30.12.2015

Eitelkeit (oder auch Arroganz)

Zu den Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am schwersten zu begreifen sind, gehört die Eitelkeit: er wird versucht sein, sie noch dort zu leugnen, wo eine andre Art Mensch sie mit beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für ihn, sich Wesen vorzustellen, die eine gute Meinung über sich zu erwecken suchen, welche sie selbst von sich nicht haben – und also auch nicht „verdienen“ –, und die doch hintendrein an diese gute Meinung selber glauben. Das erscheint ihm zur Hälfte so geschmacklos und unehrerbietig vor sich selbst, zur anderen Hälfte so barock-unvernünftig, dass er die Eitelkeit gern als Ausnahme fassen möchte und sie in den meisten Fällen, wo man von ihr redet, anzweifelt.
Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, S. 212 (KSA V)
Dies habe ich schon lange nicht mehr gelesen; mich erinnert das gerade sehr an meine Ex-Frau, wie sie vor mir herum getänzelt ist, nachdem sie ihr Diplom in Kriminologie erworben hatte, und meinte, sie hätte es geschafft. Im Nachhinein kann ich darüber nur lächeln. Damals fand ich es ziemlich beleidigend: für meine Hilfe habe ich kein einziges Dankeschön bekommen, und was habe ich geholfen! Der theoretische Kernbau der Arbeit, die systemtheoretische Betrachtung, stammt gänzlich von mir; und was ich am Rest der Arbeit herumgeflickt habe! Ich weiß nicht, wie viele Zitate ich nicht wiedergefunden habe, die sie in den Fußnoten aufgeführt hat. Da ist ihr ganz grundlegend etwas durcheinander gelaufen. Einige wenige habe ich dann noch gefunden, die meisten habe ich ersetzt (ich habe damals noch nicht meinen elektronischen Zettelkasten geführt, der mir dabei wahrscheinlich wesentlich bessere Dienste geleistet hätte).

Nietzsche und die Frauen

Dazu ist ja nun vielerlei geschrieben worden. Seltsam dabei ist, dass Nietzsche mit einigen führenden Frauenrechtlerinnen (insbesondere Malwida von Meisenbug) befreundet war. 1874 stimmte Nietzsche als Einziger für die Zulassung der Frauen zum Doktorat (eine Tatsache, die meiner Ex-Frau auch heute wohl wenig nützen würde: Trotz eines zweijährigen Stipendiums und eines Fahrplans, den ich ihr 2006 auszuarbeiten geholfen habe, um nicht zu sagen abgenommen habe, ist sie weiterhin nur „wissenschaftliche Mitarbeiterin“).
Dann gibt es da noch diesen Spruch: „Du gehst zum Weibe? Vergiss nicht die Peitsche!“ – Die Frage, die eigentlich nicht gestellt wird, ist, wer die Peitsche dann benutzt. Zumindest gibt es hier eine schöne Fotografie, die Friedrich Nietzsche und Paul Rée einen Leiterwagen ziehend zeigt; auf dem Leiterwagen kniet Lou von Salomé, mit einer Peitsche in der Hand; allerdings ist die Peitsche mit Flieder geschmückt.

Der „Sklave“ im Blute des Eitlen

Es ist „der Sklave“ im Blute des Eitlen, ein Rest von der Verschmitztheit des Sklaven – und wie viel „Sklave“ ist zum Beispiel jetzt noch im Weibe rückständig [und man höre hier bitte das Wort Rückstand im Zusammenhang mit dem Wort Atavismus]! –, welcher zu guten Meinungen über sich zu verführen sucht; es ist ebenfalls der Sklave, der vor diesen Meinungen nachher sofort selbst niederfällt, wie als ob er sie nicht hervorgerufen hätte. – Und nochmals gesagt: Eitelkeit ist ein Atavismus.
Ebd., S. 214

21.12.2015

Probleme mit Unterschieden

Ach, was muss man oft von bösen Buben hören oder lesen. Zum Beispiel von Jan Fleischhauer. Dieser unterstellt den Menschen in den gar nicht mehr so neuen Bundesländern einen spezifischen Rechtspopulismus. Und gibt daraufhin recht befremdliche Thesen von sich.

Vera Lengsfeld

Nun hat auf diesen Artikel Vera Lengsfeld bereits geantwortet. Vera Lengsfeld ist ja bekannt dafür, dass sie von einigen unliebsamen Phänomenen verfolgt wurde (und eventuell noch wird). Mathematik gehört allerdings nicht dazu; zu abenteuerlich ist die Rechnung, mit der sie beweist, dass vier Fünftel aller Ostdeutschen nicht fremdenfeindlich seien. In diese abenteuerliche Rechnung schleicht sich dann auch noch die Schlussfolgerung ein, dass diejenigen, die überhaupt nicht wählen gehen, auch keine Fremdenfeinde seien. Klar, wir wissen ungefähr, wie dies gemeint ist; und auch wenn die Argumentation nicht stimmt, ist zumindest ein Teil ihres Anliegens ehrenwert: so einfach sollte es sich Jan Fleischhauer mit den "Ostdeutschen", ob rechtspopulistisch oder nicht, nicht machen; in seiner eigenen Argumentation liegt dazu zu vieles im Argen.
Lengsfeld überrascht uns dann noch mit dem Bekenntnis, dass sie 2009 aus Spaß für den Bundestag kandidiert habe. Eine solche Verzweiflung habe ich in meinem Leben noch nicht verspürt. Vielleicht kommt das ja noch.

Seltsame Worte

Wiedervereinigung

Zu einem der ganz seltsamen Worte gehört bei mir die Wiedervereinigung. Was mich an diesem Wort überrascht, ist sein Rückbezug, sein geschichtlicher, als würde man zu etwas zurückkehren oder wiederholen. Tatsächlich hat sich all das, was man irgendwie noch mit dem Deutschen verbinden könnte, in den letzten 40 Jahren zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Wiedervereinigung so deutlich verändert, dass eine solche Rückbezüglichkeit mehr als fragwürdig sein darf. Man steigt doch niemals in den gleichen Fluss, vor allem, wenn diesem bereits 40 Jahre Wasser hinuntergeflossen sind.

Radikalisieren

Radikalisierung ist ein anderer, komischer Begriff. Was genau mit ihm gemeint ist, lässt sich eigentlich nicht definieren. Nehmen wir ihn chemisch, dann bedeutet er, dass etwas einseitig aufgeladen sei. Übertragen wir dies in den politischen Bereich, dann könnte man ihn damit übersetzen, dass jemand eine einseitige Meinung habe. Ich halte dies, neuerdings, alleine schon deshalb für eine fragwürdige Ansicht, weil gerade radikale Denker eine Vielstimmigkeit in sich hüten, die nicht als einseitig, sondern als unsystematisch gewertet werden muss. Einseitig ist sie nur deshalb, weil solche Sprecher dann meist auf die einseitige Richtigkeit beharren.
Folgen mag ich dem aber deshalb nicht, weil es bestimmte Sachen gibt, die nicht aushandelbar sind, auch nicht in der Politik. Tatsachen sind nicht aushandelbar, auch nicht die Gebiete eines hervorragend plausibilisierten Wissens.

Evolution und Stalinismus

Evolution zum Beispiel ist nicht aushandelbar, nicht als wissenschaftliche Disziplin. Ökologie allerdings auch nicht (die die Biologisten, insbesondere die Männlichkeits-Theoretiker aber auch gelegentlich wissenschaftlich orientierte Christen gerne vergessen). Nicht aushandelbar ist auch der unübersehbare Bruch zwischen den Schriften von Karl Marx und dem Terror des Stalinismus. Dass ich beide für falsch halte, macht sie noch nicht gleich. Ich halte sie aus sehr unterschiedlichen Gründen für falsch; und zumindest bei Karl Marx finden sich Erkenntnisse, die, umformuliert, auch von Nicht-Marxisten hervorgebracht werden.
Ob der Stalinismus schlimmer sei als der Nationalsozialismus? Ich mag, was das angeht, meinen Ekel vor dem einen und meinen Ekel vor dem anderen nicht vergleichen müssen. Es gibt doch zu viele Möglichkeiten, alternativ zu beidem zu leben, und dass die einen Opfer mehr geschützt werden müssten als die anderen, halte ich schlichtweg für zynisch. Manchmal braucht man keine Tatsachen. Dort, wo eine Schmerzgrenze zu deutlich überschritten ist.

Die politische Mitte

Der Gesellschaft würde die politische Mitte verloren gehen. Mitte ist in diesem Fall natürlich nur eine Metapher. Gelegentlich habe ich mal angefragt, was denn unmetaphorisch damit zu verstehen sei. Die Antwort ist äußerst verschieden ausgefallen. Man könnte das Ganze dann dahingehend zusammenfassen, dass Mitte eben irgendwo sei, vornehmlich dort, wo der Befragte selber stehe. Das ist dann wohl auch eine radikale Ansicht, nämlich radikal blöde.

Kulturell oder sozial

Vollends gestolpert ich dann aber über folgenden Satz von Fleischhauer:
Das zentrale Versprechen ist Homogenität, das ist das Wort, um das ja alles kreist. Die einen versprechen soziale Homogenität, die anderen kulturelle. Gegen zu viel Ungleichheit sind beide.
Abgesehen davon, dass ich nicht verstanden habe, wie sich das Soziale von dem Kulturellen abgrenzen ließe, ist es doch offensichtlich absurd, eine Radikalisierung der Gesellschaft zu beklagen, und gleichzeitig diejenigen zu tadeln, die gegen zu viel Ungleichheit seien. Fragt sich dann nur noch, ob Fleischhauer ein verkappter AfDler oder ein verkappter Linker ist. Wenn er dann weiter unten auch noch von der „Abwesenheit jedes christlichen Bewusstseins“ in Ostdeutschland (außerhalb des Kirchenmilieus) redet, wird mir vollends schlecht. Fleischhauer zeigt, aber das ist ja nichts Neues, auf andere, und scheint dabei doch nur sich selbst zu meinen:
Die größten Kritiker der Elche
sind leider meistens selber welche.

