30.09.2014

Achtsamkeit (nicht nur für Autoren)

Da ich im Moment mal wieder meine ganzen Notizen zum Schreibcoaching durchgehe (eine Arbeit, die mich mittlerweile immer einige Wochen kostet), bleibe ich natürlich bei all den Problemen hängen, die meiner Ansicht nach noch nicht zufriedenstellend gelöst worden sind (ich lasse jetzt mal offen, ob nur nicht von mir, oder auch ganz allgemein).

Achtsamkeit und die Perspektive

Ganz zu Beginn meiner Selbstständigkeit hatte ich immer wieder das Problem, Kunden deutlich zu machen, was alles zu einer Ich-Perspektive dazu gehört. Ich dachte, dass das ganz einfach sei, da ja jeder Mensch die Erfahrung macht, in einem Körper drin zu stecken. Aber ganz so einfach ist das eben doch nicht. Noch heute empfinde ich viele deutsche Autoren als unterkühlt, geradezu emotionslos. Und manchmal ist das so schlimm, dass ich sogar einen Thomas Mann als Vorbild hinstellen würde. Man kann Thomas Mann nun nicht nachsagen, dass er eine besonders ausführliche Art und Weise besitzt, Emotionen zu schildern.

Osho

Mit der Achtsamkeit hatte ich mich schon einmal ausführlich auseinandergesetzt. Der Weg zu diesem Thema ist etwas verworren; er führt über Foucault und Wurmser. Schließlich bin ich bei Osho gelandet, jenem nicht-schreibenden Vielschreiber (seine Bücher wurden weitestgehend von Anhängern aufgezeichnet und zusammengestellt; sie waren also ungefähr das, was das Spracherkennungsprogramm für mich heute ist).
Osho schreibt:
„Ich sehe euch. Ich nehme euch wahr, einfach so. Könnt ihr mir folgen? Ich sehe euch einfach nur, ich denke nicht. Dabei kommt eine unvergleichliche Ruhe, eine lebendige Stille über mich, in der alles gesehen und alles gehört wird, aber innen regt sich nichts. Da ist keine Reaktion im Inneren, da sind keine Gedanken. Da ist nur Sehen. Rechtes Gewahrsein ist die Methode der Meditation. Du musst sehen, einfach nur sehen, was außen und was innen ist. Außen gibt es Objekte, innen Gedanken. Du musst sie betrachten ohne jede Absicht. Da ist keine Absicht, nur Sehen. Du bist ein Zeuge, ein unbeteiligter Zeuge, und du siehst einfach nur. Dieses Beobachten, diese Achtsamkeit, führt dich allmählich hin zum Frieden, zur Leere, zum Nichts, zur Freiheit von Denken.“
Osho: Das Buch des Ego, S. 384 f.

Schreibmeditation

Damals kannte ich aus Julia Camerons Buch Der Weg des Künstlers die allmorgendliche Schreibübung, die ich gerne, nach einer Paraphrase von ihr, die „unrühmliche Gedankenentleerung“ nenne. Das ist im Prinzip Freewriting, also das Schreiben von all dem, was einem gerade in den Sinn kommt. Die Schreibmeditation vertieft dieses Prinzip, indem man sich vorher durch eine einfache Meditationsübung in einen entspannteren Zustand versetzt. Wenn man dies häufiger macht, dann gelingt einem auch, dies anstelle einer Figur, eines Protagonisten zu tun. Und wenn eine Stelle im Roman nicht sinnlich genug ist, dann kann man sich durch eine solche Schreibmeditation gute Anregungen holen.

Achtsamkeitstraining

Thomas Metzinger schreibt in seinem Buch Der Ego-Tunnel etwas sehr ähnliches, auch mit den Begriffen der Achtsamkeit und der Meditation. In dem Kapitel ›Meditation und geistige Autonomie‹ schlägt Metzinger verschiedene Techniken zur Erhöhung der Achtsamkeit vor. Dies geschieht im Zuge einer Diskussion, was für die Schulbildung von der Neurophysiologie aus vorgeschlagen werden kann. Und ein zentraler Vorschlag von ihm ist die Einführung eines Meditationsunterrichts.
Schließlich folgert er:
„Es sieht im Moment so aus, als ob Befreiung immer nur innerweltliche Befreiung sein kann und Erlösung immer nur innerweltliche Erlösung. Es geht dann nicht mehr um ein Jenseits oder eine mögliche Belohnung in der Zukunft, sondern immer nur um den geliebten Augenblick der Achtsamkeit, im Moment des Mitgefühls, um das aktuelle Jetzt. Wenn es so etwas überhaupt noch gibt, dann ist der eigentlich sakrale Raum immer nur das bewusst erlebte Jetzt.“ (401)

29.09.2014

Romane schreiben wie Stephen King - »Grandioser Hauptdarsteller«. Teil II

Und weiter geht es mit meinem Kommentar zu Stephan Waldscheidt, der zum Spannungsaufbau bei Stephen King geschrieben hat.
(Meinen ersten findet ihr hier: Albtraumhafte Szenerien.)

Rücksicht auf die Darstellbarkeit

Eine Bemerkung vorneweg: ich habe einige meiner Gedanken sehr knapp, manchmal auch in deutlicher Opposition zu Waldscheidt formuliert. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass wir dasselbe meinen. Mein Vorbehalt gegen seine Art der Darstellung kann natürlich umgedreht werden und zu einem Vorbehalt gegen meine Art der Darstellung werden. Es wird manchmal sehr unterschätzt, was der Stil eines Autors zur Vermittlung beiträgt. Und manchmal hilft es tatsächlich, dieselbe Sache aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln dargestellt zu bekommen.
Dass ich hier etwas kürzer und scheinbar dogmatisch formuliere, ist nicht nur Bequemlichkeit (das aber auch). Dies soll vor allem bestimmte Blickwinkel deutlich machen. Ich könnte natürlich auch alles mit weiteren Möglichkeiten und Ausnahmen anreichern. Aber das würde die Darstellung eindeutig überfrachten.
Waldscheidts zweiten Tipp finde ich übrigens am kritischsten, denn Shining bietet meiner Ansicht nach wenig Halt dafür, den Protagonisten als grandios zu bezeichnen.

Grandiose Hauptdarsteller

Psychologisierung

Bevor ich auf Waldscheidts Tipps zurückkomme, möchte ich einige ganz allgemeine Sachen sagen.
Achtet darauf, dass ihr Romane schreibt, keine psychologischen Abhandlungen. Wenn ihr eine Erzählung geschrieben habt, dann überprüft bei der Überarbeitung, wie viele Fachbegriffe der Psychologie ihr verwendet habt. Schreibt nicht:
Peter schien für den Ausflug richtig motiviert.
Schreibt bitte:
Peters Augen begannen zu glänzen. »Dann packe ich mir am besten gleich die Badehose ein. Wir gehen doch schwimmen, oder?«
Show, don’t tell! - Das ist immer noch einer der besten Tipps, die man Schriftstellern geben kann.

Nebenfiguren

Hattet ihr das schon mal, einen Roman, in dem es eigentlich nur drei Hauptfiguren gibt und niemanden sonst? Man mag es sich kaum vorstellen, aber es gibt sie. Sofern ihr allerdings nicht gute Gründe habt, die Zahl eurer Personen zu beschränken, nutzt doch bitte Nebenfiguren.
Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Stephen King-Leser an den Apotheker, der Eddie das Asthmaspray verkauft und ihm irgendwann erzählt, es sei nur Wasser, obwohl Eddie glaubt, er könne nur durch diese Medizin atmen und leben. Eigentlich ist dieser Apotheker eine ganz nebensächliche Figur. Aber für den Konflikt, in dem Eddie steckt, ist er enorm wichtig. Und mehr als eine Abhandlung über Hypochondrie macht dieser Apotheker deutlich, wie sehr Eddie in der Beziehung zu seiner überbehütenden und überängstlichen Mutter gefangen ist.
Wann braucht ihr solche Nebenfiguren? Immer dann, wenn ihr merkt, dass ihr als Autor zu viel erklären müsst. Es ist nie gut, wenn sich der Autor in seinen Roman einmischt. Lasst es einfach eine Nebenfigur sagen, in Form eines weisen Rates, den eine Zufallsbekanntschaft im Bus gibt, sei es, dass der Protagonist seinen Ärger versucht an einer Bäckerin auszulassen und diese ihm die passenden Widerworte gibt, sodass der Protagonist anfängt, über seine Situation nachzudenken, sei es, dass ein geschichtliches Ereignis von einem lokalen Journalisten geschildert wird, sodass der Autor nicht eine Rückblende einschieben muss.
Denkt also über die Funktion von Nebenfiguren nach. Oftmals machen sie das Geschehen lebendiger und bringen neue, nebensächliche Konflikte in die Geschichte, was für den Spannungsaufbau hervorragend ist.

Wirklich etwas wollen

Auch das ist ein Knackpunkt, gerade für Menschen, die frisch angefangen haben zu schreiben. Ein junger Autor will natürlich seinen Roman fertigschreiben. Er hat ein enormes Bedürfnis dazu. Er ist aufgeregt. Er entdeckt (in sich) eine ganz neue Welt. Und das ist wunderbar!
Was er darüber leider vergisst: sein eigener Wille ist noch nicht der Wille des Protagonisten. Leser lieben Protagonisten, die dringend etwas brauchen, die ein starkes Motiv haben. Das muss zwar nicht immer so sein (denken wir zum Beispiel an die Helden Murakamis oder Tschechows), doch häufiger finden wir (auch in der klassischen Literatur) starke Motive bis hin zur Obsession.
Es ist eine Frage der Übung, den eigenen Willen, einen Roman zu schreiben, und den Willen des Protagonisten, der ein ganz anderes Bedürfnis haben kann, auseinanderzuhalten. Es ist aber auch nicht so schwer, denn die unterschiedlichen Motive unterschiedlicher Menschen zu berücksichtigen lernen wir von Kinderbeinen auf. Und da wir das geschafft haben, können wir das auch für den Roman erreichen.

Was bedeutet grandios?

Ich gebe zu, dass ich dieses Wort recht schlampig finde. Ich mag den Roman Shining sehr. Ich mag auch den Film von Stanley Kubrik gerne. Für mich haben diese beiden Geschichten aber wenig miteinander zu tun. Sie sind einfach zu unterschiedlich. Der sehr emotionale und persönliche Stil Kings passt so gar nicht zu den statischen und unterkühlten Bildern von Kubrik. Beide Male ist die Geschichte nur deshalb gut, weil sie diese sehr unterschiedlichen Ausdrucksweisen transportiert. Wenn man sich die Geschichte selbst betrachtet, so ist sie beinahe so banal, dass es sich kaum lohnen würde, sie zu erzählen.
Aber das soll gerade nicht unser Thema sein. Was macht Jack Torrance grandios? Er ist kein Held, er ist noch nicht einmal wirklich sympathisch. Was ihn so einzigartig macht, das ist sein Facettenreichtum. Wir treffen gleich zu Beginn des Romans auf einen Menschen, der im Begriff ist zu scheitern. Es ist ein Mensch, der eine außergewöhnliche Erfahrung sucht, weil er insgeheim sein Leben für bedeutungslos hält. Wir sehen, in welcher Hassliebe er an seine Familie gebunden ist, die er braucht, weil sie ihm eine Basis gibt, und die er hasst, weil sie ihn fesselt.
Insofern kann ich Waldscheidt auch nicht folgen, wenn er behauptet, dass erst Jack Nicholson Torrance unverwechselbar mache. Es mag sein, dass das auch ein wenig an der Übersetzung liegt (tatsächlich sind viele Stephen King-Bücher nicht gut übersetzt, jedenfalls nicht so bedeutungsreich, wie ich sie im englischen Original empfinde).

