11.10.2014

Dialoge schreiben: Körperräume und Seelenwelten

Dialoge und andere Textmuster in einer Erzählung

In den letzten beiden Artikeln hatte ich zunächst formale Elemente des Dialogs erörtert. So besteht ein Dialog aus verschiedenen Redeanteilen (siehe Dialoge schreiben I). Das ist der rein strukturelle Aufbau. Diese Redeanteile werden markiert, also bestimmten Personen zugeordnet, und dies gehört in den Bereich der Leserorientierung. Schließlich werden die Redeanteile aber auch noch qualifiziert, was zum einen für die Figuren Charakterisierung eine Rolle spielt, zum anderen aber auch für den Spannungsaufbau (siehe Dialoge schreiben II).
Bevor wir uns vor allem mit der Charakterisierung und den Spannungsaufbau intensiver beschäftigen, müssen wir noch einige grundsätzliche Fragen klären. Ich weiß, dass ich dies schon öfter in meinem Blog getan habe, und insofern werde ich hier auch einigen Lesern nichts Neues erzählen. Trotzdem ist dies zur Einschätzung für die folgenden Teile nützlich.

Zeit und Raum

In der Grundschule und in den weiterführenden Schulen werden in der Schreibdidaktik verschiedene Textmuster vermittelt. Diese bauen allerdings auf einer großen Opposition auf. In der Grundschule lernt man zum Beispiel das Schreiben von Erlebniserzählungen, Fantasiegeschichten, Bildbeschreibungen, Inhaltsangaben, usw.
Ganz grundsätzlich kann man diese in Texte einteilen, die einen Zustand in den Mittelpunkt stellen, und in Texte, die eine Abfolge, eine Veränderung in den Vordergrund rücken. Ganz abstrakt gesehen kommen die einen Texte ohne einen zeitlichen Bezug aus, und die anderen Texte ohne einen räumlichen Bezug.
In gewissem Sinne finden wir Schriftsteller darin auch die Unterscheidung von Setting und Plot wieder.
Nun ist das allerdings eine sehr abstrakte Unterscheidung. Jede Abfolge findet in einem Raum stand, und in jedem Raum kann man Bewegungen finden.

Zeit und Raum in der Erzählung

So gesehen sind Erzählungen Mischformen, die sich mal mehr auf die eine und mal mehr auf die andere Seite neigen. In jedem Roman gibt es Beschreibungen, die fast ohne zeitlichen Bezug auskommen. Aber es gibt häufig auch sehr handlungsreiche Passagen, die vor allem auf eine zeitliche Abfolge Wert legen.

Räume bei Stephen King

Stephen King beschreibt äußerst selten Räume, ohne eine Handlung mitlaufen zu lassen. Ich hatte dies schon einmal anhand des Thrillers Lost World (Michael Crichton) ausführlicher geschildert. Ich spreche in diesem Fall von einer Verortung, bzw. einer Verortung des Individuums. Stephen King benutzt sehr häufig dieselbe Technik, wohl auch, um allzu statische Passagen zu vermeiden:
Sie legten die blutigen Putzlappen in eine Tragetasche, nahmen etwas Waschpulver mit und begaben sich in die Kleen-Kloze-Wäscherei an der Ecke Main und Cony Street. Zwei Blöcke weiter konnten sie den Kanal in der heißen Nachmittagssonne leuchtend blau funkeln sehen.
Bis auf eine Frau in weißer Schwesterntracht, die ihre Sachen gerade trocknete, war die Wäscherei leer. Die Frau warf den Kindern einen argwöhnischen Blick zu und schaute dann wieder in ihr Taschentuch …
Es, 421
In dieser kurzen Passage liefert King kurze Schlaglichter auf die Umgebung. Und obwohl sich wenig ändert, sind die Figuren ständig am Handeln.