Hoho, Christentum

Schließlich: hat das Christentum nicht doch auch irgendwie seine vereinheitlichenden Werte und Vorstellungen? Ist es nicht in gewisser Weise auch homogen? Vielleicht. Eventuell würde ein Matthias Matussek hier Beifall klatschen; ein Kirchenhistoriker würde mindestens ein saures Gesicht ziehen. So stelle ich mir das jedenfalls vor.
Im letzten Teil des Artikels stört mich allerdings vorzugsweise, dass die Weltoffenheit an den (christlichen) Glauben zurückgebunden wird, und die „Heilung des spezifisch ostdeutschen Populismus“ an die „Remissionierung des deutschen Ostens“ (die ersten Worte in Gänsefüßchen zeigen eine Paraphrasierung, die zweiten ein direktes Zitat an). Letztlich scheint er dann aber wieder alles zurückzunehmen, bezeichnet auch viele Muslime als weltoffen und demokratisch, und dann könnte man ja vielleicht mit Fleischhauer doch noch für eine Islamisierung Deutschlands sein.
Weder das eine noch das andere würde mich begeistern. Beeindruckender fände ich allerdings, wenn unsere Leitkolumnisten gelegentlich etwas mehr darüber nachdenken würden, was sie dort so an buntem Flickenteppich zusammenschreiben.
Womit ich dann Jan Fleischhauer ganz offiziell der Kategorie ›böse Buben‹ überantworte.

Kurze und lange Sätze mit Stephan Waldscheidt

Gelegentlich liebe ich ihn, gelegentlich finde ich für ihn nur Verachtung. Stephan Waldscheidt, Autor und Textcoach. Gerade lese ich von ihm einen Text über Sätze.
He missed the point, möchte ich behaupten. Und wenn man den Nährwert seines Textes ansieht, dann geht dieser gegen null. Gut seien kurze Sätze, wobei man längere Sätze nicht unbedingt verachten müsse.

Syntax und Satzsemantik

Äußere und innere Struktur

Richtiger ist das so: die Schulgrammatik, bzw. die formale Grammatik, stellt die äußere Struktur der Sprache dar, in Form von Regeln und Ausnahmen. Für den Satz gibt es hier die Teildisziplin der Syntax. Diese äußere Struktur hängt mit einer inneren Struktur zusammen. Die innere Struktur wird von der Semantik beschrieben, im Falle des Satzes von der Satzsemantik. Semantik, so lässt sich das in Kurzform sagen, ist die Lehre von der Bedeutung. Sätze haben eine äußere, grammatische Struktur, und eine innere, semantische.
Nun liest niemand einen Satz, weil er eine so schöne äußere Struktur hat. Sätze sind dadurch attraktiv, dass sie eine Bedeutung transportieren. Transportieren darf hier nicht allzu wörtlich genommen werden, denn wenn man tiefer in das Gebiet der Semantik eindringt, dann stellt sich der Sachverhalt als wesentlich komplexer dar: ein Satz ist kein Paket, dessen Hülle durch die Grammatik und dessen Inhalt durch die Semantik bestimmt wird.

Innere Logik

Solange wir zu einem Satz eine innere Logik aufbauen können, solange sind wir mit dem Satz einverstanden. Schwierig wird es erst, wenn wir nicht mehr zu einem guten Zusammenhang finden. Dann mag der Satz zwar grammatisch korrekt erscheinen, aber inhaltlich unklar.
Was aber ist eine solche innere Logik? Dies ist nicht mehr ganz so einfach zu beantworten; bleiben wir bei den Schriftstellern, also jenem Metier, auf die Stephan Waldscheidt mit seinem Artikel abzielt, können wir tatsächlich auf eine langgepflegte Tradition zurückblicken. Die innere Logik stolpert nicht, wenn der Schriftsteller uns mit den vier typischen Formen des semantischen Gedächtnisses beliefert. Dies sind: die Proposition, das Bild, die Handlungsfolge und das Begriffsnetz (ich wähle hier noch ein möglichst einfaches Vokabular).

Das semantische Gedächtnis

Mit diesem Begriff bezeichnet man die Erinnerung von Bedeutungen. Wissenschaftlich gesehen ist es ein Konstrukt, dessen Vorhandensein nie wirklich bewiesen werden konnte. Da es aber so gut für Erklärungen taugte und auch in der Praxis hervorragend genutzt werden konnte (zum Beispiel in der Pädagogik), gehört es heute zu den Feld-, Wald- und Wiesenmodellen der Psychologie.

Die Proposition

Die Proposition ist ein gedachter Satz, genauer: das mentale Abbild eines Satzes. Im Mittelpunkt steht ein Verb, wobei aktive Verben für das Erinnern besonders günstig sind; dazu gesellen sich so genannte Aktanten, die in etwa mit den Satzteilen deckungsgleich sind. Aus der Psychologie wissen wir auch, dass ein Mensch ungefähr vier Elemente gleichzeitig überblickt, woraus man folgern kann, dass ein Satz vorzugsweise aus vier Satzteilen oder weniger bestehen sollte.

Das Bild

Als Komplex, komplexive Vernetzung, Image und noch unter einigen anderen Bezeichnungen findet man eine Art von Bild als Gedächtnistyp. Bilder kann man sich zunächst eben tatsächlich wie Bilder vorstellen. Sie bestehen aus einer Anordnung von verschiedenen, meist visuellen Elementen: Hier stehe ich, mit meinem Gewehr in der Hand, und überblicke die sanft gewellten Hügel bis hin zu der Triceratops-Herde jenseits des Flusses, dessen silbernes Band das dichte Grün der Wiesen zerschneidet.
Obwohl dieser letzte Satz deutlich über das Richtmaß für die Länge eines Satzes hinausgeht, macht dieser Satz doch keine Mühe, da das Bild konkret und vorstellbar bleibt.
Offensichtlich schafft es dieser Gedächtnistyp, eine größere Anzahl von Elementen zu vereinen und dadurch auch längere Sätze zu ermöglichen.

Die Handlungsfolge

Diese findet man auch unter der Bezeichnung Skript, was eine bessere Alternative ist. Denn nicht immer geht es beim Skript um Handlungen, manchmal lediglich auch um Ereignisse. Die Elemente in einem Skript werden nicht räumlich, sondern zeitlich geordnet. James Bond lehnt sich an die Theke, bestellt sich einen Martini mit Olive, und kehrt, während er die attraktive Blondine beobachtet, die ihm gleich nach seinem Eintritt ins Casino aufgefallen ist, an den Roulette-Tisch zurück.
Hier kann man tatsächlich behaupten, dass ein geradliniger Satz eine geradlinige Handlung beschreibt. Versucht dieser, Parallelhandlungen einzubeziehen, wird er kompliziert. Dies wird euch aufgefallen sein, als ich die Parallelhandlung Blondine-beobachten eingeführt habe. Ist eine Handlung allerdings geradlinig, kann der Satz durchaus länger werden, ohne an leichtgängigem Verständnis zu verlieren.

Das Begriffsnetz

Begriffsnetze sind vielleicht am problematischsten zu erklären. Wir brauchen Begriffe, um unsere Umwelt zu erfassen. Einfach gesagt kombinieren Begriffe Wahrnehmungen und mögliche Handlungen. Um zum Beispiel einen Teller als Begriff zu besitzen, muss ich wissen, wie ein Teller aussieht, und was ich mit ihm tun kann. Demnach kombinieren Begriffe Bilder und Handlungsfolgen und unterscheiden sich damit kaum von diesen Gedächtnistypen. Deutlicher werden Begriffsnetze dann, wenn sie sich vom Alltag entfernen, zum Beispiel in einer wissenschaftlichen Disziplin mit ihren Fachbegriffen. Begriffsnetze hängen damit eng mit der Spezialisierung zusammen.
Deutlich wird dies auch darin, dass ein Sachverständiger in seiner Disziplin längere Sätze leichter lesen kann, als ein Laie.

Was heißt das für die Praxis?

Zunächst ist ein Schriftsteller damit gut beraten, einfach zu schreiben. Die Sätze sollten mäßig lang sein, die Sprache bildhaft, die Bilder geordnet, die Handlungen nachvollziehbar und nicht zu ungewöhnlich; Fachbegriffe in eigenen (erzählenden) Texten sollten besonders kritisch beäugt werden.
Das sind allerdings noch die relativ groben, die bereits gut bekannten Tipps.
Schaut man sich große Schriftsteller genauer an, dann verflechten die Sätze sich untereinander und bilden größere Einheiten. Das sind die sogenannten Textmuster, die in erzählenden Texten dann natürlich Erzählmuster heißen. Und hier sind eine ganze Menge Möglichkeiten gegeben, um auch längere Sätze vorzubereiten und nachzubearbeiten.

Verknotungen

Betrachten wir folgenden Satz aus Kai Meyers Roman Die Wellenläufer:
Die beiden Boote des Spaniers befanden sich an den Seiten des Rumpfes; eines war von einer Kugel der Maddy gestreift worden, ein Teil der Aufhängung war zerfetzt, und nun schaukelte das kleine Boot bei jeder Erschütterung gegen den mächtigen Rumpf und erzeugte dunkle, hohle Laute. (S. 8)
Dieser Satz ist relativ lang. Bis Meyer ihn allerdings schreibt, hat er bereits die Umgebung umfassender geschildert. Dies alles ist in relativ kurzen Sätzen geschehen. Der zitierte Satz ist der bis dahin längste. Auffällig an dem Beginn dieses Romans ist dann auch, dass die Sätze nach und nach länger werden, dass sich, nach einigen recht kurzen Sätzen, immer längere einschleichen. Allerdings überwiegen die einfachen Sätze. Die längeren Sätze haben dabei auch die Aufgabe, die kürzeren gelegentlich zusammenzufassen und dadurch Ereignisse zu verknoten.

Informationswert

Vergleicht man aber, wie neu die Informationen sind, die der oben zitierte Satz liefert, dann kann man sagen, dass der Leser wenig Neues erfährt. Bekanntes wird lediglich in etwas anderen Worten ausgedrückt. Dagegen ist der Zusammenhang der einzelnen Satzteile, bzw. des dahinter stehenden Bildes, neu. Die kurzen Sätze führen neue Elemente ein, die langen Sätze neue Konstellationen; beides in Bezug auf den Leser gesehen: denn es geht hier nicht darum, dass der Leser sich etwas noch nicht denken könne, sondern dass er diese Situation noch nicht wissen kann. Eine Erzählung mag etwas ganz gewöhnliches schildern, etwas, was jeder Mensch jeden Tag erlebt; und trotzdem darf der Autor nicht über solche Situationen hinwegspringen, weil der Leser noch nicht wissen kann, ob seine Alltagserfahrung auch in diesem Roman gilt.
Daraus kann man einen Schreibtipp erstellen:
Schildere neue Elemente (eine Seeschlacht, einen Klassenraum, das Schmieden eines Schwerts) in kurzen Sätzen, den Zusammenhang dagegen in längeren; die Länge sollte allerdings dem Zusammenhang angemessen bleiben.

