschwindigkeit einer solchen Jacht aufzunehmen vermochte. Da ein Brett das Ufer mit dem Bord verband, gingen sie vorläufig an Deck. Die Luken waren offen und auch die Kajüte war unverschlossen.
Betrachtet man diese verschiedenen Stellen nur mit einer linguistischen Sicht, dann ist auffällig, dass erst an dieser Stelle genauere zeitliche Angaben auftauchen. Wer meinen Blog und meinen Begriff der Verortung kennt, der weiß, dass sich damit nicht nur den Raum und die Angaben des Raumes meine, sondern auch die Zeit und die genaueren Angaben dazu. Wer sich dafür interessiert, welche Hintergründe für diese Definition eine Rolle spielen: Hier handelt es sich um Gedanken aus der Phänomenologie, insbesondere der von Schütz und Luckmann, deren Buch Strukturen der Lebenswelt für die Soziologie einen enormen Einfluss gehabt hat. Die Grundidee dieses Buches besteht darin, die Lebenswelt ganz aus der Sicht des einzelnen Menschen zu beschreiben. Damit aber wird dieses Buch eben auch für Schriftsteller sehr interessant, weil diese häufig aus der Ich-Perspektive erzählen.
Jedenfalls taucht jetzt erst die Zeit deutlicher durch Markierungen in den Sätzen auf: „Mittagsmahl“, „bis dahin“, „jetzt“ und „nach einiger Zeit“. Nichts großes, nichts, was die Welt bewegt, doch damit wird deutlich, dass die Erzählung von der Beschreibung zur Schilderung von Handlungen zurückkehrt.

Konventionen des Schreibens

Vermutlich werdet ihr euch auch fragen, warum ich auf solchen Kleinigkeiten so herumreite. Tatsächlich bietet uns Karl May hier aber eine Abfolge kleiner Textmuster, die so allgemein gültig ist, dass sie einen für den Schriftsteller wichtige Schablone darstellt. Sie wird natürlich immer wieder variiert und teilweise auch aufgebrochen. Grundsätzlich aber kann man drei Schritte feststellen:
  • Zunächst wird der Leser rein geographisch an einem Ort orientiert. Die Zeit taucht hier sehr allgemein durch Merkmale auf, die für eine Epoche typisch sind. Ein bestimmtes Leben oder sogar bestimmte Handlungen werden nicht thematisiert.
  • In einem zweiten Schritt tauchen die Protagonisten in einer Situation auf. Die Handlungen werden aber noch zusammengefasst und nicht an eine ganz konkrete Abfolge gebunden.
  • Schließlich tauchen deutlich zeitliche Markierungen auf und damit auch ganz konkrete Handlungen. Ab hier beginnt dann die eigentliche Szene.

Schablonen und die Variation

Solche Schablonen sind für Schriftsteller wichtig. Im Zweifelsfall kann man sie wiederholen (und Karl May zeigt, dass man sehr unterhaltsamen Romane schreiben kann, ohne solche Schablonen wesentlich zu verlassen). Spielen mehrere Szenen an bereits bekannten Orten, kann man eine solche Orientierung sehr abkürzen. Und natürlich kann man diese zahlreich variieren. Wenn ich solche Empfehlungen gebe, gibt es immer wieder Klagen, dass ich damit die schriftstellerische Freiheit einschränken würde und ein solches Vorgehen nur zu einer hölzernen Erzählung führt. Das ist aber nicht richtig. Gerade Unterhaltungsromane bestehen aus zahlreichen Konventionen und Konventionen sind nun einmal Wiederholungen und Gewohnheiten. Auf der anderen Seite sind kleine Variationen bei diesen Schablonen sinnvoll und bequem. Ich könnte euch dies an Karl May ganz wunderbar zeigen. Trotz seines sehr typischen Aufbaus verändert er diesen mal durch eine kurze historische Anekdote, mal durch einen bildlichen Ausdruck, mal durch ein Zitat aus dem Kulturgut eines Volkes. Der grundsätzliche Aufbau wird damit überhaupt nicht unterbrochen. Und trotzdem werden die Sätze und die Darstellung variiert.

