02.04.2014

Gruppendenken und dumme Entscheidungen

Sensibilität

Ich bin ja immer noch fasziniert von der Talkshow, in der Jörges und Lanz, ohne einander zu verstehen, aus reiner Oberflächlichkeit, ein so krudes Benehmen gegenüber Sarah Wagenknecht an den Tag gelegt haben. In der Zwischenzeit habe ich diesen ganzen Abschnitt der Sendung gründlicher rhetorisch analysiert. Nennenswerte Neuigkeiten sind dabei allerdings nicht entstanden, allerhöchstens eine größere Sensibilität, die man allerdings nur erreicht, wenn man selbst mit den Begriffen arbeitet. Man kann Sensibilität nicht beibringen. Man kann nur Menschen dazu ermutigen, über einen solchen Prozess, eine Arbeit mit Begriffen, sich eine solche selbst zu erweitern (es gibt auch keinen Abschluss der Sensibilität: sie ist im Prinzip immer offen für Neues).

Massenwahn und die déformation professionelle

Zwischendurch habe ich dann auch ein wenig an den Theorien von Massen, großen Menschenbewegungen, weitergearbeitet. Seit letztem Jahr besitze ich die Massenwahntheorie von Hermann Broch. Allerdings konnte ich sie bisher nur ganz flüchtig lesen. Ebenso fehlt mir Canetti. Sekundärliteratur? Pustekuchen.
Anknüpfungspunkte gibt es allerdings viele. Ich hatte ja vorletztes Jahr Die Gesetze der Nachahmung von Gabriel Tarde gelesen und dann auch gründlicher studiert. Von dort aus, so war mein Projekt, wollte ich mich mit Tausend Plateaus von Deleuze/Guattari beschäftigen, insbesondere mit den späteren Kapiteln und deren Theorie der Staatsformen. Mit sind dann Christa Wolf, Hanna Arendt und neuerdings Karl Jaspers dazwischengekommen.
Aber gut. Gerade werde ich wieder an diesen liegengebliebenen Faden erinnert. Daniel Goleman berichtet in seinem Buch Konzentriert euch! von solchen "wahnhaften" Gruppenprozessen. Diese basieren zunächst auf den Selbstüberschätzungen einzelner Menschen (S. 97 f.). Wenn solche Selbstüberschätzungen ganze Berufszweige oder Tätigkeitsbereiche ergreift, dann entstehen blinde Flecken im Gruppenprozess. Selfpublisher und Coaches sind dafür zum Teil sehr unangenehme Beispiele.
Max Frisch schreibt in seinem Homo faber von der déformation professionelle (Homo faber, S. 142). Mehr aber noch zeigt er, dass sich Walter Faber und Hanna Piper nicht verstehen, weil sie auf sehr unterschiedlichen Gebieten argumentieren. Sie können ihre Argumente nicht gegenseitig aufnehmen.

Metakognition

Ich erinnere immer wieder daran, wie wichtig die Metakognition ist. Goleman unterstreicht diese Wichtigkeit, diesmal aber nicht als ein zunehmendes Selbstbewusstwerden beim Lernen, sondern als Remedium gegen Selbst- und Gruppenblindheiten:
Um ans Licht zu bringen, was eine Gruppe in einem Grab aus Gleichgültigkeit oder Unterdrückung beerdigt hat, bedarf es der Metakognition - in diesem Fall des Bewusstseins für unser fehlendes Bewusstsein. Klarheit beginnt damit, dass wir erkennen, was wir nicht wahrnehmen - und dass wir nicht wahrnehmen, dass wir nicht wahrnehmen.
Goleman, Daniel: Konzentriert euch!, München 2013, S. 101
Metakognition ist nun
  1. metakognitives Wissen, also das Wissen um Denk- und Lernprozesse und um die Komponenten dieser Prozesse, also zum Beispiel Emotionen, Bedürfnisse, Formen der Aufmerksamkeit, die Entstehung von Motiven, Gedächtnisleistungen, etc.;
  2. metakognitive Fähigkeiten, also Handlungen, die uns beim Denken und Lernen helfen: dies kann ganz unterschiedliche Handlungen betreffen, wie zum Beispiel das Malen von Utopien, um uns unserer Ziele bewusst zu werden (und ebenso das Tagträumen), das free-writing, um uns besser unseres Gedankenstroms erinnern zu können, das Anlegen von Zettelkästen, um unsere Ideen zu ordnen, unsere Interessen zu systematisieren und eine gewisse Sättigung eines Themas zu erreichen, das zu komplex ist, um uns alle einzelnen Aspekte zu merken;
  3. metakognitive Erfahrung, die aus dem metakognitiven Wissen und seiner Umsetzung in die Praxis entsteht: dabei ist Erfahrung ganz klassisch zu nehmen als Erfahrungen mit Begriffen machen: diese betreffen uns selbst als kontrolliert und reflektiert werdende Denker und Lerner.
In Gruppen muss noch das Wissen um gruppendynamische Prozesse hinzukommen.