Zusammenfassung: Tipps für Autoren

Schreibe kurze Sätze! (Achte auf die 4-Elemente-Regel der Aufmerksamkeit.)
Ganz konkrete Bilder erlauben dir das Schreiben längerer Sätze.
Gut vorbereitete Elemente (Gegenstände, Ereignisse, Personen, Handlungen) ermöglichen nicht nur längere Sätze (mit diesen Elementen), sondern erfordern sie sogar, um all diese Elemente in einen Zusammenhang zu bringen. – Allerdings ist gerade der letzte Tipp nicht einfach nur den Sätzen aufzubürden, sondern insgesamt den Wörtern, Sätzen und Textmustern. Die Wörter müssen zu der Gesamtbedeutung passen, die Sätze müssen sich in die Logik des größeren Zusammenhangs einpassen, und die Textmuster müssen diesem größeren Zusammenhang einen Rahmen geben.
Solche Tipps sind übrigens nicht beim ersten Schreiben nützlich. Sie dienen eher dazu, die eigenen Texte daraufhin zu überprüfen. Texte sind relativ komplizierte Sachen. Wollte man alle Regeln gleich richtig anwenden, müsste man viel zu viel gleichzeitig beachten. Auch Schriftsteller können eben nicht mehr als vier konkrete Elemente gleichzeitig überdenken. Deshalb plant man, schreibt drauflos und überarbeitet später.

20.12.2015

Naturalisierte Körper

Ich blättere zwischendurch in meinen Notizen zu Judith Butler. Was mir an ihren Texten auffällt, mag ein reines Übersetzungsproblem sein: Butler spricht vom Körper, meint aber, wenn man die philosophische Tradition in Deutschland berücksichtigt, den Leib.

Bilder seiner selbst

Spätestens seit Kant weiß man vom konstruktivistischen Unterbau unseres Welterlebens. Hier wird dann auch die Trennung zwischen Körper und Leib wichtig: der Leib ist die Rekonstruktion des Körpers, der Körper das nicht mehr zu erreichende Reale.
Diese Ansicht kann heute neurophysiologisch bestätigt werden: das Nervensystem innerviert zwar den ganzen Körper, aber durchaus sehr unterschiedlich. Sämtliche Muskeln sind doppelt mit Nerven durchzogen, einmal mit steuernden Nerven und einmal mit sensiblen Nerven, die den Stellungssinn des Körpers ausmachen. Natürlich ist auch die Haut mit Nervenzellen versehen, wobei es hier sensible Zonen (Lippen, Fingerspitzen, …) und weniger sensible Zonen (Rücken) gibt. Dritter im Bunde ist der Gleichgewichtssinn, der sich im Bereich des inneren Ohrs befindet.
Die daraus entstehenden Reize werden als Nervenimpulse an das Gehirn übertragen und dort vom Gehirn zu einem Körperbild rekonstruiert.

Zeit und Handlungsfähigkeit

Ein wesentliches Problem, sowohl der Philosophie wie auch der Neurophysiologie, ist die Rekonstruktion von Zeit. Damit ist auch die Körperzeit gemeint: welche Abfolgen man zum Beispiel braucht, um einen Weihnachtsstern zu basteln, ein Buch zu lesen, ein Buch zu lesen, um seinem Lehrer zu gefallen, ein Buch zu lesen, um danach selbst eins zu schreiben, ein Computerspiel zu spielen, ein Essen zu kochen, usw.
Im Gegensatz zu den einfachen Sinnesdaten sind die zeitlichen Abfolgen sehr viel stärker von den kulturellen Bedingungen geprägt. Und zwischen Menschen werden sie von Anfang an eine zentrale Stellung einnehmen: dazu gehört die Verlässlichkeit, wie die Bedürfnisse eines Neugeborenen befriedigt werden, der Blickkontakt, der Austausch des Lächelns zwischen Bezugsperson und Kind, schließlich all die dialogischen Gesten, die Ersatzleistungen, die von den kompetenteren Personen für das Kleinkind geleistet werden, dem Heranbringen der Kuscheldecke, dem Streicheln des Bauchs, …

Kultur

Die Kultur schreibt sich als Verzeitlichung sinnlicher Daten in den Aufbau des Bewusstseins ein. Zunächst. Denn von Anfang an gibt es auch ein biologisch angelegtes System, welches die Sinnesdaten sozial gewichtet: dies ist das System der geteilten Aufmerksamkeit. Säuglinge zeigen relativ schnell für das Aufmerksamkeit, wofür die Bezugsperson aufmerksam ist. Sie sind offensichtlich in der Lage, den Blick anderer Menschen zu erfassen und diesem zu folgen. Auch dies ist eine Art und Weise, wie sich die Kultur in die biologischen Grundlagen einschleicht und den kleinen Menschen von Anfang an prägt.
Eine dritte, recht grundlegende Prägung wird durch die ersten Symbolisierungen erreicht. Eine Symbolisierung erlaubt Menschen etwas zu bezeichnen, was abwesend ist, aber als vorhanden gedacht werden kann. Diese ersten Symbole scheinen Ordner zu bilden, die den Rest der Sprache um sich herum versammeln und strukturieren. Viel wichtiger aber ist, dass diese Symbole eine andere Form des Miteinander-Handelns erlauben, also eine neue Qualität in den sozialen Beziehungen. Vor allen Dingen sind Dialoge explizit sozial, da sie von etwas handeln, was materiell nicht da ist; zugleich aber sind sie durch die körperliche Präsenz des Gegenübers materiell.

Gewohnheiten

Alles, was man häufig tut, wird gedanklich abgekürzt. Das Gehirn ist ein ökonomisches Organ: wenn es Energie sparen kann, dann spart es diese ein. Wiederholungen werden nach und nach zu Handlungsautomatismen verknappt, die nicht mehr explizit gedanklich begleitet werden müssen. Mir passiert dies zum Beispiel bei bestimmten Telefonnummern: ich kann diese nicht mehr explizit abrufen, aber sobald ich ein Tastentelefon vor mir habe, kann ich sie fehlerlos eintippen.
Vieles, was wir zunächst in der Sozialisation mühsam erlernt haben, wird später zu einer Gewohnheit, von der wird gelegentlich noch nicht einmal mehr wissen, dass es eine Gewohnheit von uns ist, so selbstverständlich gebrauchen wir diese und so selbstverständlich verlassen wir uns auf sie. Ein anderes Beispiel für einen solchen Automatismus ist die Orientierung im Zahlenraum. Kinder müssen sich diesen erst mühsam erarbeiten, mit zahlreichen Fehlern und Verkennungen darin, während die Erwachsenen ihn ohne Nachdenken für komplexere Rechnungen nutzen.

Leibliche Gewohnheiten

So ist der Leib vor allem ein Abbild von Gewohnheiten. Irgendwann haben wir Laufen gelernt, aber wir wissen nicht mehr wie. Wir haben Schreiben gelernt, aber wir denken nicht darüber nach, wenn wir schreiben. Wir ziehen uns an, aber schalten unser Gehirn dabei nur ein, wenn etwas schief läuft. Kleine Kinder dagegen experimentieren mit ihren Socken und Unterhosen herum, sie kommentieren alles, was sie tun, sie zeigen stolz, was sie erreicht haben.
Über all solche Sachen, über familiäre Rituale, individuell gesetzte Ziele (die fixen Ideen kleiner Kinder: das Krokodil im Schrank, das nur nachts herauskommt und das gezähmt werden muss), konstruieren wir unseren Leib zugleich als „fungierende Ontologie“ (Peter Fuchs) und als ausführende Maschine. Wir besetzen den Körper mit Grenzen und unser motorisches System mit Wirkweisen.

Schwierigkeiten mit dem gender

Es ist klar, worauf meine Ausführungen hinlaufen: das biologische Geschlecht insistiert natürlich im Leib. Zugleich aber wird der Körper in seiner Materialität im Gehirn rekonstruiert und dort über Sprache symbolisierbar. Der Leib, so, wie wir unseren Körper denken, ist ein Gemisch aus unterschiedlichen Quellen, aus Sinnesdaten und aus bestimmten äußerlichen Einflüssen. Dass diese äußerlichen Einflüsse, wie zum Beispiel bei der geteilten Aufmerksamkeit, offensichtlich biologisch angelegt sind, heißt nicht, dass sie vom Inhalt her biologisch sind. Hier kann uns Kant helfen: bei ihm werden die Sinnesdaten von der Empfindung geliefert, aber geformt durch die spontane Arbeit der Vernunft. Ersetzen wir das kantsche Vokabular durch ein neurophysiologisches, dann liefert die Aufmerksamkeit eine biologische Form, die mit einem kulturellen Inhalt gefüllt wird.
Häufiger aber ist es umgekehrt: die Sinnesdaten werden von kulturellen Praktiken in eine Form gegossen; sie werden durch gemeinsam und schließlich alleine ausgeübte Handlungen funktionalisiert und in größere (bedingt kulturelle) Zusammenhänge eingebunden.
Damit ist auch das Problem aufgezeigt, welches eine Trennung von biologischem und kulturellem Geschlecht verursacht. Tatsächlich sind diese streng ineinander verwoben.

Heteronormativität

Unter dem Begriff der Heteronormativität werden kulturelle Phänomene verstanden, die keinen eindeutigen Ursprung haben und nicht aus einer Ursache heraus entstehen. Dieser Begriff wird zwar häufig mit dem dekonstruktivistischen Feminismus verbunden, stammt von seinen Gedanken her allerdings aus der Evolutionstheorie Darwins. Hier ist sie allerdings weniger mit der Gesetzmäßigkeit der Evolution im Großen verbunden, als mit der Ökologie: demnach besiedeln Arten bestimmte Milieus und bilden darin Populationen. Diese Population ist an ihr Milieu in einer gewissen Art und Weise angepasst. Nun dringt von außen in dieses Milieu ein Ereignis ein, welches die Population unter Druck setzt und eine stärkere Selektion bewirkt (oder umgekehrt schwächen sich die selektierenden Faktoren ab). Dadurch verändert sich die Population, allerdings nicht aus sich selbst heraus, sondern durch zufällige, ungeplante (nicht-biologische) Ereignisse. So ist ein grundlegender Zug der Evolution, dass sie aus verschiedenen Ursprüngen heraus betrachtet werden muss; sie ist heteronormativ.

Kulturelle Evolution

Auch die kulturelle Evolution muss aus diesem Blickwinkel betrachtet werden: so hat der zunehmende Handel im frühen Mittelalter zu einem stärkeren Austausch zwischen breiteren Bevölkerungsschichten geführt und damit einen Druck auf die Entwicklung von komplexeren Verständigungsmöglichkeiten auf der Basis einer gemeinsamen Sprache ausgeübt. Zugleich hat der Handel Materialien zugänglich gemacht, die vorher häufig nur vom nahe liegenden Kloster oder dem entsprechenden Landesherren zur Verfügung gestellt werden konnten. Damit hat sich nach und nach eine erste „bürgerliche“ Schicht verselbstständigt, die wiederum zu einer allmählichen Ablösung von der lateinischen Sprache geführt hat, zu ersten altdeutschen Dichtungen, zu fahrenden Sängern und hier wieder zu einer neuen Art der Beziehung zwischen Mann und Frau, der höfischen Minne.
An diesem Beispiel, welches ich hier allerdings sehr verkürzt wiedergebe, mag man ermessen, wie bedingungsreich und in wie vielen Wechselwirkungen sich eine Kultur verändert.