Ein reiches Innenleben

Was bedeutet also grandios? Und hier ist Stephen King tatsächlich vorbildlich. Es bedeutet zunächst, dass die Figuren ein reiches Innenleben haben. In vielen Romanen wird dieser innere Reichtum einer Figur noch dadurch erhöht, dass King die Perspektive wechselt und so die ganzen Widersprüche bestimmter Situationen, ihre ganze Konflikthaftigkeit vor dem Leser ausbreitet.
Was aber bedeutet nun ein reiches Innenleben? Ich hatte oben geschrieben, dass Psychologisierungen ganz grässlich sind und dass der Autor sich davon fernhalten soll. King nutzt deshalb häufig drei Textmuster, die seine Romane zur Ich-Erzählsituation gehörig machen: es gibt bei ihm immer wieder kurze Einschübe des Bewusstseinsstroms. Wir erleben hier gleichsam das Denken einer Figur, ohne Beschönigungen und ohne Rücksicht auf die Grammatik. Im Text sind diese Einschübe häufig kursiv wiedergegeben, sodass sie für den Leser optisch erkennbar sind. Dann fasst King aber auch diese Gedanken zusammen, halb aus der Innenperspektive, halb aus der Sicht eines auktorialen Erzählers. Diese Einschübe wirken (auf mich) weniger dramatisch. Schließlich und drittens schildert King körperliche Reaktionen und zwar abseits von jenem klischeehaften „ihm rutschte das Herz in die Hosen“ oder „ihm pochte das Blut in der Schläfe“. Hier lohnt es sich tatsächlich, einen Roman von Stephen King gut zu studieren.

Konkret, konkret und noch einmal konkret

Grandios bedeutet aber auch, dass die Personen konkrete Handlungen ausführen mit konkreten Dingen. Seine Figuren haben etwas zu tun. Und nichts anderes schildert er. Schauen wir uns einfach eine solche konkrete Stelle an:
„Es war Ende März und warm genug zum Radfahren, aber die Witcham Road war unterhalb der Bowers-Farm noch nicht geteert, was bedeutete, dass sie im März eine einzige Schlammgrube war - Radfahren war nicht zu empfehlen.
»Hallo, Nigger«, sagte Henry, als er grinsend hinter den Büschen hervorsprang.
Mike wich etwas zurück und hielt blitzschnell Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit. Wenn es ihm gelang, einen Haken zu schlagen, so würde er Henry abhängen können, das wusste er. Henry war groß und stark, aber er war zugleich auch ziemlich langsam.
»Ich werd‘ mir mal ‘n Teerpüppchen machen«, rief Henry, während er auf den kleineren Jungen zukam. »Du bist nicht schwarz genug, aber dem werd‘ ich jetzt mal abhelfen.«
Mike drehte Kopf und Oberkörper etwas nach links, und Henry schluckte den Köder und rannte in diese Richtung. Blitzschnell wandte sich Mike mit natürlicher Geschmeidigkeit nach rechts, und er wäre mit Leichtigkeit an Henry vorbeigekommen, wenn der Schlamm ihm nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Er rutschte aus und fiel auf die Knie. Bevor er wieder auf die Beine kommen konnte, fiel Henry über ihn her.“ (Es, 691)
Wir sehen: konkrete Probleme und konkrete Hindernisse, Dialoge, Gedanken und konkrete Handlungen.

Sich mit einem Protagonisten identifizieren

Das liest man häufig: jemand konnte sich mit einem Protagonisten identifizieren, jemand konnte es nicht. Was aber bedeutet das? Ich mache mir darüber seit Jahren Gedanken. Ich glaube heute, dass man das nicht so ganz genau erklären kann und auch nicht wirklich in eine richtige Technik packen sollte. Menschen identifizieren sich aus ganz unterschiedlichen Gründen mit Romanfiguren und auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Wer sich in diesem Moment für eine Romanfigur begeistern kann, dem gelingt es vielleicht ein Jahr später gar nicht mehr. Und wer einen Roman anfängt, gründlich zu lesen, wird merken, wie sich seine eigenen Leidenschaften und sein eigenes Mitgefühl für die Figuren nach und nach verschiebt und andere Qualitäten annimmt.
Trotzdem kann man hier einige Tipps geben: der Protagonist ist kein Übermensch oder Gott. Das kann er auch nicht sein, wenn er ein echtes Bedürfnis hat, das er im Roman lösen möchte. Allzumächtige Protagonisten wirken nicht nur unglaubwürdig; viel schlimmer ist, dass sie überhaupt keine richtigen Handlungen ausführen müssen, um ihre Ziele zu erreichen. Und es ist auf jeden Fall besser, eine gewöhnliche Figur ins Auge zu fassen, um eine spannende Handlung aufzubauen.
Wir Leser können gewöhnlichere Motive besser nachvollziehen als ungewöhnliche, einfach, weil wir selbst in unseren Tagträumen solchen Plänen nachhängen. Dadurch gelingt uns leichter eine Identifizierung.

Charakter und Plot

Insofern ist Waldscheidts Tipp sehr zweideutig. Wenn er zum Beispiel schreibt:
Aber versuchen, Ihren Protagonisten aus der Masse zu heben, das zumindest sollten Sie.
Es ist aber klar, dass der Protagonist immer aus der Masse hervorsticht, einfach, weil er im Mittelpunkt eines Romans steht. Weder muss er dazu außergewöhnliche Eigenschaften besitzen, noch muss er besondere Auffälligkeiten vorweisen (es mag Zufall sein, aber vor ein paar Jahren habe ich mehrere Romane hintereinander gelesen, in denen alle weiblichen Figuren, die eine größere Rolle spielten, Schönheitsflecken besaßen: das finde ich nun furchtbar lächerlich, da mir im realen Leben noch nie eine Frau begegnet ist, die einen Schönheitsfleck hatte).
Waldscheidt formuliert dann eine Ausnahme:
Ausnahme: In Ihrem Roman steht der Plot so eindeutig im Vordergrund, dass ein dominanter Charakter ihm die Schau stehlen würde.
Mir ist nicht klar, was mit dominanter Charakter gemeint ist. Mir ist auch die Trennung nicht klar. Eine Erzählung handelt von Personen, die handeln. Personen und Handlung, Charakter und Plot: das lässt sich nicht auseinanderdividieren, es sei denn, man schreibt psychologische Abhandlungen. Dazu bitte ich noch einmal den Abschnitt über die Psychologisierung zu lesen.

Konkret, zweite Lieferung

Bleibt also konkret. Eure Protagonisten haben mit realen Gegenständen in einer realen Umwelt zu tun, sie sprechen reale Sätze mit realen Personen und sie machen Sachen mit realen Handlungen aufgrund realer Motive.
Nun muss ich allerdings ein Stück weit zurückrudern. Es gibt zahlreiche Gründe, von dieser Regel abzuweichen. Weniger wichtige Zeiten im Leben eines Protagonisten sollten auch weniger Raum im Roman einnehmen. Es mag sein, dass diese Zeiten trotzdem geschildert werden müssen. Aber dann kann der Autor eine Zusammenfassung nehmen und so dem Leser umständliche Beschreibungen ersparen, die keine neuen Informationen mit sich bringen. Natürlich gibt es auch sehr kunstvolle Techniken, um aus einem Roman eine halbe philosophische Abhandlung zu machen. Natürlich ist dann der Roman nicht mehr auf eine spannende Erzählung fixiert, sondern bedient sich anderer Ausdrucksweisen, um bestimmte Ideen auszudrücken. In humorvollen Romanen wiederum findet man Einschübe von ganz fremden Textmustern. Im Käpt‘n Blaubär von Walter Moers sind dies zum Beispiel die Lexikoneinträge. Stephen King nutzt gelegentlich „Zeitungsartikel“, die eine bestimmte Situation aus einer scheinbar objektiven Sicht schildern. Auch dort haben wir es nicht mit konkreten Handlungen zu tun, jedenfalls nicht immer.
Es gibt also gute Gründe, von der Regel, konkret zu bleiben, abzuweichen.

Abstraktion

Nebenbei bemerkt: irgendjemand auf Facebook meinte mal zu mir, er hätte einen guten Grund: ich hätte ihn doch eben genannt. Unsere Unterhaltung ging folgendermaßen: er hatte zuvor über einen anderen Schriftsteller gelästert und sich selber als besonders hochwertigen Autor angepriesen; ich habe ihm dann gesagt, dass seine Geschichten völlig abstrakt seien; woraufhin er (in diesem Fall sogar richtigerweise) auf ein Beispiel hinwies, bei dem man einfach nicht konkret sein konnte. Also habe ich ihm erklärt, dass es natürlich auch Ausnahmen von dieser Regel gäbe. Das hat ihn zu der Bemerkung veranlasst, dass sein Roman ja auch eine Ausnahme sei. Doch natürlich darf man nicht flächendeckend in einem Roman abstrakt bleiben. Einzelne Passagen: das ist in Ordnung, aber auch hier sollte sich der Schriftsteller darüber Gedanken machen, was diese Passage dort zu tun hat.
Dass also die Abstraktion erlaubt ist, ist noch keine Begründung für sie. Die Begründung muss aus dem Ausdruck kommen, die der Schriftsteller seinem Roman geben möchte. Nur der Ausdruck kann die Abstraktion notwendig machen, nicht die Möglichkeit, abstrakt zu schreiben.

Sinnlich und plastisch

Nicht die Einzigartigkeit eines Charakters ist wichtig. Ein wenig fahrlässig lobt Waldscheidt die schauspielerischen Leistungen von Jack Nicholson, was ich durchaus nachvollziehen kann, denn er ist ein grandioser Schauspieler. Aber genau deshalb sollte man auch solche Beispiele im Hintergrund lassen. Gerade junge Autoren schüchtert das ziemlich ein. Und seien wir ehrlich: die meisten großen Figuren der Literatur sind keine grandiosen, noch nicht einmal grandios geschilderte Figuren. Auch Autoren wie Thomas Mann oder Vladimir Nabokov kochen gelegentlich mit Wasser aus dem Dorfbrunnen.
Viel wichtiger ist, dass eine Figur konkret ist. Ein Zimmermädchen, das reale Existenzängste hat, weil ihr realer Vermieter sie tatsächlich aus der Wohnung schmeißen möchte, während ihr Chef sie um das Gehalt betrügt, und die sich aus Verzweiflung mit einem zahlenden Mann einlässt, das ist doch allemal eine spannendere Geschichte als ein übermächtiger Held, der seine Probleme mit einem Fingerschnipsen löst, der aber keine Waschmaschine, keinen Herd und auch kein Portemonnaie zu kennen scheint.

Dritter Teil: Langsame Entwicklung des Plots

28.09.2014

Literaturkritik

Manchmal ist man überrascht, was Menschen von sich geben. Diesmal hat es mich besonders getroffen. Zu meinem letzten Beitrag kommentierte Helmi Schäfer. Ich kenne Helmi aus früheren Zeiten als kompetenten und fachlich versierten Redakteur. Sein eigener Blog (den ich gerade nicht finde, weshalb ich nicht verlinken kann) ist ein netter Plausch; was noch kein Qualitätsurteil wäre. Aber seine Texte haben einen schönen Hintersinn, der mal weise, mal ironisch, mal sarkastisch ist, und dazu braucht es Erfahrung und Kultur.

Trotzdem fragt er mich gerade allen Ernstes, ob ich Literatur überhaupt beurteilen könne.
Nun, formal gesehen kann sogar jeder Mensch Literatur beurteilen. Die Frage ist, wie haltbar dieses Urteil ist. Und wenn man davon ausgeht, dass die Qualität der Literatur wohl einer der unklarsten Begriffe ist, die es gibt, dann muss man ein Urteil über ein Buch eher danach einschätzen, ob es fruchtbar ist und ob man durch dieses Urteil einen anderen Blick auf ein Buch gewinnt.

Ich könnte jetzt natürlich auch einwenden, dass ich Literaturwissenschaftler bin. Könnte ich, empfände ich das als eine Aussage über die besondere Qualität, die in einem literaturwissenschaftlichen Urteil steckt. Nur: Literaturwissenschaftler verstehen zwar gelegentlich enorm viel von Literatur, aber nicht immer etwas vom Schreiben. Die Chance, dass man auf einen Literaturwissenschaftler trifft, der auch schreiben kann, ist groß, aber nicht die Regel.
Das liegt auch daran, dass die Interpretation von Literatur eine andere Tätigkeit ist als das Schreiben eines Romans. Uwe Johnson zum Beispiel hat herzlich wenig Ahnung von der Literaturwissenschaft. Aber was hat er für großartige Romane geschrieben.

