16.02.2014

Jetzt dreht der Spiegel im Fall Edathy völlig durch

Aus dem Fall Edathy wird nun eine Staatskrise. Das jedenfalls lässt sich aus dem Titel des neuen Spiegels entnehmen. Und wie recht sie damit haben! Guillaume ist ja geradezu ein staataffairliches Mäuschen dagegen gewesen.

Man spricht ja gerne von falschen Schlussfolgerungen oder auch von der Verbrämung ungünstiger oder falscher Ergebnisse durch rhetorische Stilmittel. Tatsächlich passiert aber vieles schon im Vorfeld der Schlussfolgerungen, dort wo es um die Begriffsbildung und den Begriffsgebrauch geht.
Ich hatte in meinem letzten Video die Ausdünnung der Merkmale bei einem Begriff angeprangert, also die zunehmende Abstrahierung von wissenschaftlich bereits gut ausdifferenzierten Begriffen. Das ist allerdings nur die eine Seite. Mit dem Abstrahieren von Merkmalen wird ein Begriff in seiner Reichweite gleichzeitig auch ausgedehnt. D.h., er lässt sich auf wesentlich mehr Fälle anwenden als bei einer spezifischeren Definition.
Genau dasselbe scheint jetzt der Spiegel mit dem Begriff ›Staatskrise‹ vor zu haben. Staatskrise: das ist kein exakter Begriff. Hier spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle, so zum Beispiel die Schwere der Straftat, ihr Einfluss auf die politische Souveränität oder ihre massenmediale Beachtung.
Kinderpornographie wird nun juristisch (zu Recht) nicht als eine besonders schwere Straftat angesehen. Sexueller Missbrauch, schwere, körperliche Gewalt und Mord sind als schwerwiegender einzustufen. Trotzdem finde ich die Empörung bei Kinderpornographie richtig. Sie dürfte in ihren Argumenten dann besonnener sein, zumindest im Allgemeinen. Um einen Angriff auf die politische Souveränität handelt es sich hier allerdings nicht. Sollte Edathy sich tatsächlich strafbar gemacht haben, zeigt er eben genau jene Janusköpfigkeit, die Menschen gerne zeigen, wenn es um Sexualstraftaten geht. Der fürsorgliche Familienvater, der zugleich seine Tochter sexuell missbraucht: das gab es schon und das wird es wohl (leider) auch immer wieder geben. Ebenso die Mutter, die sich im Allgemeinen für das Kindeswohl engagiert und zugleich ihre Kinder emotional erpresst oder verwahrlosen lässt.
Ob es sich bei dem Angriff auf die politische Souveränität handelt? Friedrich dienstrechtliche Verfehlung ist mit Sicherheit ernst zu nehmen, aber letzten Endes kein deutlicher Verstoß gegen die Souveränität. Ernstzunehmen ist er natürlich auch deshalb, weil die Gewaltenteilung ein wichtiges Fundament für den demokratischen Staat ist. Das Wort Krise erscheint mir überzogen.
Rhetorisch gesehen nützen solche Skandalisierung, sei es im öffentlichen Bereich, sei es privat, dazu, den Handlungsdruck zu erhöhen und damit eine Beweisaufnahme zu verstümmeln. Meist geht das mit massiven persönlichen Interessen einher und soll im nächsten Effekt dazu führen, dass andere Parteien (hier im weitesten Sinne gemeint, also nicht nur politisch) überrumpelt und dadurch für die eigenen Zwecke missbraucht werden können.

Eine ganz wichtige Geburtsstunde meines politischen Bewusstseins war ein Zufallsfund von Beginn der neunziger Jahre. Damals hat ebenfalls ein schwerer Skandal (ich weiß nun nicht mehr, welcher) die Bundesrepublik erschüttert. Und weil dieses Buch das Wort „Skandal“ im Titel trug und, soweit ich mich erinnere, dann auch noch vergünstigt angeboten wurde, habe ich es mir gekauft. Und ich erinnere mich noch daran, dass sich dort einen Aufsatz von Dietrich Schwanitz befand, den ich sehr anregend fand. Das war wohl mein erster Kontakt zur Systemtheorie. Und vermutlich auch einer der wichtigen Momente in meinem Werdegang als Rhetoriker.

Will man das ganze etwas theoretischer fassen, dann muss man von einem Skandal als einem kommunikativen Ereignis ausgehen, dass sich nach verschiedenen Systemreferenzen trennen lässt. Und mit Systemreferenzen sind dann sehr klassisch die funktionalen Systeme gemeint, die Niklas Luhmann ausgearbeitet hat: Politik, Recht, Massenmedien. Und dabei muss man beachten, dass jedes dieser Systeme eine Eigendynamik entwickelt und ein eigenes Gedächtnis hat.
Das Gedächtnis des Rechtssystems ist streng gebunden durch Gesetze und Verfahrensordnungen. Das Gedächtnis der Politik organisiert sich sehr stark über die Besetzung von Ämtern und der Teilnahme an politischen Interaktionen, seien es solche im Bundestag, in Gremien oder in irgendwelchen windigen Hinterzimmern, dort, wo Bestechungsgelder fließen und massiver Lobbyismus betrieben wird. Schließlich ist das Gedächtnis der Massenmedien mal gut, mal schlecht und stellt sich unter das Leitbild von Skandalisierung und Sensation (Wahnsinn! Angela Merkel zum siebten Mal scheinschwanger! Ist Lanz der Vater?). Massenmedien und Justiz: das verträgt sich alleine von der Geschwindigkeit des Urteils schlecht.
Wenn das auch im Einzelfall aufstoßen mag, so ist die Entschleunigung von juristischen Urteilen eine der ganz positiven Aspekte der Demokratie. Zudem sollte man immer auch beachten, dass bei akuten Verstößen sehr rasch über das Gefährdungspotenzial entschieden wird und innerhalb weniger Stunden auch ein polizeiliches Gewahrsam angeordnet werden kann. Ein solches Gefährdungspotenzial lag im Fall Edathy zum Beispiel nicht vor und deshalb ist es auch unsinnig, hier der Justiz ein zu langsames Vorgehen vorzuwerfen. Im Fall Friedrich kann man das ebenso nicht behaupten.
Skandal: das ist dann wohl eine Erfindung der Massenmedien und ein Zeichen dafür, wie der Spiegel sich nicht mehr an der Aufklärung beteiligt, sondern dem raschen Verkauf gehorcht. Das schlechte Gedächtnis der Massenmedien steht nämlich dem fast nicht existierenden Gedächtnis des Wirtschaftssystems näher, als dem strikten Gedächtnis des Rechtssystems.

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