Frauenleiber

Die Wechselwirkungen zwischen der Rekonstruktion des eigenen Körpers und der umgebenden Kultur unterliegen historischen Wandlungen. Man kann zwar mit Sicherheit annehmen, dass die Sinneszellen noch genauso funktionieren wie vor 100.000 Jahren, aber die weitere Einbindung, zum Beispiel in Handlungsabfolgen, in der gemeinsamen Gewichtung von Wesentlichem und in der Art und Weise, wie diese dann symbolisiert werden, hat sich in den letzten 2000 Jahren vielfach und zum Teil gravierend verändert. Der Körper der Frau (aber natürlich auch der Körper des Mannes) ist dabei zugleich durch seine insistierenden biologischen Grundlagen und die durch die kulturelle Evolution bewirkten Muster geprägt. Die Leiblichkeit ist insofern heteronormativ.
In den letzten Jahrhunderten hat sich zunehmend der Glaube herausgebildet, dass Frauen dem natürlichen Prinzip näher stünden, dass sie „biologischer“ seien, während Männer das kulturelle Prinzip vertreten: Sie seien „geistvoller“, „intelligenter“, vornehmlich zur Politik, Kunst und Philosophie befähigt. Die neurophysiologische Forschung erschüttert noch einmal diesen Glauben, vielleicht ein letztes Mal im europäischen Denken.
In diesem Sinne verstehe ich auch Judith Butler: Sie erschüttert die Trennung von Natur und Kultur und damit eine alte Begründung für die Trennung und Binarisierung von biologischem und sozialem Geschlecht, die zugleich auch vorzugsweise den beiden biologischen Geschlechtern zugesprochen wird: so sei die Frau das biologisch biologische Geschlecht, während der Mann das sozial-kulturelle biologische Geschlecht sei.

Handlungsfähigkeit

Abgesehen davon, dass die Grenze zwischen sex und gender nicht eindeutig gezogen werden kann, muss sich der Leib der Formung durch die Kultur unterwerfen, da nur so gemeinsames Handeln möglich ist. Wollte man die beiden Formen, den biologischen Körper und den kulturellen Leib (um es hier mal etwas neutraler zu formulieren), radikal voneinander trennen, würde man dem Menschen seine Handlungsfähigkeit nehmen. Er müsste dann auf der einen Seite reine Sinnlichkeit bleiben, und auf der anderen Seite eine reine Form der Handlung ohne Konkretion. Dass ein solches Wesen nur schwerlich gedacht werden kann, zeigt, wie fraglos wir uns als sinnliche und handelnde Subjekte verstehen.
Das Dilemma der Subjektivierung (der Unterwerfung unter kulturelle Formen) besteht also darin, dass ein Mensch nur handlungsfähig werden kann, insofern er sich unterwirft. Die Disziplinierung ist zugleich eine Ermöglichung und Ermächtigung. Erst durch diese ursprüngliche Entmächtigung erlangt das Subjekt die Macht, in seine Umwelt handelnd und steuernd einzugreifen.
Dies schreibt aber auch Judith Butler selbst. Die Entunterwerfung kann deshalb nicht in der Art geschehen, dass man die Kultur komplett von sich abstreift. Vielmehr muss die Kultur nach und nach verschoben werden, wenn man hier andere Formen der Unterwerfung etablieren möchte, eventuell, und darauf scheint es hinauszulaufen, mehr Wahlmöglichkeiten in der Subjektivierung.

Gender und Leib

Ein schwerwiegenderes Problem ist die Abgrenzung von gender und Leib. Beides sind Rekonstruktionen, und indem man den Leib als die Gesamtheit der körperlichen Rekonstruktion versteht, darf man hier zunächst, vielleicht etwas naiv, annehmen, dass der Leib, bzw. das Körperbild, den umfassenderen Zusammenhang bildet. Aber auch dann dürfte es schwierig sein, hier eine Grenze zwischen dem nicht-geschlechtlichen (gleichwohl konstruierten) Leib und dem geschlechtlichen Leib zu ziehen.
Hier sehe ich tatsächlich eine Theorielücke bei Butler: diese Grenze wird bei ihr nicht erörtert. Dabei wäre gerade dies ebenfalls spannend, da sich hier Strategien der Sexualisierung und Entsexualisierung auffinden lassen könnten.

Körper und Leib

Weil sich das Nervensystem ökonomisch vom restlichen Körper abgekoppelt hat (eine Bedingung dafür, dass es funktioniert), aber strukturell darauf bezogen bleibt, mischen sich in der Rekonstruktion des Leibs verschiedene Funktionen: der Körper insistiert durch seine Sinnlichkeit, das Gehirn reduziert und automatisiert aufgrund ökonomischer Bedingungen, und schließlich rhythmisiert die Kultur die Verarbeitung von Sinnesdaten (vermutlich zunächst in Bezug auf die grundlegende Bedürfnisbefriedigung).
Da wir unser Weltbild in unserem Gehirn konstruieren, bleibt der direkte Zugang zu unserem Körper versperrt. Insofern ist ein direkter Durchgriff auf die biologischen Funktionen nicht möglich; hier muss es eine soziale Vermittlung geben. Dies meint Butler damit (wenn auch durch andere Argumente gestützt), dass das biologische Geschlecht schon immer kultiviert sei (the sex is already gendered).

Volker Beck und die Machwerke

Volker Beck bezweifelt, ob Hitlers Mein Kampf im Unterricht eingesetzt werden solle. Was in der Schule gelehrt werde, stellt sich bei ihm folgendermaßen dar:
„Im heutigen Kontext von Hass und Hetze durch AfD, Pegida und Co. halte ich es für notwendig, dass Lehrkräfte auch im Umgang mit den Machwerken von Pirinçci, Sarrazin und Elsässer geschult werden …“ (So Volker Beck gegenüber dem Handelsblatt.)

Argumentationslehre in der Schule

Die Boolesche Logik

Argumentationslehre ist die Praxis der Logik, also die angewendete Logik. Kant bezeichnet dies auch als Dialektik. Obwohl sich die Logik zunächst als einfach darstellt, sind moderne Logiken durchaus vielfältig und zum Teil recht kompliziert. Wie ich aus einigen unangenehmen Diskussionen erfahren musste, glauben manche Leute, die Logik bestände vor allem aus der Booleschen Logik. Diese ist aber nur ein Teil der Logik, vom Umfang und den Anforderungen her sogar eine der unwichtigsten, wenn auch nicht von der kulturellen Wirkung, da diese einen großen Teil der Elektronik prägt. Und die Elektronik wiederum ist für unser tägliches Leben enorm wichtig geworden.
Man wird aber mit der Booleschen Logik keinesfalls ideologische Gedankengänge kritisieren können. Diese ist eine extrem reduktive Logik; eine kritische Logik allerdings muss die Strategien der Reduktion mitbedenken. Genau dies gelingt der Booleschen Logik nicht.

Argumentieren lernen

Neben den verschiedenen Logiken, die uns die Philosophie anbietet, John Dewey, William van Orman Quine, George Spencer Brown, geht es bei den politischen Argumentationen nicht nur um Argumente, Schlüsse und Schlussfolgerungen, sondern auch um rhetorische Komponenten, um den Gebrauch von Metaphern in Argumentationsketten, um die Parallelisierung, die Extrapolation, die Amplifikation, schließlich auch um intentionale Argumentationen; und in dieser Form wird die Argumentationslehre recht kompliziert und voraussetzungsreich. Ich bezweifle, dass man dies mehr als ansatzweise in der Schule lehren kann.

Fachübergreifend Voraussetzungen schaffen

Allerdings kann man in allen Fächern Voraussetzungen schaffen, um den erwachsenen Menschen eine solche kritische Teilnahme an sozialen/politischen Prozessen zu ermöglichen. Dazu gehört ganz unbedingt die Mathematik. Man mag die mathematischen Formeln für wenig bedeutend auf dem Gebiet der politischen Diskussion halten.
Doch das ist ein Irrtum. Zum einen lehrt die Mathematik modellhaft die kritische Überprüfung von Beweisen. Zum anderen übt sie in das Modellieren ein; und gerade weil die Mathematik so reduktionistisch in Bezug auf die anschauliche Umwelt ist, ermöglicht sie besonders gut einen kritischen Blick darauf, was Formeln anrichten und leisten. Denn so sehr sie auch die Wirklichkeit reduzieren, so sehr verdeutlichen sie die Strukturen und Muster, die man in der Wirklichkeit finden kann.
Dann gehören auch alle Tatsachenwissenschaft dazu, sprich die Naturwissenschaften. Derzeit wünschte ich mir eine präzisere Kenntnis der Biologie, insbesondere des Verhältnisses von Evolution, Ökologie und Genetik. Und in Bezug auf die Humanbiologie auch die Auswertung von Ergebnissen der Neurowissenschaften. Denn hier wird nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig ganz schön viel Humbug erzählt.
Und bevor wir zu den eigentlichen Sozialwissenschaften kommen, gehört das Fach Deutsch erwähnt, dass natürlich auch die Bedingungen von Interpretationen und die Voraussetzungen, zum Beispiel die grundlegende Semiologie (in gewisser Weise die Argumentationslehre dann auch Teil der Semiologie), zu lehren hat.

Machwerke

Die postmoderne Beliebigkeit des Pejorativs

Natürlich hat Volker Beck recht, wenn er die Werke von Pirinçci, Sarrazin und Elsässer als „pseudowissenschaftliche Beschimpfungsarien“ bezeichnet. Damit hat er allerdings keineswegs den Kern getroffen. Es braucht keine wissenschaftliche Fundierung, um miteinander leben zu können, auf welche Weise auch immer. Die Menschen haben sich auch zu Zeiten fortgepflanzt, als sie noch keine Ahnung von der menschlichen Anatomie hatten. Und was sie alles sonst noch mit ihrem Körper getrieben haben: wer weiß?
Wissenschaftlichkeit ist, ob es geklagt sei, ob es egal ist, nicht das Maß des Zusammenseins. Und insofern ist die Beurteilung jener Werke als „Machwerke“ wenig ergiebig, ein Pejorativ, welches sich hier wie dort beliebig anwenden lässt, in postmoderner Beliebigkeit.