Also ein kleiner Tipp für die Literaturkritik: Natürlich müsst ihr Romane beurteilen. Schließlich braucht ihr einen eigenen Standpunkt zu einem Roman. Aber nehmt euer Urteil bitte nicht so ernst.

Und ein Tipp für alle die, die schreiben lernen wollen:
Selbst an einem schlechten Roman kann man immer noch etwas lernen. Ihr lernt, indem ihr eure Urteile präzise ausformuliert, am Text selbst. (Urteile wie "doof" oder "langweilig" sind allerdings nicht erlaubt: sie sind zu unpräzise.)

Romane schreiben wie Stephen King — »Albtraumhafte Szenerie«. Teil I

Stephan Waldscheidt, seines Zeichens Autor und Lektor, schreibt ganz nützliche Bücher. Ich jedenfalls mag sie gerne und wenn ich, neben allgemeinen englischsprachigen Schreibratgebern, deutsche Ratgeber empfehlen sollte, dann sind diese durchaus mit dabei (falls ihr mich aber wirklich fragt, wer hier meine erste Wahl ist, so empfehle ich lauter Autoren, die ich den meisten Menschen dann lieber doch nicht empfehle; es sind eben meine Autoren und eigentlich auch keine Schreibratgeber mehr).
Nun gut, seine Titel sind immer etwas reißerisch. Aber nach Freys Wie man einen verdammt guten Roman schreibt hat ja bisher auch noch niemand einen verdammt guten Roman geschrieben. Es gehört eben etwas mehr dazu, als nur ein Buch zu lesen, das Schreibtipps enthält.

Vier todsichere Möglichkeiten, Ihren Roman zu verbessern

Wo wir bei reißerischen Titeln sind: eben zitierter ist so einer. Waldscheidt hat ihn vor einigen Tagen auf seinem Blog veröffentlicht. Bitte lest erst seinen Artikel, denn alles, was jetzt folgt, ist meine Antwort darauf.
Meine Antwort ist keine Kritik. Sie ist eine Art Übersetzung. Und natürlich entsteht diese Übersetzung aus einer Kritik. Vermutlich wird aber meine Argumentation etwas überraschen. Ich habe nämlich den Eindruck, dass Waldscheidt seinen Begriffen mehr Präzision zumutet, als diese hergeben. Dadurch erreicht er zwar klarere Aussagen, aber die Reichweite dieser Aussagen ist sehr begrenzt. Welchen Effekt hat das? Vermutlich werden sich viele Leser in den Artikeln von Waldscheidt gut beraten fühlen; andere aber wieder nicht. Diese brauchen, um das nachzuvollziehen, was Waldscheidt schreibt, andere Worte und andere Beispiele.
Nichtsdestotrotz sind die Artikel gut, auch dieser. Deshalb noch einmal meine Aufforderung: lest diesen zunächst.

Schreibtipps und die Textur

Zu den Ausführungen Waldscheidts habe ich mir nun Notizen gemacht, die ich umfangreicher darstellen werde. Da ich bereits für den ersten Tipp fünf Seiten geschrieben habe, werde ich zunächst nur diesen veröffentlichen, wobei sich bereits hier Verbindungen zu den anderen Tipps ergeben. Das ist ganz normal, auch wenn es den Textcoach und Lektor vor die Aufgabe stellt, Schreibratgeber so zu gestalten, dass sie immer einzelne Übungsfelder ins Auge fassen, aber das gesamte Gewebe, die Textur nicht aus dem Blick verlieren. Im Blick jedenfalls steht zunächst das Setting.

»Albtraumhafte Szenerie«

Was ist ein Setting?

Ähnlich wie der Plot, so hat sich mittlerweile der Begriff des Settings in einen sehr undeutlichen Gebrauch aufgelöst. Waldscheidt schreibt:
Es lohnt sich, viel Grips und Ideen in ein stimmiges und einzigartiges Setting zu investieren. Das Setting ist viel mehr als nur der Schauplatz. Es können auch die Epoche dazu gehören, die Gesellschaft, die komplette Umwelt mit allen ihren Variablen.
Das ist nun irgendwie richtig, aber auch schon wieder komisch. Denn natürlich ist das Setting auch an einen Ort und an eine bestimmte Zeitepoche geknüpft. Ein Setting, so lässt sich ganz schlicht erst mal definieren, beschreibt die Bedingungen, unter denen eine Geschichte stattfindet. Dazu gehören ganz grundsätzlich die Orte, an denen eine Geschichte spielt, eine bestimmte Zeit, eventuell politische Bedingungen, wesentliche Figuren, die in einem Fantasyroman noch durch verschiedene Wesen und Völker ergänzt werden, usw.

Orte

Wenn Waldscheidt schreibt, der Protagonist müsse einen emotionalen Bezug zum Setting haben und dies durch einen Ort der Kindheit oder den Schauplatz eines Verbrechens illustriert, verwechselt er tatsächlich das Setting mit dem Ort.
Da wir gerade bei Stephen King sind, kann man dies auch mit einem seiner Romane illustrieren. Ein großer Teil des Horrorklassikers Es ist im Jahr 1957 angesiedelt, ein für Stephen King sehr wichtiges Jahr. Er erzählt einmal, wie er im Kino gesessen hat. Er war damals noch ein kleiner Junge. Plötzlich stoppte der Film und das Licht im Saal ging an. Der Betreiber des Kinos trat vor die Leinwand und berichtete mit bebender Stimme, die Russen hätten gerade den ersten bemannten Raumflug erfolgreich begonnen. Dies war der sogenannte Sputnik-Schock. Im Roman spielt der keinerlei Rolle. Dafür aber die Atmosphäre dieses Jahres und natürlich zahlreiche größere und kleinere kulturelle Begebenheiten, die Jugendmusik der damaligen Zeit, die frühen Formen der Hippie-Revolte, usw.
Ein Ort und ein Setting ist nicht das gleiche.

Idyllen, die zum Teufel gehen

Manchmal aber bekommt man tatsächlich den Eindruck, dass ein bestimmter Ort und das Setting deckungsgleich sind. Und gerade hier macht uns Stephen King die Verwechslung leicht. Zahlreiche Romane von ihm spielen in einem sehr begrenzten Raum, oftmals einem abgelegenen Dorf, manchmal einer Insel, der Station einer Highway-Polizei oder in einem von der Umwelt abgeschnittenen Hotel.
In diesem Fall werden solche Orte gebraucht, um eine Idylle zum Teufel gehen zu lassen. In der Geschichte findet der Leser einen Protagonisten, der zwar kein konfliktloses, aber doch recht alltägliches Leben führt. Dann bricht allerdings die Katastrophe herein. Plötzlich wird alles infrage gestellt, was vorher passiert ist. Dies hatte ich zum Beispiel für den Film Dante‘s Peak analysiert. Selbst in Romanen, die man nicht der Spannungsliteratur zurechnen würde, dringen verborgene Mächte ein, um eine relativ stabile Situation in Bewegung zu bringen. In Murakamis Mister Aufziehvogel ruft eine seltsame Frau an, eine Katze verschwindet und eine andere seltsame Frau erzählt seltsame Dinge, die den Protagonisten beunruhigen und auf eine befremdliche Reise schicken.
In Horrorromanen findet man die Idylle, die massiv gestört wird; in anderen einen banalen oder unglücklichen Stillstand, der aus dem Gleichgewicht gerät und so den Protagonisten neue Wege eröffnet.
Manchmal also spielt ein bestimmter Ort eine so wichtige Rolle, dass er mit dem Setting verwechselt wird; häufig aber gibt es Beziehungen in eine Epoche hinein, sodass die ganze Atmosphäre des Romans von dieser Epoche bestimmt wird.

Muss ein Setting einzigartig sein?

Nein, natürlich nicht. Es ist ein etwas unglücklich gewähltes Wort. Was Waldscheidt hier wirklich meint, ist, dass das Setting konkret sein muss. Wir brauchen für einen Ort echte Orte als Vorlagen, Bilder, Bilder von typischen Gegenständen, zumindest aber gute Beschreibungen. Warum aber brauchen wir das für einen Roman, als Autoren genauso wie als Leser? Nur an einem konkreten Ort kann ich eine Wahrnehmung sinnlich machen oder einen Text so gestalten, dass er eine konkrete, sinnliche Umwelt vorstellbar macht. Nur an einem konkreten Ort kann ich auch konkrete Handlungen schildern.

Die allegorische Bedeutung I: Der Buick

Es gibt aber auch noch eine andere Sache, die Waldscheidt gleich mitmeint und die sich an den Romanen von Stephen King besonders gut verdeutlichen lässt. Die Orte, die Stephen King auswählt, haben oft eine allegorische Bedeutung. Genauer müsste man allerdings sagen, dass sie zusammen mit der Handlung eine allegorische Bedeutung besitzen. Nehmen wir zum Beispiel den Roman Der Buick. Hier finden Polizisten einen verlassenen Buick vor einer Tankstelle. Dieser besitzt seltsamerweise keinen Motor. Sie schleppen ihn ab und deponieren ihn bei sich auf dem Hof. Dann entdecken sie, dass dieser Buick von Zeit zu Zeit Monster ausspuckt, die allerdings in der Luft nicht scheinen atmen zu können und deshalb rasch sterben. Zu Beginn ist der Buick noch relativ häufig aktiv. Doch je länger er auf dem Hof steht, umso seltener werden die unheimlichen Ereignisse. Am Ende des Romanes entdecken die Polizisten erste Risse in dem Auto. Es zerfällt.
Ich hatte an anderer Stelle bereits einmal geschrieben, dass man den ganzen Roman als eine Allegorie auf das Leben eines Horrorschriftstellers lesen könne. Der Buick ist eine Metapher für den Horrorschriftsteller selbst. Dass er von Zeit zu Zeit Monster ausspuckt, ist eine Metapher für seine Veröffentlichungen (die Horrorbücher) und dass dies immer seltener geschieht, ist eine Metapher für die nachlassenden Kräfte.

Die allegorische Bedeutung II: die flächendeckende Metaphorisierung

Als Allegorie versteht man eine flächendeckende Metaphorisierung. Flächendeckend meint, dass sie einen ganzen Text umfasst (manchmal allerdings auch nur einen Abschnitt eines Textes). Das Besondere dieser Metaphern ist, dass sie miteinander zusammenhängen. So wie der Buick, die Monster, die Polizisten und gewisse Personen, die im Roman auftauchen, miteinander eine Geschichte bilden, so hängen die einzelnen Metaphern miteinander zusammen, um gemeinsam eine Idee auszudrücken.
Der Zauberberg von Thomas Mann kann ebenfalls als eine solche Allegorie gelesen werden: das einsame Lungensanatorium mit seinen zum Teil tatsächlich sehr kranken, zum Teil nur hypochondrischen Gästen, die einzelnen, sehr typischen Figuren (man erinnere sich nur an den leicht spöttischen, nur geduldeten Humanisten Settembrini und den nihilistischen, mit einem scharfen, zynischen Verstand ausgezeichneten Naphta), die seltsamen Vorgänge in diesem Sanatorium, von den psychoanalytischen Deutungen über die seltsamen Lustbarkeiten, bis hin zu jener spiritistischen Sitzung; all das beschreibt allegorisch die Atmosphäre einer Gesellschaft, die durch den Beginn des Ersten Weltkriegs dem Untergang geweiht ist.

Die allegorische Bedeutung III: Zombiefilme und Gefängnisse

Nehmen wir noch ein populäres und nicht ganz so kunstvolles Beispiel. Es gibt einige Zombiefilme, in denen das Gefängnis ein Zufluchtsort für Überlebende wird. Hier entwickeln sich zwischen den Überlebenden Konflikte und neue Gemeinsamkeiten. Das Gefängnis ist in diesem Fall natürlich ein ironischer Ort. Normalerweise dienen Gefängnisse dazu, um die Gesellschaft vor Gefahren zu schützen. In diesem Fall wird die Bedeutung des Gefängnisses umgedreht.
Sehr hübsch ist auch das Einkaufszentrum in Dawn of the Dead. Nicht nur wird jener Konsumtempel zum Zufluchtsort. Die angebotenen Waren werden weitestgehend bedeutungslos, denn keine dieser Waren ist dafür wirklich vorgesehen, in einer solchen Ausnahmesituation nützlich zu sein. Der Film zeigt auf der allegorischen Ebene, wie zerbrechlich eine Kultur ist, die auf den reinen Konsum ausgerichtet ist.