Eine Reiseschilderung

Ich möchte hier noch eine Stelle einfügen, die für sich spricht. Karl May ist dafür bekannt, dass er Reiseromane schreibt. Gleichzeitig sind diese aber eben auch Abenteuerromane. Sternau hat die Jacht gekauft. Nun macht er sich mit seinem Begleiter an die Verfolgung des Piraten Landola. Der Rest des Kapitels schildert einen Kampf auf offener See, die weitere Verfolgung des Piraten und schließlich seine Gefangennahme. Zunächst aber muss Karl May den Raum und die Zeit überbrücken, bis seine Protagonisten auf den Piraten treffen. Dies geschieht folgendermaßen (und bitte achtet dabei auf die Bindestriche, die zugleich eine „Lücke“ im Leben der Protagonisten darstellen):
Bald dampfte die Jacht dem Clyde hinab, dem Meer entgegen und einem Ziel zu, das noch niemand bestimmen konnte. Nur so viel war zu vermuten, dass Kapitän Landola an der Westküste Afrikas zu suchen sei. -
Man war glücklich über den der Seefahrt so gefährlichen Meerbusen von Biscaya gekommen, der von den Schiffern der Matrosenkirchhof genannt wird, und legte, um Nachforschungen anzustellen, bei den Azoren, bei den Kanaren und den Kapverdischen Inseln an, konnte aber nichts erfahren. Nun ging Sternau nach St. Helena, wo er seinen Kohlenvorrat ergänzen wollte, und fand hier endlich die erste Spur. Kapitän Landola hatte mit seiner ›Pendola‹ wieder hier angelegt, um Wasser einzunehmen, und war nach Süden gesegelt. Nun stand zu erwarten, dass man in Kapstadt Weiteres von ihm hören werde, und deshalb hielt Sternau auf das Kap der Guten Hoffnung zu. -
Die Jacht ›Roseta‹ befand sich einige Grade nördlich vom Kap. Es war früher Morgen, als Kapitän Unger in die Kajüte kam, wo Sternau sich befand und ihm meldete, dass in West ein Dreimaster in Sicht sei. Man hatte einen Neger an Bord, einen ehemaligen Matrosen Landolas, den Unger zufällig in einer Hafenstadt getroffen und für die ›Roseta‹ angeheuert hatte.

Der Handlungsraum

Schließlich findet sich bei Karl May der Handlungsraum. Hier gibt es wiederum zwei sehr typischer Arten.

Dialoge ohne Raum

Im Dialog tritt der Raum manchmal komplett zurück. Vergleicht man dies mit Stephen King, dann ist das tatsächlich ungewöhnlich. Bei Stephen King handeln die Figuren sehr viel stärker, wenn sie miteinander sprechen. Dadurch ist auch die Umgebung präsenter.
Bei Karl May dagegen, der sonst das Innenleben seiner Protagonisten wenig schildert, werden hier die Gefühle besonders deutlich. Es gibt also eine enge Verbindung zwischen dem Gefühlsleben der Figuren und dem Dialog. Der Raum ist dann nur dazu da, um diesen Dialog zu motivieren. Aber die Handlungen (also die Sprechhandlungen des Dialogs) haben mit dem konkreten Raum wenig zu tun.
Dies ist die eine Form, in der Karl May den Handlungsraum nutzt (als ungenannt und vorausgesetzt eben).