Pirinçcis Pluralität

Und wohl gemerkt, dies müsste ich tatsächlich vorführen: zumindest die Rede Pirinçcis, die ich als KZ-Rede bezeichne, erfreut sich einer ausgesprochenen Vielstimmigkeit. Sie ist uneinheitlich, holpert, insgesamt schwierig zu analysieren; und was für Pirinçci gilt, das gilt auch für andere Vertreter dieser sich als einheitlich und konform und durchdacht haltenden Autoren.
Es ist doch ein seltsames Phänomen, dass sich in die Texte immer und immer wieder ein vielstimmiger und heterogener Ursprung (ein Oxymoron, ich weiß) einschreibt, also eine zerfaserte, bunte, zum Teil bizarre und exotische Ursprünglichkeit. Doch was ist daraus zu schließen?

Die Wahrheit

Zunächst lehne ich den Begriff des „Machwerks“ als zu undifferenziert ab. Diese summarische Geste, mit der missliebigen Büchern begegnet wird, wiederholt nur die ebenso summarischen Strategien dieser Autoren. Wie nannte das mal jemand so geschickt: Kommunikation im Unverstand. So wie es ja sehr bequem ist, wenn man sich nur noch in seiner eigenen Logikblase bewegt, nur noch die Autoren zitiert, die einem sowieso schon Recht geben, und sich keineswegs die Mühe macht, sämtliche Argumente in ihrer Gewichtung neu und erneut zu beurteilen.
Ich lasse mich hier von den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan leiten, der einmal gesagt hat:
Ich sage immer die Wahrheit, nur nie die ganze Wahrheit, denn die ganze Wahrheit zu sagen unmöglich.
Es gelte also, den Rest an Wahrheit, der selbst in den krudesten Aussagen noch vorhanden sein könnte, nachzugehen und hervorzuheben. Diese Differenzierung zur Vielstimmigkeit, diese genaue, penible Interpretation, könnte man tatsächlich als eine Art subversiver Wertschätzung auffassen. Die Wertschätzung wäre so, dass sie zugleich das Objekt der Wertschätzung verunsichert, fragmentiert, aufbricht.

Was wahr ist

Wahr ist wohl die Unruhe, die durch Krisen ausgelöst wird: die Bankenkrise, die Annexion der Krim und die militanten Auseinandersetzungen in der Ukraine und in Syrien (aber auch sonst wo in der Welt, auch wenn uns dies nicht in dem Maße zu betreffen scheint), die sogenannte Flüchtlingskrise, wir hatten in den letzten Jahren viel zu verarbeiten. Eine Unruhe, die ich ebenfalls teile, ist die Angst vor der Altersarmut. Ich verstehe, dass viele deutsche Bürger darüber verunsichert sind. Und die Unruhe, keine Wohnung zu finden, oder in ein ungünstiges Stadtviertel ziehen zu müssen, auch die verstehe ich durchaus.
Unter all den Worten, unter den Missklängen und schrillen Tönen findet man doch immer wieder auch berechtigte Regungen. Fraglich ist nur, ob sie in solche Argumentationen und Reden gegossen werden müssen, ob also solche Schlussfolgerungen notwendig sind. Hier wünschte ich mir eine deutlichere Präsenz etablierter Politiker, die solchen Befürchtungen und Ängsten begründend und nicht nur behauptend entgegen treten. Hier wünschte ich mir auch mehr Mikroanalysen von engagierten Journalisten und Bloggern.

Volker Beck

Abgesehen davon, dass die Schule vermutlich nicht die Zeit haben wird, um sich in umfassenderem Maße um eine gute Analyse solcher Texte zu kümmern, abgesehen davon, dass die Schule zunächst die Grundlagen legen muss, wozu auch eine gute Trennung von naturwissenschaftlichen, geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Argumentationsweisen gehört, stellt sich mir noch die Frage, ob man nicht eher an positiven Beispielen orientieren sollte, an Nathan der Weise, an der Iphigenie auf Tauris, an der Vermessung der Welt (und vielen anderen Werken mehr).
So leid es mir tut: ich glaube, dass eine solch kritische Arbeit in der Schule nur vorbereitet werden kann. Und was die Schulung der Lehrkräfte angeht, um die es Beck ja eigentlich geht: sofern sich ein Lehrer für seine Fächer und seine Schüler engagiert, hat er genug zu tun.
Sollte jemand die Feinheiten der Argumentation und der Rhetorik aus einem grundlegenden Bedürfnis heraus weiter verfolgen, wäre ich der letzte, der ihn davon abhalten würde. Ansonsten finde ich aber, dass die Kollegen (meine Kollegen), insofern sie engagiert sind, dann auch gelegentlich noch mal das Recht auf Privatsphäre, Familie und Freizeit haben.
In gewisser Weise verstehe ich, was Volker Beck meint, in gewisser Weise aber mag ich es auch wieder nicht: gelegentlich ist er mir zu blauäugig, zu wenig vorbildlich. Wer gute Analysen einfordert, sollte hin und wieder zeigen, dass er diese ebenfalls beherrscht und auch nachvollziehen kann. Mit anderen Worten: Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für ein intelligentes Buch mit einer intelligenten Analyse, Autor: Volker Beck.

19.12.2015

Fear - Künstlerische Freiheit?

Solche Herzchen wie Birgit Kelle oder Hedwig von Beverfoerde waren mir bis heute nicht bekannt. Beatrix von Storch, Erika Steinbach und Eva Herman, die kannte ich allerdings. Auch Matthias Matussek ist mir ein Begriff, ein recht vertrauter. Meine Vorliebe gilt nicht den Protagonisten dieser politischen Couleurs. Oftmals habe ich gegen sie angeschrieben (zum Beispiel hier). Sie sind nicht analytisch genug, verdrehen die Tatsachen durch ihre Rhetorik, vereinfachen ungebührlich, mit anderen Worten: es sind eigentlich recht uninteressante Menschen, die sich einem aber aufdrängen, weil sie im öffentlichen Raum vorhanden sind.

Das Stück Fear

Trotzdem (und unter dem Vorbehalt, ich das Stück nur aus der Darstellung in den Medien kenne): was Falk Richters Stück Fear betreibt, halte ich für unanständig und ästhetisch wirkungslos. Unanständig ist es deshalb, weil es den „Gegner“ so eindeutig zu benennen weiß. Dass eine Eva Hermann oder ein Matthias Matussek gelegentlich oder regelmäßig geistig zündeln, das ist die eine Sache.
Dass ihre Hinrichtung in gewisser Weise auf einer Bühne demonstriert wird, ist ein Umgang mit solchen Personen, der sich keineswegs als besser darstellen kann. Und ästhetisch halte ich dieses Stück deshalb für wirkungslos, weil man in einer dermaßen polarisierten öffentlichen Meinung mit einer weiteren Polarisierung nichts Neues zu sagen weiß.
Das Stück bricht eigentlich nicht mehr mit einem demokratisch nicht legitimierbaren Tabu, und, sofern die Darstellungen unterschiedlicher Autoren nicht allesamt wesentliche Aspekte des Stückes unterschlagen, trägt es auch nichts zum Verständnis der aktuellen Situation bei. Hervorheben oder verständlich machen sind zwei mögliche ästhetische Strategien. Dem würde ich durch die Kunstfreiheit Schutz gewähren. Einer weiteren Polarisierung einer sowieso schon sehr angespannten Situation dagegen nicht.

Argumentationsweisen

Und man verstehe mich recht: ich möchte, wenn es nach mir geht, lieber nicht, dass die Meinungen einer Beatrix von Storch oder einer Eva Herman in unserer Gesellschaft breiteren Fuß fassen. Als Meinungen von randständigen Existenzen: bitte schön. Ich behaupte ja nicht, dass die Bewegung des Gender-Mainstreaming nur Licht und ohne Schatten sei. Da darf es auch den einen oder anderen Spott, den einen oder anderen scharfen Artikel geben; Meinungsstreit ist eben auch ein Zeichen der Demokratie.
Hier fehlt denn auch eher, und deshalb sind mir diese Menschen durchaus sehr unbehaglich, die gute Recherche, die präzise Begriffsbildung, die feinsinnige und nicht durch rhetorische Verdrehungen verknotete Argumentation; also gerade nicht, dass sie gegen das gender oder die „unchristliche“ Ehe seien, sondern mein Einspruch erfolgt gegen den Weg, auf dem diese Menschen zu ihrer Meinung finden. Ein Einspruch, der gelegentlich auch die Menschen trifft, die eine gewisse Art des Gender-Mainstreamings propagieren.
Zudem kann der Begriff des gender durchaus angegriffen werden, ganz grundsätzlich sogar angegriffen werden, und hierin sehe ich noch einen Restbestand an „Wahrheit“, wie er von einem Akif Pirinçci oder einer Eva Herman vertreten wird. Allerdings sehe ich das Problem des gender-Begriffs auf einer ganz anderen Ebene und meine sich nach und nach verfertigende Kritik an diesem Begriff läuft über ganz andere Aspekte als bei Pirinçci oder Herman oder von Storch. Und mir geht es auch weniger darum, dem Begriff seine Legitimation zu entziehen, als die Grenzen des Begriffs genauer festzulegen und den Bedingungen, unter denen dieser Begriff verwendet wird.
Was die Hypothese des kulturellen Geschlechts (gender) angeht, so sind einfach die Befunde der letzten hundert Jahre zu deutlich, um von diesem Begriff leichtfertig abzurücken. Dass der Begriff immer noch Probleme bereitet, ernsthafte Probleme, sollte zu einer gewissen Gelassenheit und Besonnenheit auch auf Seiten der Wissenschaft und Politik führen (und insofern dies nicht geschieht, spreche ich gerne auch mal vom gender-Gedöns).