„Zwischen Setting und Charaktere gibt es Konflikte“ (Stephan Waldscheidt)

Als Soziologe fange ich hier natürlich an zu grummeln. Ein Konflikt ist für mich immer ein Ereignis zwischen zwei oder mehreren Menschen. Es ist vor allem immer konkret. Mit einem Setting kann man keine Konflikte haben. Auch die Natur ist kein Gegenspieler.
Aber natürlich macht auch die Natur Probleme: Die meisten Pflanzen vertrocknen, kurz nachdem sie aufgegangen sind; der Frühling ist nass und die Blüten verfaulen am Baum; ein Schneesturm fegt tagelang über die Ländereien hinweg und macht jedes Entkommen unmöglich. All das sind Probleme mit der Natur.
Weil der Begriff des Settings so undeutlich ist, gehören dazu aber auch ganz allgemein Widersprüche zwischen Ideen. Denken wir nur an Galileo Galilei, der gerne als Prototyp für den Ideenkonflikt genannt wird. Aber zunächst handelt es sich hier nur um unterschiedliche Ideen, darum, ob die Erde im Mittelpunkt des Sonnensystems steht oder nicht. Die Konflikte dagegen finden zwischen Galilei und den Kirchenvertretern statt. Natürlich gehört die Kirche selbst, genauso wie die Idee, dass sich die Sonne um die Erde drehen könnte, zu einer bestimmten Epoche und damit zu einem bestimmten Setting. Aber mit diesem Setting selbst kann der Protagonist eben doch keinen Konflikt eingehen. Er braucht dazu ein konkretes Gegenüber.

Zum Beispiel Nebenhandlungen

Nichtsdestotrotz: es ist klar, was Waldscheidt meint: Vergessen wir nicht die alltäglichen, kleinen Widrigkeiten, die verschwundenen Schlüssel, die Waschmaschine, die kurz vor dem Kollaps steht, und was einem sonst noch so einfallen kann, um bestimmte Nebenhandlungen zu initiieren.
Wie könnte so etwas konkret aussehen? Nun, basteln wir uns hier einfach einen Ploteinstieg zurecht. Unsere Protagonistin muss auf eine Feier, bei der sie eine gute Figur machen möchte. Es geht hier um ihre Karriere. Als sie dafür eine Bluse waschen möchte, streikt ihre Waschmaschine. Sie ruft also einen Installateur, der glücklicherweise auch noch an diesem Abend Zeit hat. Der repariert nun die Waschmaschinen und, weil er genau dem Beuteschema unserer Protagonistin entspricht, landen diese beiden auch im Bett. Da er aber auch nur ein Installateur ist, was ihren Vorstellungen von einem perfekten Ehemann nicht entspricht, soll es bei dieser einen Nacht bleiben. Als sie dann am nächsten Tag ihre Bluse doch noch waschen möchte, stellt sie fest, dass die Waschmaschine immer noch nicht richtig funktioniert und ihre Kleidung zerfetzt. Und jetzt hat sie wirklich ein Problem, denn womit soll sie auf dieser Feier auftauchen? Nun kann man sich hier irgendetwas ausdenken (mir fehlt gerade die Fantasie dazu); man könnte das ganze in die Richtung biegen, dass dieser nicht ganz so fachmännische Installateur sich als der Sohn des Managers herausstellt, von dem die Protagonistin eingestellt werden möchte. Irgendetwas in dieser Art, ein witziger Dreh eben, wie das bei diesen Liebeskomödien der Fall ist.
Vergessen wir also nicht die Möglichkeiten, die in solchen kleinen, alltäglichen Hindernissen stecken. Sie können kleine Handlungen anstoßen, die zu zufälligen Begegnungen führen, die dann plötzlich eine wichtige Rolle in dem gesamten Roman spielen.

Konflikte

An anderer Stelle hatte ich einmal ziemlich präzise die zahlreichen Konflikte aufgelistet, die in einem kurzen Textstück stecken können. An Stephen King lässt sich wunderbar beobachten, dass er ständig Konflikte in seine Texte einfügt. Das sind nicht immer große Konflikte. Manchmal hadern die Menschen mit sich selbst, manchmal sind es die ewigen Quengeleien mit der Nachbarin, manchmal der unverständige Ehemann. Diese lagern sich um den Hauptkonflikt herum. Manchmal verdecken sie diesen ganz und werden zu eigenständigen Handlungen. Ich denke hier zum Beispiel an die Konflikte, die die sieben Kinder aus Es mit den gewalttätigen Jugendlichen haben. Dieser Konflikt zieht sich durch das ganze Buch hindurch. Oder nehmen wir Harry Potter. Rowling begnügt sich nicht mit einem Hauptkonflikt, sondern umlagert diesen mit zahlreichen, kleineren Nebenkonflikten, angefangen von der Feindschaft mit den Slytherins, Severus Snape, den verbotenen nächtlichen Ausflügen, dem griesgrämigen Hausmeister Filch, usw.
Ich glaube, dass man nicht erwähnen muss, dass sowohl Stephen King als auch Joanne Rowling diese Nebenkonflikte immer wieder dazu benutzen, um der Geschichte eine andere Wendung zu geben und die Protagonisten auf Bahnen zu führen, auf denen sie neue Informationen entdecken.

„Das Setting wird selbst zum Charakter“ (Stephan Waldscheidt)

Mir ist schleierhaft, was Waldscheidt, bzw. die von ihm zitierten Leser damit meinen. Für Settings, gerade für stärker psychologische Romane, ist die Atmosphäre sehr wichtig. Und da man von einem Ort genauso wie von einer Person sagen kann, sie hätten eine bestimmte Atmosphäre, kann man eine gewisse Ähnlichkeit feststellen. Dass sich die beiden allerdings vermischen, ist eine zu starke Behauptung.

„Wie ein guter Charakter ändert sich auch das Setting im Lauf der Handlung“ (Stephan Waldscheidt)

Auch das muss enorm präzisiert werden. In einem Road-Movie (auch als Buch, z. B. Der Talisman von Straub und King) ändert sich natürlich beständig das Setting. Die Frage ist, wie weit man den Begriff Setting fasst. Handelt es sich nur um einen Ort, dann kann man natürlich, um Abwechslung ins Spiel zu bringen, die Orte wechseln lassen. Hier handeln wir uns gleich das nächste Problem ein: ist ein Ortswechsel schon der Wechsel von der Küche ins Wohnzimmer, oder muss man da zuerst von Hamburg nach Berlin fliegen?
Setting ist demnach ein sehr unklarer Begriff. Daran kann auch Waldscheidt nichts ändern. Wir müssen uns bloß deutlich machen, welche Probleme wir uns einhandeln, wenn wir einen solchen unklaren Begriff gebrauchen.
Ich benutze Setting als Bezeichnung für Rahmenbedingungen der Geschichte. Dazu gehören, wie bereits oben gesagt, auch die Orte, an denen die Geschichte spielt. Man könnte Setting aber auch noch anders definieren als diejenige Kultur, die ich brauche, um meiner Geschichte eine Färbung und Atmosphäre zu geben. In diesem Fall würde der Begriff des Settings in etwa dem Begriff der Kultur entsprechen, wenn auch nach dem Blickpunkt ausgewählt, was für eine Geschichte dienlich ist.

Zweiter Teil: Grandiose Hauptdarsteller

Steigerungen (Qualität und Quantität in der Argumentation)

Zu einem der wichtigsten Stolpersteine bei der Argumentation gehört die Einschätzung der Merkmale und die Auswahl der Schlussformen. Es wird nämlich immer behauptet, dass die Deduktion oder Induktion das wichtigste sei, und wenn man diese erst verstanden hätte, dann sei Argumentieren ganz einfach. Tatsächlich aber sind die Schlussformen selbst, wenn man sie einfach nur anwenden muss, ziemlich simpel. Viel mehr Fehler werden bei der Auswahl der Merkmale und bei deren Einschätzung gemacht. Einer der wichtigsten und schwer wiegendsten Fehler ist dabei die Verwechslung von Qualität und Quantität. Diese Verwechslung wird meist durch Metaphern hervorgerufen. Zu diesen Metaphern zählen Wörter wie die Steigerung oder der Fortschritt.

Zum Beispiel glauben viele Menschen, dass eine höhere Intelligenz automatisch zu einem besseren Leben führt. Das ist nun alles andere als wahr. Menschen mit einer besonders hohen Intelligenz, Hochbegabte und Höchstbegabte, haben oft große Anpassungsschwierigkeiten in der Gesellschaft, verkennen soziale Situationen und sind dadurch für Verhaltensauffälligkeiten prädestiniert.
Wie ein befreundeter Kollege das sagte [bezüglich eines kriminellen Jugendlichen]: er ist einfach zu schnell für diese Gesellschaft. Die können und wollen sich nicht vorstellen, dass der das kann. Also nehmen sie ihn nicht ernst.
Es mag sein, dass die Intelligenz tatsächlich eine quantitative Eigenschaft ist (obwohl das bei einem so chaotisches System wie dem Gehirn eher unwahrscheinlich ist); als soziale Eigenschaft führt sie allerdings relativ rasch zu zahlreichen qualitativen Sprüngen.

Bei meinem guten Quine gibt es nicht nur Sonnenschein. Geärgert habe ich mich schon immer über den folgenden Satz:
„Unwissenheit … ist eine Sache des Grades.“ (26)
Und da ist es wieder, dieses Wissen um das Maximum und die Homogenität. Man weiß also, dass an der anderen Seite der Unwissenheit das Wissen steht. Und man weiß, dass der Weg von der einen zur anderen Seite geradlinig läuft.
Aber seien wir doch mal ehrlich: woher weiß man das?
Ist das Wissen um die Unwissenheit nicht rein spekulativ?

27.09.2014

Ein Schutzengel für Kausalitäten

Nicht nur in der Rhetorik gibt es seltsame Verdrehungen, sondern auch in der Logik. Besonders beliebt für solche Entstellungen ist die Kausalität, sei es, dass eine Kausalität unterstellt wird, obwohl sie nicht vorhanden ist, sei es, dass eine Kausalität geleugnet wird, obwohl man sie feststellen könnte. Siehe zum Beispiel den Unterschied zwischen Kausalität und Disposition.

Ich liebe den Spiegel online. Es gibt einiges, was ich dort bereits heraus gesammelt habe. Heute liefert mir der Spiegel wieder ein Paradebeispiel. Dort steht:
Glaube an Schutzengel macht vorsichtig
Man könnte jetzt annehmen, dass Menschen, die an Schutzengel glauben, vorsichtiger sind. Doch weit gefehlt. Wenn man sich die dazugehörige Studie ansieht, dann schätzen Menschen, die an Schutzengel glauben, die Gefahren der Raserei im Straßenverkehr höher ein.
Es handelt sich um eine Koinzidenz, ein Zusammentreffen. Dass der Glaube an Schutzengel die Ursache für ein vorsichtigeres Verhalten sei, besagt die Studie mit keinem Wort. — Diese Überschrift ist fast so gut wie jene, mit der Spiegel Online behauptete, Säuglinge könnten Grammatik lernen [Nachtrag: dieser Artikel ist nicht mehr erreichbar]. Dabei hat die Forschung nur nachgewiesen, dass Säuglinge wesentlich früher Vorbedingungen zum Grammatikerwerb beherrschen als bisher angenommen.