Umständliches Betrachten

Eine andere Sache, die ich häufig kritisiere, ist die fehlende Sammlung von Argumenten, bzw. die fehlende Anschauung, je nachdem, ob ich gerade in den Gefilden der Logik oder eher denen von Kant mich herumtreibe. Eine der Paralogismen, die aus solchen Mängeln entstehen, ist die Extrapolation. Zu der hatte ich schon oft hier auf diesem Blog geschrieben (links oben findet ihr ein Feld, in den ihr Suchbegriffe eingeben könnt: ich mag gerade keine Referenzartikel heraussuchen, da dieser Computer zu langsam ist).
Auch dazu schreibt Goleman:
Eine kluge Risikobewertung [er bezieht sich auf Finanzmanager] stützt sich auf eine weitgefasste, umfangreiche Datensammlung, die am Maßstab des Bauchgefühls überprüft wird; dumme Entscheidungen bauen auf einer zu schmalen Datenbasis auf.
S. 101

Controlling und risk points

Eine meiner allerersten Arbeiten als Textcoach (und in diesem Fall mehr als Ghostwriter) hatte eine Arbeit zum Controlling als Thema. Abgesehen davon, dass der betreffende Mensch durch Abwesenheit rechnerischer/mathematischer Fähigkeiten glänzte (aber dann schreibt man keine Arbeit über Controlling), verlangte er von den Zahlen, dass sie eine eindeutige Entscheidungshilfe böten. Die Zahlen müssen eindeutig sein, sagte er mehrmals.
Das allerdings ist ein ziemlicher Irrsinn. Im Controlling werden Daten so zusammengefasst, dass man auf Tendenzen schließen kann. Sie vereinheitlichen Werte, bei denen gerade Ausreißer signifikant werden können. Insofern bieten sie keinerlei Basis für eindeutige Entscheidungen. Ebenso wenig besagt eine aktuelle Folge von Zahlenwerten mit einer Tendenz, dass diese Tendenz sich in die Zukunft verlängert. Der Manager muss immer noch abschätzen können, wie wahrscheinlich es ist, dass hier beeinflussende Variablen eine Umkehr bewirken können. Dem wird auch eigentlich Rechnung getragen durch die Theorie der risk points, auch als risk tresholds oder influence tresholds bekannt.

Dominanzwechsel

Übrigens finden sich ähnliche Anmerkungen auf für historische und ontogenetische Prozesse. Bei historischen Prozessen könnte man Michel Foucault zu Rate ziehen. Bei ontogenetischen Prozessen hat die kulturhistorische Schule umfangreiche Analysen zu bieten. Dort heißt das übrigens Dominanzwechsel.
Damit wird jener Moment bezeichnet, in dem ein Phänomen innerhalb eines Prozesses dort seine hauptsächliche Bedeutung verliert und nun in einem bisher nebensächlichen Prozess eine sehr viel stärkere Rolle spielt. Man kann das sehr gut bei der Alphabetisierung beobachten. Oft geschieht es, dass Kinder noch am Zusammenziehen von Buchstaben sind und sich so Wort für Wort mühsam erlesen. Dann, von einem Tag auf den anderen, kippt dieser ganze Prozess um und das Wort wird nun von der Wortbedeutung her erfasst. Die Aufmerksamkeit richtet sich nicht mehr auf das Wort als Ergebnis sondern als Ausgangspunkt des Lesens.