Theorien der kulturellen Evolution

Ich verweise noch einmal auf die Theorien der kulturellen Evolution, aus denen sich auch kulturelle Geschlechter als evolutionäre Formen ableiten lassen; und ich verweise auf Theoretiker, die mit der gender-Theorie eigentlich nichts am Hut haben:
  • Jurij Lotman: Die Innenwelt des Denkens. – In diesem Buch geht es in weiten Teilen um die Dichtungen Puschkins. Lotman zeigt, wie sich die dichterische Sprache mit und gegen eine herrschende Sprache entwickelt und sich – bedingt – dadurch die herrschende Sprache verändert.
  • André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. – Dieses Buch zeigt aus der Sicht eines Paläontologen die Entwicklung menschlicher Kulturen bis in die Neuzeit.
  • Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung. – Tarde betrachtet die Gesellschaften unter dem Aspekt kreativer Entwicklungen, weist die möglichen Mechanismen einer solchen Kreativität auf und die daraus entstehenden (positiven wie negativen) Wirkungen.
  • Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. – Metzinger zeigt aus der Sicht der Neurophysiologie, wie sich das Gehirn ein „phänomenales Selbst“ zurecht bastelt, und dass dieses Bild keineswegs der Wirklichkeit, sondern den Bedingungen der neuronalen Struktur geschuldet sind. Zu den Bedingungen der neuronalen Struktur gehört natürlich auch, dass das Gehirn ein Reiz verarbeitendes Organ ist, also dazu gemacht worden ist, bestimmte energetische Einflüsse der Umwelt intern in Prozesse einzubinden. Es gibt also eine Verbindung zwischen „Realität“ und Abbild, aber keine einfache, keine eindeutige.
  • Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. – Der Autor postuliert, dass das menschliche Denken sich auf sozial vermittelte Wissensbestände genau so stützt, wie auf der Verarbeitung von Reizen. Die Wertung der Reize, die Aufmerksamkeit für sie und die Art und Weise, wie sie zu komplexeren kognitiven Funktionen zusammengesetzt werden, ist durch die engere soziale Umgebung vermittelt und kann sich innerhalb weniger Jahre deutlich wandeln. Selbst faktisches Wissen ist dadurch eher als ein Zeichen der Zusammengehörigkeit, denn als eine vom Sozialen unabhängige Wahrheit zu betrachten.
  • Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. – In diesem Buch ist es vor allem das dritte Kapitel, jenes über die Evolution der Kommunikation, die die historische Fassung möglicher Existenzen erläutert. Berufe, politische Rollen, wissenschaftliche Forschungsmethoden, Romanstrukturen, und eben auch das kulturelle Geschlecht unterliegen der Entwicklung von Symbolsystemen, die nach Luhmann in der eisernen Dreifaltigkeit von Variation, Selektion und Restabilisierung geschehen.

Geschlechterneutrale Sprache

Menschen, die sich wie Inter- oder Transsexuelle keinem eindeutigen Geschlecht zuordnen können, sind aus der deutschen Sprache ausgeschlossen. Auch viele Frauen fühlen sich vom Deutschen ignoriert. Genderneutrale Sprache würde das Problem lösen, eine Sprache, in der alle Geschlechter vorkommen.
Diese Behauptung ist aus mehreren Gründen falsch und gefährlich.

Eindeutige Geschlechter

Sprache vereinheitlicht und abstrahiert. Sie macht es immer; ihr ist eine Ordnungsleistung immanent, die nicht auf Abbildung, sondern auf Struktur abzielt. Sprache teile die Welt nicht mit, schreibt Niklas Luhmann, Sprache teile die Welt ein. Gäbe es ein eindeutiges Geschlecht, so nur als Position in der Sprache. Dies ließe sich wiederum nur durch eine Verallgemeinerung erreichen, und damit durch eine Abstraktion von welchen Merkmalen auch immer. So geschieht es dann auch für sämtliche Formen der Sexualität, so geschieht es auch für das Körperselbstbild (mit und ohne Sexualität).
Wollte man hier also tatsächlich eine Art Gerechtigkeit einführen wollen, müsste man für jeden Menschen, eventuell auch für einzelne Phasen seines Lebens, ein je eigenes Geschlecht erfinden. Das allerdings wäre ein mühsames Geschäft.

Weit reichende Behauptungen

Jemanden auszuschließen ist eine räumliche Metapher. Ich hatte schon mehrmals die Problematik eines solchen sprachlichen Ausdrucks angesprochen: man kann sich auf vielerlei Weise in einer Gruppe befinden, aber hier geht es eben nicht um Räume, sondern um in irgendeiner Weise getragenen Handlungen, um Teilhabe und Teilnahme (obwohl auch diese Begriffe räumliche Metaphern sind). Dass die deutsche Sprache nicht nur spezifisch, sondern regelhaft die Sexualität ausschließt, ist auch den Begriffen geschuldet. Diese bezeichnen eben nicht immer zugleich irgendetwas Sexuelles mit.
Jemanden auszuschließen, aus der Sprache auszuschließen, bedeutet doch vor allem, seine Geschichten, seine Erlebnisse ungehört zu machen, ihn (oder sie) als politische Person auszulöschen, als jemand, der eine Meinung hat. In dem oben zitierten Artikel hört es sich aber so an, als sei die gesamte politische Person unwirksam gemacht, wo es eben nur um die sexuelle Orientierung geht, die durch besondere Wörter nicht berücksichtigt wird.

Neutralität

Widersinnig finde ich allerdings die Zusammenstellung der These, es müsse eine Sprache geben, die auf Intersexuelle und Transsexuelle Rücksicht nehmen solle, aber zugleich „neutral“ sei. Widersinnig ist vor allem die Behauptung, dass eine Sprache, die keinerlei Geschlecht mehr bezeichnen würde, zugleich ermöglichen würde, dass alle Geschlechter darin vorkommen.
Die Frage ist, was und wie Sprache abbildet, und ob sie überhaupt zu einer Neutralität fähig ist.

Wittgenstein, Nietzsche, van Quine, Luhmann

Sowohl Wittgenstein, als auch Nietzsche, van Orman Quine und Luhmann sehen als ein Problem der Grammatik an, dass diese das Subjekt als den Träger von Prädikaten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stelle. Alle vier Denker kritisieren auf sehr unterschiedliche Art und Weise den mythischen, „un“wissenschaftlichen Charakter der Grammatik.
Indem dem Subjekt des Satzes eine solch zentrale Position zugewiesen wird, übt der Satz zugleich eine produktive wie auch repressive Wirkung auf das Subjekt aus, wodurch das Subjekt dem Satz untergeordnet wird; zugleich aber behauptet der Satz die zentrale Stellung des Subjekts und verbirgt damit seine eigentlichen Mechanismen. Indem der Satz dem Subjekt bestimmte Eigenschaften zuspricht, erzeugt er dieses Subjekt zuallererst und schließt andere Formen der Subjektwerdung aus.

Machtwirkungen in der Sprache

Natürlich übt die Sprache Macht aus. Sie teilt ein, sie betont und hebt hervor bis hin zur krassen Übertreibung, sie spricht Handlungsmöglichkeiten zu und ab. Dies aber tut sie aufgrund sehr viel verborgeneren Effekten als eines grammatisch markierten Genus. Auf diese Wirkungen kommt es an.
Von den eindeutigen Pejorativen (dem hate speech) über die Ungewohnheit mancher semantischer Verbindungen (wie zum Beispiel vor 30 Jahren die Verbindung von Frauen und professionellem Fußball oftmals nur ein geringschätziges Lächeln hervorgerufen hat) bis hin zu Begriffsnetzen, die nur im Gesamt ihre produktive Wirkung entfalten, zeitigt die Sprache ganz andere Probleme als auf der Ebene der Morphologie.
Sollte man jemals eine solche wie oben postulierte geschlechterneutrale Sprache finden oder etablieren, hätte man damit die wirklichen produktiv-restriktiven Mechanismen der Sprache trotzdem nicht behoben.

Individualität heißt auch Selbstbeschränkung

Der eine spielt Klavier, der andere besucht Jazzkonzerte, ein dritter liest Niklas Luhmann und ein vierter schwedische Thriller. Unsere Gesellschaft bietet zu viele Möglichkeiten, um alle zu verwirklichen. In dem Sinne ist sie pluralistisch; wobei der Pluralismus nie ein vollständiger ist, sondern ein durch die historische Entwicklung begrenzter Pluralismus, und auch ein durch Zugänglichkeit begrenzter. Vor 30 Jahren hätte es nicht die Möglichkeit gegeben, sich ein schnurloses Telefon zu kaufen, heute dagegen ist es schwierig, ein Telefon mit Schnur zu erwerben. Ähnlich dürften sich heute manche gesellschaftlichen Rollen von denen vor 30 Jahren deutlich unterscheiden, zum Beispiel bei Politikern, Priestern oder Lehrern. Jeder Mensch kann in die Politik gehen; aber nicht jeder wird es zum Parteivorstand schaffen, und seine eigene Politik zu machen bedeutet nicht, dass man sich nicht beschränken müsse.
Gesellschaften sind eben keine zwangfreien Räume. Sie sind kein Selbstbedienungsladen, auch wenn man dies gelegentlich bedauern möchte. Ich klage ja auch nicht herum, dass mir noch niemand eine Professorenstelle angeboten hat, obwohl ich dies durch meine Intelligenz (haha!) durchaus gerechtfertigt fände.

Mangelhafte Sprache

Sprache als solche erzeugt Mängel. Man könnte hier, wenn schon, einen Satz von Bert Brecht paraphrasieren, dass es nicht um die gerechte Verteilung von Reichtum, sondern von Armut gehe; und so könne man für die Sprache anführen, dass es nicht um die gerechte Verteilung der richtigen Bezeichnungen gehen, sondern um eine gerechtere Verteilung an einschränkenden Wirkungen der Sprache.
„Sprache sei entscheidend für die Sichtbarkeit und die Akzeptanz“, wird Andreas Kraß, Mitglied im Berliner Zentrum für Transdisziplinäre Geschlechterstudien, zitiert. Aber es läuft immer wieder auf das gleiche Paradoxon hinaus: eine geschlechterneutrale Sprache macht eben nicht sichtbar, sondern verbirgt. Eine Differenzierung der Sprache könnte man bis zur kompletten Individualisierung betreiben, es ließe sich trotzdem in ihr nur annäherungsweise erläutern, was ein einzelner Mensch in seinem Leben erfährt, sei dieser nun heterosexuell oder intersexuell. Zudem ist die Sprache vielschichtig: eine Änderung der Morphologie zum Beispiel durch den gender Gap ändert zu geringfügig oder gar nicht oder nur unbeherrscht das semantische Feld oder die pragmatische Verkettung.

Grenzgänger

Bernd Höcke möchte eine Sichtbarkeit des normalen Geschlechts entsprechend der Verteilung in der Gesellschaft. Ihm seien „abseitige“ Lebensentwürfe zu überrepräsentiert. Ja und nein möchte man dazu sagen. Eine Demokratie setzt sich in gewisser Weise zugleich aus ihrer Mehrheit und ihren Grenzgängern zusammen. Sie lebt zugleich von den Menschen, die sich einfach auf die kulturellen Gewohnheiten verlassen, und all denen, die die Möglichkeit von Lebensentwürfen innerhalb demokratischer Spielregeln erweitern. Gerade solche Grenzgänger sind für die Demokratie besonders wichtig, weil sie die Möglichkeiten zur Korrektur sozialer und politischer Prozesse offen halten. Damit sind nicht nur „sexuelle“ Grenzgänger gemeint, sondern auch andere Spielarten, wie zum Beispiel in der Kunst, aber auch in der politischen Meinung oder der religiösen Orientierung. Vermutlich sind solche Grenzgänger auch deshalb wichtig, weil sie zeigen, ob eine Demokratie mit ihrer Verfasstheit und ihrer Verfassung noch aufklärerisch umgehen kann, d.h. argumentativ und wissenschaftlich. Obwohl ich an dieser Forderung gelegentlich verzweifle, da das Attribut wissenschaftlich erstens zuweilen recht wahllos verwendet wird, um bestimmte Assoziationen und Verbindungen ein- oder auszuschließen, und zweitens Wissenschaftlichkeit noch keine Wahrheit garantiert. Abgesehen davon spielt die Wahrheit beim Zusammenleben von Menschen eher eine untergeordnete Rolle. Deshalb haben ja schon die alten Griechen zwischen der Episteme und der Doxa unterschieden. Für das Zusammenleben braucht man nur die gute Meinung.