Katachresen (Logik und Rhetorik)

Eigentlich hatte ich heute Morgen in den Zeitungen nur herumgestöbert, um irgendwo eine hübsche Katachrese aufzusammeln. Ich habe aber keine gefunden. Stattdessen sind es ganz viele andere rhetorische Figuren, die mir aufgefallen sind. Zumindest was den Begriff des gender angeht, ergeht es mir mittlerweile fast so wie vielen Anti-Genderisten; ich ertrage diese Dummheiten mehr. Im Unterschied zu den Anti-Genderisten halte ich aber den Begriff des gender, sofern er gut definiert ist, für einen wichtigen Begriff.

Logik ungeklärter Begriffe

Die Figur der Katachrese hatte ich vor allem an Beispielen der gender-Debatte durchbuchstabiert. Da ich mich gerade mit Quine beschäftige, lese ich meine alten Kommentare zu ihm durch. Quine schreibt über die Logik nicht vollständig geklärter Begriffe (Die Wurzeln der Referenz, S. 25). Dazu gehören meiner Ansicht nach auch die Katachresen. Damals hatte ich dazu geschrieben, mit einem nicht mehr aktuellen Beispiel:

Metaphorisch-unmetaphorische Einheit

Die Katachrese kann auf der logischen Ebene eine solche Figur bilden. Sie setzt zwei Glieder gleich, als ob diese notwendig zusammengehören.
Sie beruht aber auf Teilerklärungen. Nehmen wir zum Beispiel das Attribut „homokrank“, das auf kreuz.net so gerne gebraucht wird. Diese Katachrese besteht aus einem ersten, referierenden Teil („homo“) und einem zweiten, metaphorisierenden Teil („krank“). Dieser metaphorisierende Teil ist übrigens deshalb metaphorisierend, weil sich psychische Geisteszustände und seien die auch noch so psychiatrisch behandlungsbedürftig, nicht mit rein körperlichen Krankheiten vergleichen lassen. Der zweite Grund, warum dieser Teil metaphorisierend ist, besteht darin, dass krank hier nicht zur Definition der Homosexualität dazugehört und auch nicht anschaulich ist.
Die Katachrese ist also insofern ideologisch, als sie auf der Ebene der reinen Wortgestalt eine Einheit bildet, die sich auf der wissenschaftlich argumentierenden Ebene überhaupt nicht begründen lässt.
(Zu 25)

Die Abschaffung der nicht-qualifizierten Frauen

Recht zufällig bin ich mal wieder über einen Bericht zu Genderfragen gestolpert. Mittlerweile lese ich die nicht mehr mit einer gewissen Ratlosigkeit, sondern eigentlich nur noch mit Verärgerung.

Gender und Gleichberechtigung

Es ist schon äußerst fragwürdig, die Begriffe gender und Gleichberechtigung in einen Topf zu werfen. Gleichberechtigung, so darf man wissen, steht im Grundgesetz. Nun ist der Art. 3 des Grundgesetzes ein Differenzierungsverbot. Und dies steht, geht man rein von den logischen Bedingungen aus, im Widerspruch zum Art. 2, der ein Differenzierungsgebot enthält. Tatsächlich wirken diese beiden aber auf eine recht komplexe Art und Weise zusammen, denn der Art. 3 beschneidet die Einmischung in den Spielraum, den der Art. 2 positiv formuliert.
Lediglich Art. 3 Abs. 2 Satz 2 ist ein Handlungsgebot in positiver Formulierung: der Staat fördert die Durchsetzung der Gleichberechtigung (usw.).
Nur: was hat das mit Gender zu tun? Es gibt viele kulturelle Geschlechter, genau genommen so viele, wie es Menschen gibt. Die meisten davon bewegen sich im Rahmen demokratischer Spielregeln, selbst in nicht-demokratischen Staaten (es ist ein Irrglaube, dass eine Familie in einem patriarchalen Staatssystem automatisch auch patriarchal organisiert sein muss).
Der Gender Datenreport des BMFSFJ (übrigens eine tolle Kombination) ist dementsprechend auf Männer und Frauen ausgerichtet, mehr aber noch auf Erwerbstätigkeit und Einkommensdifferenzen.

Das Gesetz und das biologische Geschlecht

Kritisch zu sehen ist an dieser ganzen Sache, dass der Art. 3 von Männern und Frauen ausgeht, nicht von Konstruktionen des sozialen Geschlechts. Kritisch heißt in diesem Fall allerdings, dass die Reichweite dieses Gesetzes gesehen werden muss. Es geht weiterhin von einem biologischen Geschlecht aus. Das ist auch völlig in Ordnung, wenn man zum Beispiel die wirtschaftliche Situation von Frauen bedenkt, die durch Schwangerschaft und Kindererziehung unsicherer ist als die von Männern.

Die Absorption des Gender

Seltsamerweise (aber da wundert mich bei den Deutschen gar nichts mehr) absorbiert die Frage der Gleichberechtigung die Diskussion des gender. Gender, so hatte ich bereits früher geschrieben, ist ein Begriff der politischen Philosophie; er kann nicht so einfach in die Lehre vom Staatsrecht oder, zu diesem Anlass hatte ich mich damals dementsprechend geäußert, in den praktischen Unterricht an der Schule übernommen werden. (Queer-Theorie und Pädagogik)
Gender mainstreaming, so hatte ich gesagt, ist an der Schule unsinnig, weil wir in der Schule keine politische Philosophie unterrichten, die über grundlegende philosophische Gedanken zum Staatswesen hinausgehen. Hobbes und Rousseau, Montesquieu und Tocqueville, das erscheint mir vernünftig, das erscheint mir praktikabel. Und natürlich darf man dort nicht stehen bleiben. Aber für den Unterricht in der Schule und für das Verständnis des modernen Staatswesens sind das eben immer noch die Grundlagen.
In der Schule wird vor allem eine praktische Ethik gelehrt. In Bezug auf die Tugenden kann Mann-Sein oder Frau-Sein keine Tugend sein. Es darf bloß nicht so sein, dass das Vorbild eines Mannes mehr wert ist als das Vorbild einer Frau.

Rhetorik der Frauenquote

Nun ist die Debatte um das gender in Deutschland gerade deshalb interessant, weil sie rhetorisch so viel verdreht. Sieht man sich die Schriften von Judith Butler an, dann geht es gerade darum, diesen rhetorischen Verdrehungen nachzuspüren und sie aufzuheben. Insofern ist das, was hier in Deutschland passiert, der gender-Theorie geradezu entgegengesetzt.
Nehmen wir zum Beispiel den Begriff der Frauenquote. Grundsätzlich ist nichts dagegen zu sagen, dass man darauf hinwirkt, dass Frauen in gehobene Positionen kommen. Seltsam wird es erst, wenn sich die Gleichberechtigung daran misst, dass es Frauen in gehobenen Positionen geschafft haben. Was soll das zum Beispiel heißen, dass in den letzten fünf Jahren elf Frauen mehr im DAX-Vorstand sitzen? Klingt ja irgendwie nett. Aber diese Zahl, diese elf, die beunruhigt mich auch schon irgendwie wieder, vor allem, wenn dies so emphatisch betont wird. Elf? Bei wieviel Frauen in Deutschland? 40 Millionen? Meinen die das ernst, mit der elf? Wirklich?
Eine andere seltsame Zahl ist das Gehalt. Im Durchschnitt verdient ein Mann 18,81 €, eine Frau 14,62 €. Nun ist dies mit dem Durchschnitt wiederum eine fragliche Sache. Es ist nämlich auch ein Unterschied, ob eine Frau 7,50 € in der Stunde verdient oder 31,20 €. Das ist der Unterschied zwischen Altersarmut oder nicht. Und der wird einfach mal komplett wegabsorbiert. Hier spielt es auch keine Rolle mehr, ob ein Mann 8 € verdient, also 8% mehr. Ihn wird die Altersarmut genauso treffen.

Verborgene Differenzen

Wie verdreht ein solcher Text dann laufen kann, mag diese Passage zeigen, die peinlicherweise auch noch aus einem sozialistischen Blatt stammt, Neues Deutschland:
Man stelle sich zwei Menschen vor: Der eine männlich, der andere weiblich. Sie absolvieren von Grund auf ähnliche Schulabschlüsse, studieren BWL erst im Bachelor, dann im Master, landen am Ende bei einer großen Bank. Doch irgendwo, dazwischen, in den Wirren der jahrhundertelang aufgeschütteten Geschlechtervorurteile, bleibt einer der beiden auf seinem Posten hängen. Verdient im Schnitt 22 % weniger, als der des anderen Geschlechts. Hat im Schnitt etwa 33.000 € weniger Vermögen als der andere. Einer verdient im Schnitt 18,81 €, der andere 14,62 €. Keine Überraschung - die Person, die schlechter wegkommt, ist die Frau. Welchen Preis zahlen Gesellschaft und Ökonomie für das Festhalten an tradierten Strukturen und Geschlechterstereotypen, fragt deshalb die Gender-Tagung.
Hier ist aber die grundlegende Differenz, die angesprochen wird, nicht die Differenz der Geschlechter, sondern die Differenz, die verschwiegen wird (und man höre die Paradoxie von ansprechen/verschweigen). Es geht hier nicht um die Unterscheidung männlich/weiblich, sondern um die Unterscheidung qualifiziert/nicht-qualifiziert. Für 14,62 € arbeitet niemand bei einer großen Bank. Nicht als Akademiker. Denn das käme auf ein monatliches Gehalt von 2200 € (mit großzügiger Rundung nach oben) für Frauen. Und dafür wird ein studierter BWLer, sei er Mann oder Frau, nicht arbeiten. Das entspricht auch nicht dem, was üblicherweise gezahlt wird. Doch der Artikel tut so, als sei dies das "Leiden" von BWLern. Es ist wohl eher das Leiden von Erzieherinnen und Krankenpflegern. Die Armutsgrenze markiert, entgegen der geschlechtsspezifischen Gehaltsdifferenz, eine Art absolute Grenze, ab der sich die Lebensverhältnisse qualitativ enorm verkomplizieren,
Vor allem aber wird die Gleichberechtigung an dem gemessen, was qualifizierte Frauen sein können, nicht an dem, was nicht-qualifizierte Frauen sind. So schleicht sich, und man kann ja eigentlich schon nicht mehr vom Schleichen reden, sondern eher von einem Trampeln, eine sehr elitäre Betrachtungsweise in den Diskurs.

Kuscheln auf reichem Niveau

Es ist ja schön und gut, von einer gläsernen Decke zu reden, und mit Sicherheit ist es markig, geradezu martialisch, solche Sprüche wie »Die Frauenquote ist nicht zum Kuscheln da« (Manuela Schwesig) zu äußern; aber was nützt einem eine gläserne Decke, wenn diese zugleich alle anderen Bedingungen außen vor lässt? Die Armutsgrenze ist auch kein Kuscheltier.
Weder lässt sich die Geschlechterdiskriminierung ohne eine dazu querliegende Debatte über Armut führen, noch kann eine Vollbeschäftigung ohne Rücksicht auf ein persönliches Verständnis von Lebensglück postuliert werden. Denn was das Glück der einzelnen Frau bedeutet, kann nur sie selbst wissen, nicht eine Statistik, und schon gar nicht eine in sich hermetisch abgeschlossene Mischung aus Selbstbeweihräucherung und Selbstbemitleidung, wie sie von bestimmten akademischen Zirkeln betrieben wird.
So, wie die Gender-Debatte geführt wird, zeugt sie vor allem von philosophischem Dilettantismus und elitärem Gehabe.

26.09.2014

Teilerklärungen

Teilerklärungen sind Erklärungen, bei denen ein Terminus nicht eliminiert werden kann.
Eine solche Eliminierbarkeit leistet die Definition. Man könnte nämlich letzten Endes den Terminus immer durch die ihn definierenden Sätze ersetzen und tut es nicht, weil der Terminus wesentlich kürzer und deshalb bequemer zu verwenden ist.
Sind Termini also nicht eliminierbar, kann man auf eine fehlende Definition oder einen nicht vollständig begründeten Zusammenhang schließen.
(Ein Kommentar zu Quine Die Wurzeln der Referenz, S. 25)

Dispositionen

Ein hartnäckiges Problem der Sozial- und Geisteswissenschaften ist die Kausalität. Kausalität bedeutet zunächst, dass ein Ereignis notwendig auf ein anderes folgt. Als Beispiel dafür kann man folgende zwei Ereignisse angeben: Ich lasse den Apfel los. Er fällt auf den Boden.
Man kann dann auch sagen: Weil ich den Apfel loslasse, fällt er auf den Boden.