Mauerschau

Die andere Form ist dann diejenige, wie wir uns das für gewöhnlich vorstellen. In dem betreffenden Raum tauchen Gegenstände auf, die für den Protagonisten interessant sind. Wenn es dabei zu Dialogen kommt, dann begleiten sie die Handlungen. Die folgende Stelle ist auch deshalb interessant, weil sie einer Theatertechnik nahe steht, die man Mauerschau nennt. Man kann auf dem Theater zum Beispiel keine Schlachten darstellen. Um hier trotzdem Handlungen mit vielen Menschen zu schildern, lässt man zwei Menschen eine solche Szene „beobachten“. Der Zuschauer erfährt über die Kommentare, was dort, in einem imaginären Raum, passiert. Ein Roman muss natürlich auf eine solche Technik nicht direkt zurückgreifen. Er könnte auch ganz direkt das Geschehen schildern. Aber durch eine solche Mauerschau kann man Dialoge einführen, die auf der einen Seite den Text lebendiger machen und auf der anderen Seite die Protagonisten stark in ihrer Umgebung verankern. Insofern ist diese Technik sehr empfehlenswert:
Dieser Neger besaß ein scharfes Sehvermögen und hatte das Schiff vom Mast aus mit bloßem Auge eher entdeckt, als es von Unger mit dem Fernrohr bemerkt worden war.
„Ist es die ›Landola‹?“, fragte Sternau.
„Das ist noch nicht zu entscheiden“, erwiderte Unger. „Aber nach der Stellung der Segel scheint es ein Kauffahrer zu sein. Ich werde auf ihn zuhalten lassen.“
Sie gingen an Deck und nahmen die Ferngläser zur Hand. Nach einigen Minuten bemerkten sie, dass der Dreimaster ebenso südlichen Kurs hatte wie sie, doch kamen sie schneller vorwärts als er, denn sie hatten sehr günstigen Wind und konnten das Segelwerk benutzen und damit die Dampfkraft unterstützen. Während sie so mit erhöhter Geschwindigkeit dahin schossen, stieß der Neger, der immer noch oben im Topp des Mastes hing, einen lauten Ruf aus, der halb wie Schreck und halb wie Überraschung klang.
„Was gibt's?“, rief Sternau hinauf.
„Noch ein Schiff, Massa!“, antwortete der Schwarze. „Da in West. Aber man kann es nicht gut sehen: Es hat schwarze Segel.“
„Schwarze Segel?", fragte Unger schnell. „Die hat kein anderes Fahrzeug als das des Kapitäns Landola!“
Er richtete das Fernrohr in die Gegend, die der Neger mit ausgestrecktem Arm angedeutet hatte, und sah nun ein zweites Schiff, das mit vollem Wind auf das erste zuhielt. Durch die dunkle Farbe seiner Segel konnte man es nur schwer erkennen.
„Er ist es wirklich!“, sagte endlich Unger erregt.
„Täuschen Sie sich nicht?“, meinte Sternau.
„Nein. Dieser Landola ist ein schlauer Schurke. Er hat zweierlei Segeltuch. Wenn er einen Hafen anläuft, so hängt er das weiße an, befindet er sich aber auf hoher See, braucht er das schwarze. …“

Der Raum im Gespräch

Gerade an Karl May kann man gut studieren, wie Räume in Dialogen auftauchen. Der Vorteil, wenn man eine Figur einen Raum schildern lässt, besteht darin, dass man zugleich die Figur über seine Absichten und seine Gefühle sprechen lassen kann. Damit hat man ein recht natürliches Ineinander von Körperraum und Seelenwelt.
Allerdings gibt es auch hier wieder deutliche Unterschiede. Während Karl May seine Figuren Räume schildern lässt, um zugleich Handlungen planen zu lassen, nutzt Joanne Rowling diese Form des Dialogs überhaupt nicht. Bei ihr sind Räume eher Gegenstände, die man öffnen oder verschließen, erreichen oder verlassen muss. Sie unterscheiden sich damit nicht von anderen Gegenständen. Selbst so besondere Orte wie die Heulende Hütte oder die Toilette der Maulenden Myrte, die Kammer des Schreckens oder das Bahngleis des Hogwarts-Express werden zwar außerhalb des Dialogs, aber nicht innerhalb beschrieben. Und sehr häufig sind die Räume bei Rowling durch ein besonderes Wesen oder einen besonderen Gegenstand dominiert. Der Rest des Raumes ist relativ unwichtig.
Natürlich sind Räume erst mal rein physikalisch Räume. Im Satz können sie aber einmal als Raum und einmal als Objekt behandelt werden. Diese sorgt bei manchen unerfahrenen Schriftstellern für reichlich Verwirrung. Als Objekt ist der Raum nämlich nur ein Stellvertreter für all die Gegenstände, die sich in einem Raum befinden. Und wenn es dann zu konkreten Handlungen kommt, sollte man diesen Raum eben auch mit konkreten Gegenständen gefüllt haben. Wenn ich den Raum direkt beschreibe, dann eigentlich nur, um seine Lage zu anderen Räumen präzise auszudrücken. Sobald ich aber zu dem Raum als Objekt überwechsle, muss ich ihn indirekt, über die Gegenstände in diesem Raum verdeutlichen.
Ihr könnt noch mal zu der Reisebeschreibung zurückgehen, die Karl May für die Fahrt seiner Dampfjacht gibt. Die Städte, die das Schiff ansteuert, sind hier keine Räume, sondern eben Objekte. Der Raum selbst wird durch die Geographie Europas und Afrikas vorgegeben, taucht aber nicht direkt auf. Auch das Meer ist natürlich ein Gegenstand, mit dem die Seefahrer zu kämpfen haben. Doch in diesem Fall verschwindet der Ozean gleichsam aus der Beschreibung, sobald die Schiffe auftauchen. Man könnte meinen, dass diese Schiffe nur noch für sich existieren, ganz ohne Wasser. Doch natürlich muss der Schriftsteller uns nicht deutlich machen, dass hier das Meer immer mitgemeint ist.