Plurale Freundschaft

Ehrliche und ungewöhnliche Freunde

Schließlich plädiert Goleman dafür, auf ehrliche Art befreundet zu sein:
Aufrichtige Rückmeldungen von Menschen, denen wir Vertrauen und Respekt entgegenbringen, schaffen eine Selbstwahrnehmung, die uns vor einseitigen Informationen und fragwürdigen Annahmen schützen kann.
S. 101
Er erweitert diesen Vorschlag sofort durch eine Maxime:
Ein anderes Gegenmittel gegen das Gruppendenken lautet: Erweitere deinen Bekanntenkreis über die Zone des Angenehmen hinaus und schütze dich vor der Abschottung der Gruppe, indem du dir einen großen Kreis von außenstehenden Vertrauten schaffst, die ehrlich mit dir umgehen.
S. 101

Funktionalisierung

Das finde ich ganz wunderbar. Ich habe mich doch Anfang des Jahrtausends zu sehr von der Paranoia meiner Ex-Frau anstecken lassen. Die hat immer nur dann Freundschaften gesucht, wenn sie ihr nützlich waren. Manchmal waren das auch einfach Freundschaften, die deshalb funktioniert haben, weil diese Menschen mit ihr gelitten haben, dass sie gerade mal wieder das Opfer ist. Was dabei entstanden ist? Ich glaube nicht, dass es dieser Frau jemals gut gehen wird. Ich denke, dass sie implizit weiß, auf welchem Mist sie sich ihren "guten" Ruf aufgebaut hat. Und dass sie Angst davor hat, dass jemand diesen "guten" Ruf durchlöchern könnte.
Daher kommen vermutlich auch diese ganz paradoxen Haltungen ihrerseits: mich einerseits komplett aus ihrem Leben und ihren Entscheidungen herauszuhalten und andererseits verzweifelt bei mir anrufen und mir quasi zu befehlen, ihr zu helfen.
Ich kenne andere Menschen, die genauso ticken. Die nur mit Menschen befreundet sind, weil sie dort Ideen abgreifen können. Und die dann mit einem nichts mehr zu tun haben wollen, wenn sie eine solche als ihre eigene verkaufen. Vor ein paar Jahren war ich mal auf einem Trainertreffen, wo eine hingeschmissene Bemerkung über Paul Valéry dazu geführt hat, dass einige Monate später einer der Teilnehmer mit einer neuen Methode auftauchte, die sich auf Valéry berief. Er hatte sie sich patentieren lassen. Abgesehen davon, dass dies nur ein lächerlicher normierter Fragebogen war, den dann Manager zum Ende der Woche immer ausfüllen durften, fand ich diese Funktionalisierung ziemlich fragwürdig. Ich habe mich übrigens nicht missbraucht gefühlt, denn es war eine dieser Ideen, die mir an guten Tagen zu mehreren Dutzend kommen. Aber um den guten Valéry tut es mir echt leid.

Innen/außen

Es ist jenes alte Spiel zwischen innen und außen. Sagen wir es psychologischer: zwischen verinnerlichen und veräußerlichen. Was wir uns aus der Umwelt angeeignet haben, wandeln wir um, machen es uns als eine "natürliche" Basis zu eigen und nutzen es dann für unser Handeln, unsere Ausdrucksweisen. Darin unterscheiden sich persönliche Erlebnisse ebenso wenig wie wissenschaftliche Modelle und künstlerische Techniken.
Es dürfte auch klar sein, dass die Funktionalisierung auf einer falschen Einteilung beruht: sie verkauft als Inneres, was eigentlich außen ist. Eine andere Bezeichnung dafür ist: sich mit fremden Lorbeeren schmücken.
Das Heilmittel ist auch klar: es heißt Differenzierung. Wie der Controller oder Manager seinen Datenbestand differenziert, so müssen wir für unser Selbst vielfältige Freundschaften pflegen, um uns differenziert betrachten zu können. Und freilich: man darf dies nicht so nutzen, dass man diese Vielfalt dazu missbraucht, selbst eine Vielfalt vorzutäuschen.
Eine wichtige Fähigkeit in diesem Prozess ist die Metakognition. Diese schätzt ab, inwiefern wir uns in einem Gebiet auskennen, wo offene Lücken, Stellen des Unwohlseins liegen und wie wir diese beheben können. Auch Metakognition baut man mit Hilfe von Freundschaften auf, bzw. erweitert sie.
Der Massenwahn, den Goleman postuliert (und den ich in solchen Erscheinungen wie der Isolation und Vereinheitlichung nachgegangen bin), scheint ein erfahrungsloser Prozess zu sein. Wir lassen uns nicht mehr berühren, nicht mehr verunsichern, nicht mehr zum Nachdenken zwingen, sondern nutzen nur noch "Sachen" (und sei es Menschen). So etwas dürfte auch die beiden Herren Jörges und Lanz getrieben haben, dies auch den Herrn Matussek.

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