Äpfel und die Schwerkraft

Natürlich stimmt diese erste Beobachtung nicht, obwohl sie für den alltäglichen Gebrauch hinreichend gut ist. Der Apfel fällt nicht, weil ich ihn loslasse, sondern weil die Erde ihn anzieht. Dadurch, dass ich den Apfel in der Hand halte, habe ich der Schwerkraft entgegengewirkt. Indem ich den Apfel loslasse, wirke ich der Schwerkraft nicht mehr entgegen.

Die Deduktion

Die Deduktion ist ein Schluss und damit ein Element der Argumentationslehre. Sie besteht aus einer Beobachtung, einer Regel und einer Schlussfolgerung.
Schreiben wir uns das ganze formal auf:
  • Beobachtung: Ich lasse den Apfel los.
  • Regel: Was man loslässt, fällt auf den Boden.
  • Schlussfolgerung: Also fällt der Apfel auf den Boden.
Man kann auch sagen: es gibt eine Ursache, ein Gesetz und eine Wirkung.

Erster Einwand: die umgedrehte Deduktion

Die Deduktion kann auch umgedreht werden:
  • Beobachtung: Der Apfel fällt auf den Boden.
  • Regel: Was auf den Boden fällt, ist losgelassen worden.
  • Schlussfolgerung: Also habe ich den Apfel losgelassen.
Diese Deduktion funktioniert genauso gut.
Nun lässt sich dieser Einwand leicht überwinden. Ein notwendiges Gesetz funktioniert in beide Richtungen. Was notwendig in seiner Wirkung ist, muss auf die entsprechende Ursache notwendig folgen.

Zweiter Einwand: die Umstände

Astronauten werden an dieser Stelle behaupten können, dass die Schlussfolgerung keinesfalls stimmt, denn sie haben die Erfahrung gemacht, dass ein Apfel, den man loslässt, keineswegs zur Erde fällt, sondern in der Luft schweben bleibt. Auch ob ein Apfel fällt oder nicht fällt, hängt nicht vom Apfel ab, sondern von dem Körper mit enormer Masse, der infolge der Anziehungskraft den Körper fallen lässt.
Und der Philosoph wird gleich eine nächste Argumentation nachschieben: dass wir meinen, dass der Apfel fällt, sei so auch nicht richtig. In Wirklichkeit bewegen sich Apfel und Erde aufeinander zu. Da aber die Erde wesentlich größer (und damit träger) als der Apfel ist, bewegt sich die Erde nur minimal. Unsere Sinnesorgane sind für diese Erdbewegungen nicht ausreichend sensibel.
Außerdem stehen wir selbst auf der Erde und bewegen uns deshalb mit der Erde mit, weshalb wir keinen absoluten Standpunkt zur Bewegung der Erde einnehmen können, wären wir doch einen relativ absoluten Standpunkt zur Bewegung des Apfels besitzen.
Es kommt also auf die Umstände an, wie etwas passiert, und auf die Umstände, wie wir etwas beobachten.

Induktion

Neben der Deduktion, die ich hier der Illustration wegen genannt habe, finden wir als andere wichtige Form der Schlussfolgerung die Induktion. Folgt man einer klassischen Logik, der Logik Kants, dann ist die Deduktion eine Schlussfolgerung der Form nach, während die Induktion eine Schlussfolgerung des Inhalts nach ist. Man könnte auch sagen, dass die Deduktion eine transzendentale Schlussfolgerung sei, die Induktion dagegen eine empirische.
Entsprechend gibt es relativ wenig Deduktionen, da es, jedenfalls nach Kant, nur begrenzt Formen "existieren". Man kann dort auch nur relativ abstrakte Schlussfolgerungen ziehen, zum Beispiel: wenn B auf A folgt und C auf B, folgt auch C auf A. Soweit aber der kleinste Fetzen Erfahrung in einer solchen Schlussfolgerung auftaucht, ist diese nicht mehr deduktiv sondern induktiv.

Disposition

Dem fügt Quine nun einen weiteren Aspekt hinzu. Er behauptet, dass ein Objekt eine bestimmte Disposition besitzen muss, um unter einem bestimmten Umstand eine Eigenschaft aktualisieren zu können. Treffen also ein Umstand und eine Disposition aufeinander, entsteht ein Phänomen.
Nehmen wir den Umstand, dass ein Mensch betrunken ist. Nehmen wir des Weiteren die Disposition eines Autos, bei bestimmten Fahrweisen zu schlingern. Sobald also ein betrunkener Mensch und ein Auto aufeinandertreffen, kann sich das Schlingern aktualisieren.
Das ist jetzt nun ein relativ harmloses Beispiel. In den Sozialwissenschaften werden solche Schlussfolgerungen aber ständig gebraucht. Es wird zum Beispiel gesagt: unter gewissen Umständen wird ein Mensch kriminell, bzw. zeigt kriminelles Verhalten. Es wird zum Beispiel gesagt: unter gewissen Umständen kann ein lernbehindertes Kind lernen wie ein normales Kind.
Anders gesagt: ein Mensch hat die Disposition zu kriminellem Verhalten und ein lernbehindertes Kind hat die Disposition zu einem normalen Lernen.

Dispositionen und die soziale Evolution

Nicht immer tauchen Dispositionen von Anfang an auf. Wir müssen uns fragen, ob es bestimmte Dispositionen gibt, die den Menschen angeboren sind, die also biologisch vorliegen, oder ob bestimmte Dispositionen erlernt werden, wie vielleicht die Disposition, besonders gründlich mit seinen eigenen Sachen umzugehen oder die Disposition, unter Menschen schüchtern zu sein.
Die eine Disposition, die sozusagen biologisch vorliegt, wäre durch die biologische Evolution entstanden, während die andere Disposition unter kulturellen Bedingungen gelernt wurde.

Die Grenzen erlernter Dispositionen

Wenn man herausfinden möchte, was ein Mensch alles sein kann, zugleich aber berücksichtigt, was er individuell werden kann, dann muss man alle möglichen Spielarten des Mensch-Werdens berücksichtigen, gleich, wie diese ausfallen mögen. Zunächst einmal kann man davon ausgehen, dass die biologische Disposition in gewisser Weise am einfachsten zu verwirklichen sein wird, sodass man in dieser Richtung auch die meisten Menschen finden wird.
Zugleich kann man davon ausgehen, dass die menschlichen Ausnahmen, im Guten wie im Schlechten, ungewöhnliche Erfahrungen gemacht haben und sich dadurch abseits der „leichtgängigen“ biologischen Dispositionen bewegen.

Statische oder dynamische Eigenschaften

Eine weitere Frage, die man sich bei den Eigenschaften von Menschen stellen muss, ist, ob diese nur auf eine gewisse Dynamik zutreffen, zum Beispiel auf Handlungen, oder ob diese statisch sind, also tatsächlich so etwas wie feste Charaktereigenschaften bilden. Intelligenz zum Beispiel wird seit vielen Jahren ihr als eine dynamische Charaktereigenschaft angesehen, nämlich als die Fähigkeit, besonders schnell zu lernen (bzw. bestimmte Gedächtnismuster zu bilden). Es gibt deshalb keine feste Intelligenz, die von Anfang an gleich bleibt und die man mit einem Intelligenztest messen könnte. Bei diesem bekommt man punktuelle Werte, die über die mögliche Intelligenz eines Menschen wenig aussagen.

Kreativität

Man kann sich so zum Beispiel die Kreativität vorstellen. Obwohl man immer behauptet, dass bei kleinen Kindern eine hohe Kreativität vorliege, glaube ich, dass das nicht stimmt. Kinder neigen dazu, alle möglichen Sachen miteinander zu verknüpfen, wie sie gerade vorliegen. Das ist natürlich in gewisser Weise auch kreativ. Aber Kreativität auf diese Art und Weise zu definieren, widerspräche den kreativen Techniken.
Was machen nun kreative Techniken? Sie ordnen vorhandenes Material so um, dass das Ziel dieser Umordnung nicht deutlich vor Augen steht. In gewisser Weise ist die Umordnung eine Unordnung. Nun kann eine Unordnung alles mögliche sein: das Zimmer ist verwüstet, das Haus zusammengefallen, die Buchstaben purzeln durcheinander. Doch all das sind reale Unordnungen. Eine kreative Technik dagegen erzeugt spekulative Unordnung. Dabei muss das materielle Ergebnis einer kreativen Technik nicht unordentlich sein. Eine Mindmap ist nach bestimmten Regeln geordnet. Nicht geordnet ist hier die Seite der Bedeutung, die semantischen Seite der Mindmap.
Normalerweise erwarten wir, dass unser Leben und unsere Welt geordnet sind. Unordnungen stoßen uns von außen zu, in Form von Problemen. Kreativität stellt uns vor Probleme, und wir brauchen eine Disposition dazu, Probleme gut zu lösen. Wir brauchen also Erfahrungen mit uns selbst als Problemlöser. Und wir brauchen Erfahrung damit, dass wir unsere selbst gestellten Probleme in den Griff bekommen.
Problemlösen ist eine kognitive Fähigkeit, die von der Bildung, aber auch von der Selbstsicherheit und einer gewissen emotionalen Autonomie abhängt. - Und ihr merkt schon, man kann hier gewisse Grundbedingungen formulieren, ohne diese vollständig festlegen zu müssen. Wenn zwei Dispositionen aufeinandertreffen, können diese sich gegenseitig verstärken und eine neue Disposition bilden.

Die Formel der Disposition

Doch das alles nur ganz am Rande, um ein wenig die Anwendungsmöglichkeiten des Begriffes Disposition zu zeigen.
Kehren wir zurück zu einer formellen Betrachtung, dann ist die Disposition eine Möglichkeit eines „Dings“, unter bestimmten Umständen eine Eigenschaft oder Fähigkeit x zu zeigen.
Oft haben wir es aber mit wechselseitigen Dispositionen zu tun. So kann ein A unter der Bedingung y die Eigenschaft x zeigen, während ein B unter der Bedingung x die Eigenschaft y hervorbringt. Dies ist eine gegenseitige Ermöglichung, die unter anderen Umständen nicht funktioniert.
Nun kann man darauf noch ein weiteres Gedankenspiel setzen. Die Eigenschaft x kann zu weiteren Eigenschaften führen, zum Beispiel zu a, b oder c. Trifft diese Eigenschaft x auf die Eigenschaft y, dann zeigt sich zusätzlich die Eigenschaft b. Somit leiten sich aus bestimmten Dispositionen weitere Dispositionen ab.

Lernen

Wenn das „Dings“ ein komplexes System ist, zum Beispiel ein Mensch, dann kann sich eine Eigenschaft x nicht nur unter den Bedingungen y und z zeigen, sondern immer unabhängiger von den Bedingungen y und z. Das „Dings“ lernt diese Eigenschaft. Was zunächst eine Disposition ist, wird schließlich zu einer Fähigkeit, die bewusst gezeigt und initiiert werden kann, eventuell sogar dann, wenn die äußeren Bedingungen eine solche Eigenschaft nicht nahe legen.
So gesehen ist Lernen das Unabhängig-werden eine Disposition von Umweltfaktoren. Lehren dagegen wäre das Einüben dieser Unabhängigkeit.

25.09.2014

Wissenschaftskommunikation

Quine schreibt (in Die Wurzeln der Referenz):
Der Erkenntnistheoretiker wird also zu einem Verteidiger oder Schützer. Er träumt nicht mehr von einer Ersten Philosophie, besser fundiert als die Wissenschaft, auf die sich diese stützen könnte; er ist darauf bedacht, die Wissenschaft von innen her, gegen ihre Selbstzweifel zu verteidigen.
Seite 17
Am 30. Juni und 1. Juli 2014 fand eine Tagung zur Wissenschaftskommunikation im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen statt. Im Eröffnungsbeitrag wurde von Frank Marcinkowski und Matthias Kohring die Frage gestellt, ob Wissenschaftskommunikation der Wissenschaft nützt.