Ich als Mann

Während meines Studiums erdreistete sich ein Kommilitone mich mit der Frage zu nerven, ob ich mich eher als Mann oder als Frau fühlen würde. Aber was ist denn das für eine Frage? habe ich ihm entgegnet. Ich möchte doch behaupten, dass kein halbwegs vernünftiger Mensch auf diese Frage eine andere Antwort wüsste als die Gegenfrage nach der Vernunft des Fragenden. Hätte der Schreiber des oben angeführten Zitats recht, dann hätte ich diese Frage rasch und unkompliziert beantworten können. Tatsächlich ist diese Frage, dieser Wille zur Eindeutigkeit, eine einzige Katastrophe, ein Disziplinierungsmechanismus und Terrorinstrument. Die eindeutige Sprache ist die Sprache der Dogmatiker, der Fanatiker, der Terroristen.
Sprechen wir lieber von einer gewissen „Familienähnlichkeit“ (im wittgensteinschen Sinne): dann bin ich tatsächlich gerne ein Mann, rein biologisch, aber auch kulturell. Von bestimmten Formen des Mannseins distanziere ich mich trotzdem ganz ausdrücklich.

Sichtbarkeit

Macht Sprache sichtbar? Ja, aber nicht durch Bezeichnungen, sondern durch Kontraste und Oppositionen: Sie orientiert durch Differenzen und sie insistiert durch Wiederholungen. Um Differenzen zu verdeutlichen sind Übertreibungen von Nöten. Solche Übertreibungen liefern die Massenmedien durch ihren Hang zur Skandalisierung und Sensationalisierung. Deshalb bilden Massenmedien, und das sieht man am Beispiel der ganzen gender-Debatte, die Gesellschaft in ihrer realen Verteilung nur schlecht ab. Deshalb treffen sich eine Conchita Wurst und ein Bernd Höcke auch in einer Talkshow, und nicht der von linksliberalen und christlichen Ideen geprägte CDU-Politiker und die „ganz normale“ Hausfrau. Solche Sichtbarkeiten bekommt man dann eher im „normalen Leben“ zu sehen; und hier natürlich auch nicht die gesamte Bandbreite dessen, was in einer begrenzt pluralen Gesellschaft möglich ist.
Sichtbarkeit einzufordern ist eine gefährliche Sache. Gerade jene Menschen, die sich für eine kritische Gesellschaftsanalyse und für eine Aufhebung von diskursiven Machteffekten einsetzen, sollten doch so viel Ahnung von Michel Foucault haben, dass sie einen neutralen Blick oder eine machtlose Sichtbarkeit für eine unmögliche Forderung halten.

14.12.2015

Mein Sonntag

Letzte Meldung.
Seit ich um 11:00 Uhr den Computer angeschaltet habe, habe ich meine Anmerkungen zum Erwerb geometrischer Kompetenzen zu einem kleineren Teil in meinen Zettelkasten kopiert. Ich konnte mich nicht davon abhalten, entlang der Beziehungen, die mein Zettelkasten erschafft, weitere Kommentare zu verfertigen. Und so habe ich heute Baruch de Spinoza, Gilles Deleuze, Rose Ausländer, Christa Wolf und Ludwig Wittgenstein gestreift. Das alles ist noch ein wildes Durcheinander.
Dreimal habe ich den Unterricht für nächste Woche neu konzipiert. In dem Lehrwerk fühle ich mich noch immer nicht heimisch. Allerdings blicke ich auch noch nicht weit genug voraus, um frühzeitig zu festeren Ergebnissen zu kommen.
In meiner Klasse habe ich ein selbst erstelltes Heft mit Übungen zur Konzentration, Merkfähigkeit, geometrischer Kompetenzen und Mustererkennung erstellt. Dies habe ich, in Bezug auf meine Schüler, weiter durchkommentiert. Zudem habe ich eine Differenzierung für das nächste Heft mit dem Schwerpunkt Multiplikation im Hunderter-Raum entworfen. Dies werde ich aber erst im Januar verteilen, so dass ich genügend Zeit habe, darüber nachzudenken.
Außerdem habe ich herumgebastelt. Vor zwei Wochen habe ich begonnen, mit Pappkarton als Lernmaterial zu experimentieren. Am Anfang habe ich gedacht, dass das zu mühselig werden könnte, aber es ist tatsächlich eine Frage der Übung. So lassen sich aus einfachen Zwischenböden aus Pappe, Tapetenkleister und farbigem Papier sehr griffige und recht stabile Plättchen und andere Formen herstellen. Diese kann man vielseitig verwenden. Zudem kann man mit Pappe auch relativ komplexe Anordnungen erstellen, bis hin zu kleinen Mechaniken. Das werde ich allerdings erst in den Weihnachtsferien vertiefen. Schön daran ist auf jeden Fall, dass man Pappe in den Supermärkten kostenlos bekommt. Und außer Tapetenkleister, Packpapier und buntem Papier, außerdem Buntstiften und Filzstiften, braucht man nur einige gute Werkzeuge, ein Stahllineal, ein Falzbein, einen Pinsel, ein Teppichmesser.
Ich bin also ganz schön fleißig gewesen. Aber es gibt immer noch zu viel zu tun. Ich habe eine Liste angefangen, die ich aber noch nicht fertig stellen möchte, da ich noch nicht alle Möglichkeiten kenne. Dies möchte ich, wie gesagt, erst mal ausprobieren.

FDJ-Trulla

Wo wir aber gerade bei Pirinçci sind. Das amerikanische Time Magazine hat Angela Merkel zur Person des Jahres gewählt. Das wäre nun nicht meine erste Wahl gewesen, aber Martin Saar, dessen Buch Immanenz der Macht ich gerade lese, und den ich alleine deshalb zu einer meiner Personen des Jahres wählen würde, ist wohl nicht bekannt genug dafür.

Geschrei

Jedenfalls hat Pirinçcis Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel dazu folgendes getwittert:
Ist das nicht schön? Unsere FDJ-Trulla Person des Jahres. 2016 dann Robert Mugabe.
Die MMNews bezeichnen dieses tweet als lapidar und machen sich über den Spiegel lustig, der dazu schreibt:
Solche Wörter, solches Geschrei zünden das Land an.
Im selben Artikel wird dem Spiegel auch vorgeworfen, dass man journalistische Präzision „bekanntlich seit langem vergeblich“ bei ihm suche.
Aber Steinhöfels tweet ist respektlos. Er kritisiert nicht, das ist noch nicht mal eine Standort-Bestimmung. Natürlich vermisse ich nicht nur gelegentlich, sondern des Öfteren eine ausgefeiltere Argumentation, wenn man in die Massenmedien blickt, die man als die bürgerlichen bezeichnet. Doch von Präzision können die MMNews gerade nicht sprechen, denn das Wort im Spiegel brandmarkt keinesfalls Steinhöfel als „Entzünder der Nation“.

Dagegensein

Geschrei entsteht dann, wenn das Dagegen wichtiger wird als das Dafür. Immer noch liebe ich mein Deutschland, aber ich liebe es spezifisch und fragmentiert, mehr in einer Art begrenzten Pathos', denn als Stolz. Als ich vorgestern die Nachricht zu Merkel gelesen habe, hat sie mich eher wenig interessiert (obwohl die Begründung tatsächlich interessant ist).
Gelegentlich hoffe ich, dass die Menschen, die meinen Blog lesen, nicht nur die Abgrenzung und Distanzierung lesen. Ich mag Pirinçci nicht, ich mag Martenstein nicht, nicht die Pegida und nicht die AfD, ich habe meine Vorbehalte gegenüber den Maskulinisten und Biologisten geäußert, und bin kein Freund eines Hurra-Feminismus'. Die gender-Theorie gehört nicht in die Grundschule, aber nicht, weil die Theorie falsch ist, sondern weil sie an das mündige Subjekt gebunden ist. (Respekt für verschiedene Lebensformen darf trotzdem in der Grundschule gelernt werden, auch für Schwule. Aber ganz genau explizieren möchte ich dies dann doch nicht.)

Dafürsein

Aber ich bin für die rhetorische Analyse. Ich bin gelegentlich auch für die Polarisation. Und keineswegs bin ich für die Zensur. Selbst dass Pirinçci sein Buch Die große Verschwulung auf Amazon verkaufen kann, finde ich nicht verwerflich. Ich spiele mit dem Gedanken, es mir zu kaufen, einfach um zu wissen, was darin steht, und vielleicht eine andere, eine analytischere Kritik zu schreiben.
Dagegen zu sein jedenfalls ist wenig handlungsleitend. Darüber muss man ja hysterisch werden; und wohlverstanden: die Paranoia ist zwar der geistige Zustand des Freund/Feind-Denkens, aber die Hysterie wirft sich in einen solchen Zustand hinein, ohne an ihn wirklich glauben zu müssen. Dies macht die Hysterie in politischen Situationen gelegentlich so gefährlich: Sie neigt zur Taktiererei, zur Verkleidung und zur Lüge, zur großen Theatralisierung.

Existenzvernichtend

So sei die Wirkung auf Pirinçcis Pegida-Rede gewesen, weiß die MMNews zu berichten. Aber genau hier irrt sich dieses online-Magazin. Pirinçci hat einen Verlag, und der wichtigste Lieferant für Bücher, Amazon, liefert auch seine Bücher weiterhin aus, wenn auch nicht mehr seine Belletristik. Doch diese dürften sich, 15-25 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, sowieso nicht mehr so erfolgreich verkaufen lassen. Ob er deshalb vor dem finanziellen Ruin steht, darf man bezweifeln. Dass seine politische Existenz weitgehend diskreditiert worden ist, dafür hat er wohl selbst gesorgt. Wer sich auf so abwertende Art und Weise mit einem größeren Teil der Bevölkerung anlegt, darf sich nicht wundern, dass er einen scharfen Wind zu spüren bekommt.
Dabei glaube ich noch nicht einmal, dass die meisten deutschen mit der derzeitigen Situation glücklich sind. Aber ich glaube, dass sich die meisten Menschen zu schade sind, so simplifizierend und reduktionistisch zu reagieren. Dies scheint Pirinçci nicht sehen zu wollen. Wo er die große Verdummung vermutet, ist in Wirklichkeit immer noch die Bildung am Werk.