Die Planung

Texte lassen sich von sehr unterschiedlichen Blickwinkeln aus betrachten. Ich bin nun zwischen diesen verschiedenen Blickwinkeln immer wieder hin und her gehüpft. Wir können uns diese Blickwinkel jetzt aber noch einmal verdeutlichen: zum einen gibt es den Leser, zum anderen den Autor, dann gibt es einmal die erzählte Welt mit ihren physikalischen Tatsachen und einmal die erlebte Welt mit ihren Emotionen und Motiven.

Genaue Planung

Wenn ihr Räume schildert, dann solltet ihr bei der Planung solcher Räume immer etwas genauer vorgehen als ihr es dann tatsächlich im Roman braucht. Durch diese genaue Planung bekommen eure Räume in eurer Vorstellung einen Festigkeit, die sich auch in der Art und Weise niederschlägt, wie ihr dann die Handlungen in diesen Räumen schildert. Es geht gar nicht darum, dass ihr den Leser mit großer Detailkenntnis beeindruckt. So etwas langweilt meist. Die Übung ist eher dazu nützlich, dass ihr euch selbst sicher seid und dadurch eine Art und Weise zu schreiben entwickelt, die glaubwürdig ist. Hier müsst ihr eben zwischen dem, was ihr als Schriftsteller braucht, und dem, was der Leser lesen will, gut unterscheiden. Ihr braucht die Sicherheit und dadurch eine große Präzision, der Leser möchte eine Glaubwürdigkeit, und d.h. vor allem, dass keine logischen Fehler in der Handlung auftauchen.

Spannungsaufbau und die Verankerung der Geschichte

Als zweites solltet ihr beachten, dass eure Räume in den Handlungen nur indirekt auftauchen. Vermittelt werden diese Räume über die Gegenstände. Deshalb sollten eure Räume immer genügend Gegenstände enthalten, um eine Handlung zu tragen oder eine Atmosphäre auszudrücken. Ich möchte nun nicht noch einmal darauf herumreiten, aber da es mir häufig vorgeworfen wird, taucht dieses Thema immer wieder bei mir auf. Ihr werdet hier natürlich zu mir sagen: alles das, was du hier schilderst, ist doch eigentlich ganz selbstverständlich. Ist es ja eigentlich auch. Dass sich Gegenstände in einem Raum befinden, das ist nun eine so banale Tatsache, dass es albern klingt, dies noch einmal zu betonen. Nur: sobald wir den tatsächlichen Raum verlassen, also jenen, in dem wir leben, und sobald wir diesen Raum in einem Roman schildern, scheint das nicht mehr so selbstverständlich zu sein. Ich hatte in den letzten zehn Jahren oft damit zu kämpfen, wenig erfahrenen Schriftsteller zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, sich diese einfache Tatsache immer wieder vor Augen zu führen. Und gelegentlich findet man dann solche Geschichten auch tatsächlich bei den selfpublishern und, sobald diese Romane veröffentlicht sind, auch zahlreiche Klagen bei den Bewertungen. Der Roman ist langweilig, er reißt nicht mit, und schon kommt das Gegenargument des Autors: aber die Geschichte ist doch so spannend, lest doch einfach mal weiter, da passiert noch ganz viel. Tut es wahrscheinlich auch, und vermutlich könnte diese Geschichte tatsächlich unglaublich spannend sein. Aber der Autor starrt nur auf die großen Ereignisse, in die er seine Figuren hineintreibt. Ohne Frage sind diese notwendig. Doch was die Rezensenten eigentlich meinen und nur recht ungeschickt ausdrücken, ist, dass die Handlung keine Logik bekommt, weil eben die Räume und die Gegenstände fehlen. Es ist also nicht die dramatische Geschichte, sondern der Halt, den diese Geschichte in einer Welt bekommt, und damit natürlich auch in der Vorstellung des Lesers. Der Leser muss nicht zu einer noch spannenderen Handlung geführt werden, sondern zunächst zu den Bildern in seinem Kopf, Bilder eben, die er nachvollziehen kann und mit denen er leben möchte.