Eigenlogik der Wissenschaft

Unbestritten müssen Wissenschaftler die Ergebnisse ihrer Arbeit veröffentlichen. Veröffentlichen heißt, so stellen dies die beiden Autoren dar, prinzipiell für alle, konkret aber für die Fachöffentlichkeit. Dies scheint aber eine zu enge Fassung des Begriffes Wissenschaftskommunikation zu sein. Dieser meint die Aufbereitung, eventuell sogar das Marketing, über die Fachöffentlichkeit hinaus. Der Grundgedanke hinter diesem breiten Begriff ist die Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft. Lassen wir den Begriff der Verantwortung selbst einmal ungeklärt.
Dann kann man immer noch einwenden, dass eine Wissenschaft nicht nach denselben Regeln funktioniert wie die Gesellschaft und dass deshalb der Wissenschaftler auf der Eigenlogik seines Faches beharren muss.
(Dazu werde ich weiter unten meine Gedanken äußern. Zunächst möchte ich nur referieren.)

Aufmerksamkeit

Die beiden Referenten sehen auch kritisch, dass die Wissenschaftskommunikation den Wissenschaftler zu sehr von seinem eigenen Fachgebiet ablenkt und zu viele Ressourcen absorbiert. Aufgabe des Wissenschaftlers sei es, zu forschen und nicht, andere Menschen von dieser Forschung zu überzeugen. Die Förderung der Wissenschaftskommunikation würde die Wissenschaftlichkeit, so darf ich hier mal salopp formulieren, ziemlich ins Schlingern bringen.

Gegenmeinungen?

Nicht wirklich. Rainer Korbmann, seines Zeichens Wissenschaftsjournalist, problematisiert auf seinem Blog Wissenschaft kommuniziert sowieso die Wissenschaftskommunikation, wobei es ihm allerdings mehr um spezifische Probleme geht, als um den Zweck von Wissenschaftskommunikation überhaupt. Und auch die Aussagen von Jens Rehländer, der die VolkswagenStiftung leitet, sind sehr differenziert.
Eine Herausforderung dabei ist, dass Popularität durch eine breite Öffentlichkeit entsteht, Popularität aber nicht mit Nützlichkeit oder gar mit Wahrheit verwechselt werden darf. Und insofern ist die Zuweisung von Forschungsgeldern nach dem Maße der Popularität schwierig, wenn nicht gar eine Fehlorientierung.
Andererseits ist natürlich die Aufgabe der Wissenschaft nicht nur die Forschung, sondern auch die Aufklärung. Aufklärung bedingt die Öffentlichkeit.

Die zentrale Frage

Muss sich Wissenschaft also populär machen? So könnte die zentrale Frage lauten. Und wenn man diese Frage mit Ja beantwortet, dann ist gleich die nächste Frage, auf welche Weise dies zu geschehen hat. Die beiden Autoren verleugnen nicht die Notwendigkeit der Wissenschaftskommunikation, aber sie befürchten, dass die gut begründeten Ergebnisse durch Meinungen aufgeweicht werden. Es geht also um den alten Streit zwischen Doxa und Episteme.

Asymmetrische Kommunikation

Die Problemstellung wird weiter verfeinert, wenn man sich auf die Suche nach der tatsächlichen Differenz zwischen den beiden Referenten und der Stellungnahme von Rehländer macht.
Nicht bestritten wird, dass die Kommunikation von Wissenschaft sich an den Ergebnissen der Wissenschaft orientieren muss. Doch das ist nur die eine Seite. Es gibt auch eine gegenläufige Tendenz. Diese findet man in den Begriff von der Verantwortung des Wissenschaftlers und der Zweckmäßigkeit der Ergebnisse.

Verantwortung

Bleiben wir bei der Problematisierung dieses Begriffs. Ich gestehe, dass ich mit diesem Begriff große Probleme habe. Die Verantwortung beruht auf der Annahme, dass es zuverlässige Kriterien gibt, wie Handeln in der Gesellschaft wirkt. Grundsätzlich muss man hier aber sagen, dass die Aufgabe der Wissenschaft die Erforschung von Zusammenhängen ist, seien diese auf der Ebene subatomarer Teilchen, seien diese auf der Ebene von Individualisierungsprozessen in Subkulturen bezogen. Zweckmäßigerweise muss die Wissenschaft, um Wahrscheinlichkeiten zu überprüfen, Laborbedingungen schaffen. Solche Laborbedingungen gelten auch für all die Prozesse, die man im Labor nicht ablaufen lassen kann, wie zum Beispiel Prozesse der Integration von Behinderten, Stigmatisierungen von jugendlichen Kriminellen oder Prozesse parteiinterne Entscheidungen.
Der Einfluss von Untersuchungen auf solche offenen Systeme ist schwierig zu kontrollieren.

Zweckmäßigkeit

Mit genau der gleichen Skepsis muss man dann die Zweckmäßigkeit von Forschung betrachten.

Grundlagenwissenschaft

Bedingt kann man hier eine erste Lösung durch die Trennung von Grundlagenwissenschaft und angewandter Wissenschaft postulieren. Die Grundlagenwissenschaft erforscht rein objektive Zusammenhänge. Die angewandte Wissenschaft sucht nach Wegen, dieses Wissen der Grundlagenwissenschaft fruchtbar zu machen.
Wenn ein Team aus Wissenschaftlern nach neuen Möglichkeiten sucht, Halbleiter-Legierungen auf Platinen aufzudampfen, dann werden sie zuallererst ihre Forschung an anderen, „grundlegenderen“ wissenschaftlichen Ergebnissen orientieren.

Die Transformation wissenschaftlicher Ergebnisse

Sinn und Zweck solcher neuen Techniken definieren sich aber nach ganz anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen. So kann ein positives Ergebnis einen ökonomischen Vorteil bringen. Der ökonomische Vorteil hängt aber nicht eine Sekunde von den physikalischen Bedingungen ab.
Genauso wenig kann man die Internet-Revolution als ein physikalisches Ereignis bezeichnen, auch wenn sie durch die Ergebnisse der Physik erst möglich geworden sind.
Anders gesagt: zwischen Verursachen und Ermöglichen besteht ein großer Unterschied. Er ist vermutlich immer qualitativer Natur.

Die Einheit der Kommunikation

Was haben die beiden Referenten getan, als sie der Wissenschaftskommunikation einen deutlichen Dämpfer erteilt haben? Sie haben daran gezweifelt, dass Wissenschaftskommunikation an sich gut sei. Aber die Antwort ist eigentlich klar: Nicht die Kommunikation ist schlecht (sie ist Bedingung für Gesellschaft), sondern bestimmte Formen der Kommunikation sind mehr oder weniger günstig. Jens Rehländer erinnert daran, indem er einen kurzen Streifzug durch die Landschaft der wissenschaftlichen Kommunikation, durch ihre Brüche und ihre Institutionalisierungen wagt.
Niklas Luhmann erinnert daran, wenn er die Kommunikation in ihrem grundlegenden Element auf eine einfache Unterscheidung zurückführt, daran aber dann seine umfassenden Untersuchungen anschließt, wie solche einfachen Unterscheidungen in einen Zusammenhang und damit in verschiedenen Formen gebracht werden.

Systemgrenzen

Folgen wir weiter der Systemtheorie von Niklas Luhmann, dann besteht eine differenzierte Gesellschaft aus verschieden differenzierten Kommunikationen; diese Kommunikationen bilden dann, sobald sie unter eine Leitdifferenz gebracht worden sind, verschiedene Funktionssysteme aus. Intimsysteme bilden sich nach der Differenz des Vorhandenseins/Nicht-Vorhandenseins individualisierten Sonderwissens (Tante Erna, das ist doch die, die als neunjährige mal einen Hund gebissen hat), Interaktionssysteme durch Anwesenheit (und dementsprechend durch Abwesenheit); besonders wichtig aber sind die großen Funktionssysteme der Gesellschaft, die Wissenschaft, die sich nach der Unterscheidung wahr/unwahr, das Rechtssystem (Recht/Unrecht), usw. gebildet haben.
Alle diese Systeme, von der flüchtigen Interaktion auf dem Flur bis hin zu einer Jahrhunderte alten Rechtstradition, bilden Grenzen in der Kommunikation. An solchen Grenzen bricht sich die Operationsweise eines Systems. Sie kann diese Grenze nicht überschreiten.

Paradoxien

Entlang solcher Grenzen entstehen dann Paradoxien. Was für die Wissenschaft nützlich ist, ist für die Politik vielleicht überhaupt nicht nützlich. Und wenn die Wissenschaft ein offenes Problem sieht, kann die Wirtschaft da noch lange nicht einen Gewinn erwarten, wenn dieses Problem gelöst ist.
Jedes System operiert intern und verweist gleichzeitig auf externe Informationen. An dieser Grenze kann man Turbulenzen, Brüche und, wenn man dies zusammenfasst, Paradoxien beobachten. Wenn nämlich das Wissenschaftssystem nur intern über die Unterscheidung wahr/falsch entscheiden kann, muss sie beständig möglicherweise wahre oder falsche Aussagen in ihr System hineinholen und damit operieren. Zugleich kann die Wissenschaft damit aber auch nicht unabhängig von der Umwelt operieren. Sie braucht die Umwelt, um überhaupt Materialen zu haben, über das sie entscheiden kann.

Das Fundament der Wissenschaft

Doch natürlich betreibt Wissenschaft sich nicht selbst. Dass die Wissenschaft ein Subsystem der Gesellschaft bildet, heißt noch lange nicht, dass sie auf Menschen verzichten kann. Kommunikation ist immer Kommunikation von irgend wem. Und auch wenn psychische Systeme (Bewusstseine, Seelen) zur Umwelt der Wissenschaft gehören, so gehören sie doch zur notwendigen Umwelt.
Zur Wissenschaft gehört aber auch die Interaktion. Ohne Interaktion hätte sich nie Sprache gebildet, keine Schrift, keine Werkzeuge. Interaktion ist eine grundlegende Voraussetzung für Gesellschaft und damit auch für die Wissenschaft.
Schließlich muss eine Gesellschaft, in der eine komplexe Wissenschaft möglich ist, Organisationen bereitstellen, die für die Disziplinierung von Interaktion zuständig sind. Organisationen trennen Interaktionen und bringen diese in Form; sie verbinden diese Interaktionen in komplexere Gefüge, sodass verschiedene Aufgaben von verschiedenen Menschen wahrgenommen werden können. Vorbei sind die Zeiten, in denen ein forschender Mensch zugleich seine Finanzen und Kontakte regeln musste. Hinter jeder Forschung steckt auch ein Verwaltungsapparat. Das Zusammenspiel wird durch organisationsinterne Entscheidungen geregelt.

Wissenschaftskommunikation

Kehren wir zu diesem Begriff zurück, dann bezeichnet er im Prinzip eine Tautologie. Wissenschaft ist, sofern sie heute existiert, nur durch Kommunikation möglich. Sie ist eine Sonderform der Kommunikation und nimmt an anderen Sonderformen der Kommunikation teil.
Insofern ist es unsinnig, von der Wissenschaft mehr Kommunikation zu fordern. Das käme auf das gleiche hinaus, wie von einer Frau mehr Frausein zu fordern. Eine Frau ist eine Frau. Und wenn man von ihr mehr Frausein fordert, dann meint man damit etwas anderes.