Verortung

Machen wir die Probe aufs Exempel. Lest zunächst den folgenden Abschnitt:
Das Buch war in helles Leder gehüllt. Der goldene Rand der Seiten glänzte im Licht. Ein Lederriemen mit einer Schnalle verschloss das Buch. Sobald man es aufschlug, zeigten sich verschlungene, kunstvoll gemalte Buchstaben, die in Kästen zwischen Blumenornamenten die Erlösung der Welt ankündigten.
Das ist nicht die schlechteste Beschreibung, denn in gewisser Weise enthält auch sie noch aktive Verben, aber in keinem Satz wird auf eine konkrete Person oder gar eine Figur des Romans Bezug genommen. Natürlich habe ich hier dieses Beispiel konstruiert, aber man findet ähnliche Beispiele häufig. Generell ist dagegen gar nichts zu sagen, aber wenn es um präzise Wirkungen geht, ist es doch hilfreich, sich Alternativen zu überlegen, die eine andere Wirkung erzeugen. Hier ist nun eine solche Alternative:
Jenny strich über das weiche Leder, das das Buch einhüllte. Sie öffnete die Schnalle und zog das Lederband heraus, das die Buchdeckel geschlossen hielt. Ein Gefühl unbändiger Freude überflutete sie. Gleich würde sie das Geheimnis lüften, das sie so lange gequält hatte; gleich würde sie erfahren, wer Adrian wirklich war. Doch dann zögerte sie. Sie wollte nicht den goldenen Rand des Buchschnitts verletzen.
Wir können hier abbrechen, denn der Unterschied wird wohl deutlich sein. Das erste Beispiel ist eine statische Beschreibung, die einen Gegenstand in den Mittelpunkt stellt. Das zweite Beispiel positioniert eine Figur in der Welt. Der Gegenstand wird nebenbei beschrieben. Zugleich wird ein Charakter dargestellt. Das Ganze wird über Handlungen ineinander verzahnt. (Übrigens ist das zweite Beispiel auch nicht sonderlich gut: es enthält zu viele Relativsätze und wirkt dadurch monoton.)

Körperräume

Prinzipiell gibt es zwei Formen der Verortung, auch wenn sich diese wiederum ineinander vermischen. Die eine Verortung betrifft den Körper im Raum. Eine Figur befindet sich an einer bestimmten Stelle im Raum. Sie nimmt diesen Raum sinnlich wahr:
Er fuhr mit dem Rad die Witcham Street entlang und bog dann nach Nordwesten ab. Die Christian Day School, die normalerweise nur Neibolt-Schule genannt wurde, stand hier draußen, an der Ecke Neibolt Street und Route 2. Es war ein etwas schäbiges, aber sauberes Fachwerkhaus mit einem großen Kreuz auf dem Dach, und über der Eingangstür stand in vergoldeten Lettern: Lasset die Kinder zu mir kommen. Manchmal hörte Eddie samstags, dass dort Harmonium gespielt und dazu gesungen wurde — flotte Gospelmusik, von der Eddie kaum glauben konnte, dass es sich dabei um religiöse Lieder handelte. Manchmal stellte er dann sein Rad auf der anderen Straßenseite ab, setzte sich unter einen Baum und tat so, als lese er dort, während er in Wirklichkeit dieser Musik lauschte.
Es, 312
Zu Beginn dieser Passage ist Eddie ein Körper, der in einem Raum handelt und einen Raum wahrnimmt. Nach dem Geviertstrich gleitet der Text aber in eine andere Verortung über.

Seelenwelten

Während der Körper in einem Raum handelt, und in diesem Raum immer nur so handeln kann, wie es der Raum zulässt, verortet sich zugleich die Seele in der Welt über die Aufmerksamkeiten und Aufforderungen. Die Welt ist der Ort, in der die Seele etwas will. Es ist kein physikalischer, sondern ein emotionaler Raum. Und natürlich überlagern sich die beiden Räume, auch in der Erzählung:
Dann verschwand der Zug außer Sichtweite. Eddie beugte sich über die Kiste. Er hatte Angst, ihr zu nahe zu kommen. Dort drin war etwas Lebendiges, etwas Schlüpfriges, Kriechendes. Bring sie heim zu deiner Mutter, hatte der Eisenbahner gerufen. Eddie klaute ein Stück Schnur aus einem der leeren Lagerhäuser und band die Kiste auf seinem Gepäckträger fest. Seine Mutter öffnete sie vorsichtig und stieß einen Schrei aus — nicht vor Angst, sondern vor Freude. Vier Hummer lagen in der Kiste, große Zweipfünder mit zusammengebundenen Scheren. Sie kochte sie zum Abendessen und ärgerte sich, dass Eddie nichts davon essen wollte.
Es, 313
Seelenwelten sind Orte der Wünsche und Aufforderungen, Befehle und Pflichten, Freuden und Ängsten. Sie verschränken sich mit den Körperräumen.

Begegnungen mit fremden Wünschen

Wir können jetzt ungefähr bestimmen, wozu Dialoge ganz abstrakt notwendig sind. In einem Dialog begegnet eine Figur einem fremden Wunsch, einem fremden Bedürfnis. Das ist zwar nicht immer so, aber in sehr vielen Fällen. In längeren Dialogen kann man dies aber tatsächlich als eiserne Regel festhalten. Wenn in einem Dialog nicht zwei unterschiedliche Wünsche aufeinandertreffen, werden diese rasch hölzern. Und nur bei kurzen Dialogen kann man auch ganz andere Funktionen finden, wie zum Beispiel die Information des Lesers oder als reine Charakterisierung einer Figur.
Doch das werden wir uns alles später noch einmal genauer ansehen: in den folgenden Artikeln zum Dialogschreiben.

Zum nächsten Artikel: Motive und Konflikte im Dialog.

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