So konkret wie möglich

Drittens möchte sich der Leser natürlich auch mit den Figuren identifizieren. Und dazu muss aus dem physikalischen Raum ein emotional-volitiver werden. Es muss konkrete Gegenstände in konkreten Räumen für konkrete Bedürfnisse mit konkreten Zielen geben. Es reicht nicht aus, wenn ihr als Ziel des Romans im Kopf habt: Sandra findet die große Liebe. Ihr müsst die Situation schildern, für euch, und im Voraus, bevor ihr zu schreiben beginnt, mit wem Sandra nun zusammen ist und wie sich dieses Zusammensein konkret darstellt. D.h., dass sie am besten die erste gewöhnliche Situation plant, nachdem die eigentliche Geschichte zu Ende ist. Das ist nicht unbedingt eine Situation, die in eurem Roman auftauchen muss, denn euer Roman ist natürlich mit der Geschichte selbst zu Ende. Aber es kann trotzdem eben genau die Situation sein, auf die ihr hinschreibt.

Die Eifersucht des Schriftstellers

Bleibt also ganz konkret, vor allem auch für die Ziele und Wünsche eurer Figuren. Achtet bitte dabei auch darauf, was eure eigenen Ziele und Wünsche sind. Ein großes Problem ist immer wieder, wenn ein Schriftsteller für sich selbst nur sehr undeutliche Ziele besitzt. Man möchte irgendwie einen großen Roman veröffentlichen, berühmt werden, vielleicht auch nur seine Familie beeindrucken, oder etwas ähnliches. Aber all das sind eben sehr wolkigen Wünsche. Und natürlich dürft ihr die wolkigen Wünsche für euch selbst genau so haben. Dagegen ist nichts zu sagen. Für den Schreibprozess allerdings kann das hinderlich sein, weil hier allzu häufig im Hintergrund eine Art Eifersucht mitspielt. Weil ihr in eurem Leben eure Ziele nicht konkret machen könnt, erlaubt ihr das auch euren Figuren nicht. Wenn ihr nur eine Geschichte für euch selbst schreibt, dann könnt ihr dabei natürlich stehen bleiben. Aber ein Leser verzeiht eine Geschichte ohne ein konkretes Ziel nicht. Wenn euch eure Geschichte immer wieder entgleitet, dann denkt mal darüber nach, ob ihr vielleicht eifersüchtig auf eure Figuren seid und ihnen ihre Geschichte nicht gönnt.
Besser aber ist es, wenn ihr zunächst euer Leben selbst in Ordnung bringt, euch realistische Ziele setzt und Kompromisse schließt, mit denen ihr leben könnt, damit ihr mit solchen Lebensbedingungen Erfahrungen sammelt. Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert. Und auch das Leben eurer Protagonisten soll natürlich nicht nur Sonnenschein sein, damit es genügend Konflikte gibt, die eine Geschichte lohnenswert zu lesen machen.