Fazit

Ich benutze dieses Wort, also Fazit, gerne, wenn ich eine Diskussion abbrechen möchte. So auch diesmal. Es gibt zu dem Thema viele Aspekte zu diskutieren. Es gibt einiges, was im Argen liegt. Vor drei Jahren hatte ich kurzzeitig einen Kunden, mit dem ich einen recht intensiven E-Mail-Wechsel hatte. Daraus ist jetzt, in diesem Frühjahr und Sommer, bedingt allerdings, seine Diplomarbeit entstanden. Gelegentlich hat er mir, weshalb das Beispiel gerade für mich aktuell ist, Passagen daraus zugeschickt. Diese Arbeit behandelt ein sonderpädagogisches Thema. Der Kunde zeigt hier sehr deutlich, dass sozialwissenschaftliche Forschungen mit massiven Kommunikationsproblemen rechnen müssen. Das liegt nicht nur daran, dass die Opfer der Sozialwissenschaftler, also ihre Forschungsobjekte, gelegentlich eine eigene Meinung zu ihrem Zustand besitzen.
All das muss bedacht werden. Und je weiter sich eine Wissenschaft von einem „unkommunikativen“ Medium entfernt und stattdessen „kommunikative“ Medien untersucht, umso eher hat sie sich Rückkopplungen und seltsamen Schleifen einzulassen.
So ist auch die Aufregung der Wissenschaftskommunikatoren zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Vermittler von Wissenschaft plötzlich selbst zu Objekten werden und feststellen müssen, dass sie einer Paradoxie aufsitzen, die sich ohne sie gebildet hat und die ohne sie auskommen könnte.

Bücherschwund (Kai Meyer und Marah Woolf)

Nein, nein; ich habe noch alle meine Bücher.
Ich bin nur gerade über das neueste Buch von Kai Meyer gestolpert. Es heißt Die Seiten der Welt.In diesem Buch werden die Bücher in ihrer Existenz bedroht. Ein junges Mädchen macht sich auf, sie zu retten. Nun könnte man das als eine Allegorie auf die Bedrohung der etablierten Verlage lesen. Man könnte es auch als eine Allegorie auf die Fantasielosigkeit des Fernsehens sehen. Man könnte es eigentlich für alles mögliche halten. Wäre da nicht eine Ähnlichkeit, die mich stört.

Kein Plagiat, aber …

Vor einem Jahr hat Marah Woolf den ersten Band ihrer Trilogie BookLess veröffentlicht. Dieser handelt von einem Mädchen, das entdeckt, dass irgendjemand die ganzen Bücher stiehlt, auf geheimnisvolle Weise, und diese nicht nur materiell gestohlen werden. Die Menschen erinnern sich plötzlich nicht mehr daran, dass es diese Bücher gegeben hat.
Nun denn. Dieser Stelle darf man sich zurücklehnen und denken: das klingt ja tatsächlich sehr ähnlich.

Wolfgang Hohlbein

Ich gestehe, dass ich Wolfgang Hohlbein in meiner Jugend sehr spannend fand. Besonders begeistert hat mich sein Roman Der wandernde Wald. Den fand ich wirklich unheimlich. Ich habe aufgehört Hohlbein zu lesen, nachdem ich während einer Busfahrt von Hamburg nach Paris seinen Wälzer Feuer gelesen habe (heißt der wirklich so? Ich habe den Titel und den Inhalt, glaube ich, erfolgreich verdrängt. Doch die Rezensionen sprechen dafür.). Jedenfalls ist das einzige, woran ich mich noch erinnere, dass der Bösewicht am Ende des Romans ein ewig langes Lamento anstimmt, warum er jetzt so böse geworden ist. Das war nun wohl die Anti-Glanzleistung in Hohlbeins Karriere schlechthin. Sie ist dann noch einmal getoppt worden, als mir eine junge Cousine eine Stelle aus dem Filmbuch Der Fluch der Karibik vorlas. Dort versucht Hohlbein seinen Lesern zu erklären, dass er gerade einen Witz gemacht hat. Tatsächlich habe ich Tränen gelacht, aber nicht, weil der Witz so witzig war, sondern die Erklärung so dämlich.

Meyers Trilogie — am Ende bleibt die Monotonie

Nun gut. Es gab dann ja, und es gibt ihn immer noch, den Kai Meyer. Eine Zeit lang fand ich ihn wirklich klasse. Die Trilogie von der Fließenden Königin ist ein hübsches, poppiges Märchen; die Muschelmagier sind stellenweise hervorragend geschrieben; mit der Trilogie um das Wolkenvolk konnte ich mich nicht mehr so anfreunden. Sie ähnelte mir zu sehr in ihrer Struktur den Muschelmagier. Als die Trilogie um die Sturmkönige in die gleiche Richtung lief, war ich gelangweilt und habe diese abgebrochen.
Meyer bietet solides Erzählhandwerk. Ohne Frage. Und wenn ihn jemand lesen möchte, bitte sehr: das ist wirklich keine Schande. Im Gegenteil. Aber ich verstehe auch jeden, der irgendwann aufhört, Kai Meyer zu lesen. Er werde monoton, so das Urteil.

Stumpfsinn im Reich der Fantasie

Zum Glück gibt es seit Jahren eine rege Szene von selfpublishern. An neuen Fantasy-Romanen herrscht kein Mangel. Hier hat sich besonders Marah Woolf etabliert. Bereits mit ihrer ersten Trilogie MondSilberLicht wurde sie sehr bekannt. Es ist auch eine sehr spannende und gut geschriebene Serie. Nun, ich darf das, aus persönlicher Vorliebe, insofern einschränken, als dass es für eine Fantasy-Autorin sehr gut geschriebene Serie ist. (Meiner einer hat gerade Emil Cioran entdeckt.)
Dabei gibt es nun ein wirkliches Problem: es gibt kaum noch wirklich neue Ideen für fantastische Geschichten. Nehmen wir zum Beispiel die ganzen Werwolf-Romane. Seit einigen Jahren werden Werwölfe in gewisser Weise stark romantisiert, wie zehn Jahre zuvor die Vampire. Doch was ist hier aus dem Werwölfen geworden? Nur die Nachfolger von dem, was in den sechziger Jahren die Piraten und edlen Räuber waren.
Woolf hat mit ihren beiden Trilogie mit Sicherheit nichts aufregend Neues geschaffen, aber sie hat ihren Geschichten einen sehr eigenen Ton gegeben. Und das ist manchmal besser als diese postmodernen Romane, deren Erzähltechniken mehr darauf hinweisen, dass die Autoren Bücher über Joyce und Kafka studiert haben, als dass sie wirklich etwas zu erzählen hätten.
Es ist nun sehr bedauerlich, dass ein namhafter Fantasy-Autor, ich meine Kai Meyer, eine solch ähnliche Idee für seine Bücher nutzt. Es ist mehr als bedauerlich. Es ist peinlich. Er schreibt für ein anderes, jüngeres Publikum. Trotzdem hätte er damit warten sollen, diese Idee mit den Büchern so kurz nach der erfolgreichen Trilogie Bookless umzusetzen.

Ein Tadel

Ich bin nicht der einzige, der dies bemerkt hat. Und ich bin nicht der erste, der sich darüber abfällig äußert. Es ist eine andere Sache, wenn ein Thriller-Autor ein erfolgreiches Buch schreibt und sich dann zahllose weniger bekannte Autoren auf ein ähnliches Thema stürzen, um auf der Welle mitzureiten. Es sind eben weniger bekannte Autoren und der Abglanz des Erfolges sollen ihnen gegönnt sein.
Aber ein Kai Meyer? Der es nun so gar nicht nötig hat?

24.09.2014

Wucherungen (ein klitzekleines Problem)

Manchmal laufen Computer nicht zu schlecht. Manchmal laufen sie einfach zu gut. Bzw. die Software darauf ist einfach zu gut abgestimmt. So in meinem Fall.
Seit ich das neue Dragon NaturallySpeaking 13 erworben habe, seit ich das neue Windows 8 begreife, seit ich meine vielen kleinen Baustellen des Kommentierens auf OneNote geordnet habe und auch noch die neueste Version von Filecenter besitze, ist das Arbeiten (bzw. das Herumstöbern in Texten) ein Kinderspiel.

Kommentare zu Kommentaren zu Kommentaren

Ich hatte es bereits geschrieben: ich lese gerade wieder Die Wurzeln der Referenz von William von Orman Quine. Ältere Kommentare dazu befinden sich bereits in meinem Zettelkasten, mit Stichwörtern versehen und in entsprechend vielfältig verlinkt. Wenn ich ein Werk ein zweites Mal durchkommentiere, dann setze ich unseren Zettel als Nachfolger für die bereits beschriebenen, wodurch sich neben der Verlinkung über Stichwörter und der Abfolge der Zettel durch Nummerierung eine dritte Ordnung ergibt. Um diese dritte Ordnung zu sehen, gibt es ein praktisches Fenster im Zettelkasten. Darin sind die Nachfolgezetteln in Form von kleinen Strukturbäumen dargestellt und lassen sich leicht heraussuchen.

Wuchern

Wuchern war eines der Lieblingswörter meiner Professorin für Literaturwissenschaft, neben dem Wort Mäandern (manchmal versuchte sie auch ein Tafelbild zu zeichnen, blieb dann aber meistens dabei stehen, mit der Kreide energisch auf die Tafel zu pochen, was lediglich einen Punkt ergab).
Nun, jedenfalls wuchert gerade mein Zettelkasten. Und natürlich entdecke ich dabei alle meine früheren Kommentare, sodass ich nicht nur einige Passagen aus dem Quine erneut kommentieren, sondern auch meine eigenen Kommentare, diese wiederum und dann noch einmal. Tatsächlich befinde ich mich in der fünften Reihe, wenn ich die letzten Kommentare betrachte.

Ich schreibe ja gar nichts (Lob des Zettelkastens)

So gesehen ist das Volumen meiner Veröffentlichungen geradezu mager. Es strebt mehr oder weniger den Nichts zu.
Gelegentlich lasse ich mir einen Teil meines Zettelkastens in eine Datei transformieren. Der erste Zettel einer solchen Datei ist immer der erste Zettel, den ich am Anfang des Jahres in den Zettelkasten eingefügt habe. So kann ich sehen, wie viele Wörter seit Jahresbeginn in meinem Zettelkasten geflossen sind. Obwohl ich seit Anfang Juni kaum mit ihm gearbeitet habe, waren es doch über 1 Millionen Wörter. Und gerade im Moment, da ich wieder ein wenig Zeit habe, ist es großartig, durch ihn ein sowohl geordnetes wie mehrfach vernetztes Chaos vorliegen zu haben.

Nicht-aufhören-können (Fluch des Zettelkastens)

Es geht nicht. Bei all den Ideen, die der Zettelkasten an mich heranträgt, bei all den Verweisen, die auf neue Fragen hinweisen, ist es fast unmöglich, nicht weiterzuschreiben. Und gerade im Moment kommentiere ich weniger, als dass ich Argumentationsfolgen nachgehe. So sind mir heute, fast nebenbei, mehrere Texte entstanden, die 4-5 Seiten Umfang haben.

Empfehlungen für Akademiker und andere Schreibende

Es nervt mich ja manchmal, wenn ich sehe, wie träge die etablierten Akademiker ihre Texte veröffentlichen. Hätte ich ein solches Arbeitspensum, wäre ich längst verhungert. Sehe ich mir dann manchmal die Inhalte genauer an, dann werde ich erst recht ärgerlich. Da ist manchmal überhaupt keine Bewegung mehr drin. Im Gegenteil: schlecht geschrieben und kaum durchdacht.
Ich kann also nur empfehlen, die modernen Medien stärker zu nutzen, für alle, die schreiben. Die wenigsten Akademiker führen Blogs. Wer auf einen guten Fundus an Literatur zurückgreifen kann, dem dürfte es eigentlich nicht schwer fallen, auf diesen eine gute Mischung aus Vermittlung von Fachwissen und Alltagsbeobachtungen hinzubekommen. Schließlich sind Akademiker auch dazu dar, ihr komplexes Wissen der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Dafür werden sie bezahlt. Ihr Auftrag lautet nicht nur Bildung und Forschung, sondern im weiteren Sinne auch Aufklärung. Die wenigsten sind dazu bereit. Vielen scheint dieser Gedanke sogar völlig fremd zu sein.
Wenn sich schon der klassische Buchhandel kaum mit den neuen Medien anfreunden kann, so gilt dies noch mehr für die akademische Welt. Mehr und mehr findet man mittlerweile gut recherchierte Artikel von Laien und themenspezifische Blogs. Es könnte sein, dass sich die Zukunft der Bildung außerhalb von den Unis bewegen wird.