13.12.2015

Erster Versuch: politische Begriffe mit Martenstein

Solange Harald Martenstein nicht von Politik redet, ist er ganz erträglich, zuweilen sogar amüsant. Politik aber liegt dem guten Menschen überhaupt nicht, und dann all diese seltsamen Begriffe: alleine dieses Wort gender Mainstreaming, das so schwer auszusprechen ist, und das dann vielleicht auch noch schwerer zu verstehen ist, vor allem, wenn der Begriff teilweise recht unterschiedlich aufgefüllt wird.
Nun versucht sich Martenstein an dem Begriff Sozialdarwinismus.

Lageso

Zugegeben: die Situation ist dramatisch. Das Lageso, das Landesamt für Gesundheit und Soziales, registriert auch die Flüchtlinge, neben vielen anderen Aufgaben. Wie Martenstein berichtet, klafft die Möglichkeit, die Flüchtlinge zu registrieren und die täglich Wartenden weit auseinander. 200 Leute könne man jeden Tag „bearbeiten“, 500 würden warten. Martenstein brandmarkt diese Situation als schlimm. Ich würde ihm zustimmen, wenn nicht …

Sozialdarwinismus

Die verzweifelten Flüchtlinge, so weiß ein anderer Flüchtling zu berichten, würden die Sicherheitsleute bestechen: mit Geld, und, aber wie das funktionieren soll, fällt mir nicht ein, mit Stärke. Der genaue Wortlaut von Martenstein:
Die Stärksten und die mit Geld kommen angeblich durch, Berliner Sozialdarwinismus.
Abgesehen davon, dass dies nur eine einzelne Stimme ist, relativiert jenes „angeblich“ die Wahrheit zu einer Wahrscheinlichkeit. Aber um dies zu kaschieren gibt es die Emphase, eben jenes Wort vom Sozialdarwinismus. Nur darin eben irrt Martenstein; der Sozialdarwinismus behauptet einen biologischen Determinismus, der einem guten oder schlechten Erbmaterial entstammt; zudem könne durch Selektion, d.h. in diesem Fall geplante Selektion (Verbote von Fortpflanzung, Sterilisation, Ermordung), ein besseres Erbgut herangezüchtet werden, so dass eine überlegene Menschengruppe (Rasse) entstehe (obwohl das nicht für alle Ausprägungen des Sozialdarwinismus gilt).
Bedenkt man allerdings, dass der Sozialdarwinismus eine prägende Theorie bei nationalsozialistischen Ideologen war, und auch in zeitgenössischen rechtsextremen Gruppen eine wichtige Rolle spielt, sollte man vielleicht mit diesem Begriff etwas vorsichtiger umgehen, als Martenstein dies tut.

Hoffnungslose Randexistenzen

Nein, nein, so weit geht mein Urteil über Martenstein dann doch nicht. Martenstein benutzt es selbst, benutzt es in Bezug auf die Flüchtlinge. Nicht jeder, aber doch viele stünden vor einer „hoffnungslosen Randexistenz“. Das ist nicht ganz so hübsch gesagt. Aber wir verstehen Martenstein schon.
Viel schlimmer sei, dass die Flüchtlinge bald „desillusioniert“ sein werden. Und wenn man jetzt denkt, sie kämen damit in der nicht ganz so hübschen Realität Deutschlands an, der wird eines Besseren belehrt. Sofort wendet Martenstein ein:
Aber „Realismus“ ist zur Zeit ein Unwort.
Wer also desillusioniert ist, für den ist, verstehe ich das richtig?, Realismus ein Unwort, oder für den könne Realismus nicht mehr gelten, oder wie, oder was? Und wenn derjenige, der desillusioniert ist, auch verführbar ist, dann wohl durch die Realität. Kraft seiner Argumente geraten Illusion und Realität einmal tüchtig durcheinander. Welcher philosophischen Tradition unser verehrter Journalist damit folgt, ist allerdings unklar.
Zumindest aber wäre das eine Erklärung dafür, dass Martenstein gelegentlich so sonderliche Sachen von sich gibt: Illusion ist Realität, und Desillusionierung führt in die hoffnungslose Randexistenz. Wo Martenstein sich ungerne sehen will, möchte ich behaupten.

Brutstätten

Dürfen eigentlich Stadtteile dasselbe wie eingebürgerte türkische Schriftsteller? Dann wäre jetzt vielleicht die Gelegenheit, Martenstein mit einer Unterlassungsklage zu überziehen: Gettos seien „immer Brutstätten … für Frustration, organisiertes Verbrechen und Islamismus.“ Zugegeben: die Pariser banlieus sind gelegentlich schlimm, die Zustände seit 25 Jahren und länger schlimm; die Integration auch französischer Menschen kam viel zu spät und nur sehr schleppend in Gang. An Jugendliche wurde zunächst überhaupt nicht gedacht, weder mit umfangreicheren Möglichkeiten zum Sport (es gibt in Frankreich längst nicht eine so ausgeprägte Vereinskultur wie in Deutschland), noch mit anderen Freizeitaktivitäten. Das Schulsystem ist auf Faktenwissen aufgebaut; problemlösender oder handlungsorientierter Unterricht findet eher selten statt. Damit sind die Schüler dann wohl auch einerseits kognitiv unterfordert, andererseits überfordert damit, ihre Sinnlichkeit einzudämmen.
Trotzdem: von den vielen 100.000 Franzosen, die in Paris, Lyon, Marseille in Elendsvierteln wohnen, werden nur etwa 2000 als fundamentalen Islamisten eingestuft. Bei Martenstein hört sich dies drastischer an.

Unsauberer Journalismus

Nein, ich mag Pirinçci immer noch nicht. O. k., zehn Minuten war ich auch über die Nachricht empört, die in den Medien über Pirinçci verbreitet wurde, dann habe ich ich angefangen, seine Rede genauer zu analysieren. Dies hat einer anderen Empörung Platz gemacht. Gegenüber Pirinçci, aber auch gegenüber den Nachrichtenmagazinen. Die Enerviertheit angesichts einer solchen Berichterstattung war gut (auch wenn sie nicht immer von einem guten Standpunkt aus getan wurde). Eventuell hätte dies jetzt zu einem Umdenken führen können, zu einer besseren Wortwahl, zu einer ausgewogeneren Argumentation. Zumindest bei Martenstein ist davon wenig zu spüren.
Dies mag aber auch verständlich machen, warum ich mich immer noch und immer wieder auf die rhetorische Analyse zurückziehe. Zum einen ist die rhetorische Analyse ein grundlegendes Handwerkszeug des Journalismus (aber selbst das schützt nicht vor Fehlurteilen, macht sie aber unwahrscheinlicher); zum anderen weiche ich damit gut einer tiefergehenden politischen Beurteilung aus, die ich mir immer noch nicht zutraue.

08.12.2015

Tiger verschont Ziege vor dem Tod

so schreibt der Stern. Und mir fiele dazu gleich noch ein Folgeartikel ein:
Stern verschont Leser vor der Satzsemantik
Das dazu passende Video könnte man mit Jörges und Lanz drehen, parallel zum bereits vorhandenen; eventuell wäre eine Einspielung eines Wärters (z. B. Sonja Zietlow) ganz hilfreich.

mein Herz mein Zimmer mein Name – und Flüchtlingsobergrenzen

mit Kant wäre dies nicht passiert
Ich bin mein eigenes Deutschland. Dieses Gefühl beschleicht mich gelegentlich, und dann denke ich mir dabei, dass mit mir wohl kein Staat zu machen wäre, zumindest kein regierbarer. Grund genug um Deutschland zu lieben habe ich jedenfalls. Stolz will trotzdem nicht in mir aufkeimen. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass diejenigen, die Deutschland so vehement als Kulturland verteidigen, diejenigen sind, mit denen ich mich gerade über deutsche Kultur nicht unterhalten wollte. Wir reden da, glaube ich, von sehr unterschiedlichen Kulturen. Es ist mein Herz, es schlägt in meinem Zimmer, es schlägt in meinem Namen. (Ich liebe Friederike Mayröcker. Ich kann sie immer noch nicht interpretieren; da ist einfach zu viel Pathos und zu wenig Distanz.)

Doofe Parteipolitik: Nahrungsgrenzen

Höcke (AfD) und Gauland (AfD) setzten, so weiß die Welt zu berichten, „nicht nur die eigene Parteispitze, sondern vor allem auch die Union unter Druck. Auf dem CSU-Parteitag am Wochenende begründete etwa Parteichef Horst Seehofer seine Forderung nach Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen unter anderem mit dem Erfolg der AfD. Die Union dürfe der rechten Konkurrenz keine Nahrung geben.“
Was das denn für ein Argument sei, muss man sich fragen: das ist doch ganz eindeutig kein sachliches, sondern nur ein parteipolitisches Argument, keines, was den Flüchtlingen gerecht wird, keines was den deutschen Staatsbürgern gerecht wird. Hier wird die Flüchtlingsobergrenze missbraucht, rhetorisch missbraucht: es gibt keine direkten Argumente gegen die Politik der AfD, also übernimmt man ihre Position, brandmarkt die AfD als mehr oder weniger „irgendwie“ inakzeptabel, und dass man ein Recht habe, ihnen die Wähler wegzunehmen.

Metapher: das Büffet

Gelegentlich taucht in politischen Reden eine Metapher auf, die auf das semantische Feld der Luxusnahrung, des fruchtbaren Ackers und der auf ihm wachsenden Früchte verweist. Offensichtlich ist das Parteivolk oder Wahlvolk so etwas wie gut platzierte Häppchen auf einem Frühstücks-Büffet. Schlemmen statt reden. Wer war hier noch mal der Schmarotzer?
Aber nein, im Ernst: ich habe jetzt noch nicht die Rede von Horst Seehofer gelesen, und hier wäre es ja vielleicht ganz interessant, ob er nicht tatsächlich auch einiges Stichhaltiges für eine Flüchtlingsobergrenze genannt hat, etwas, was man vielleicht sachlich diskutieren müsste; es mag also durchaus wieder mal eine journalistische Verengung sein, die hier den Ton angibt (Pirinçci lässt grüßen). In gewisser Weise kann ich es auch verstehen: mich würde ja interessieren, ob jemand durch sachliche Begründung zu einer Meinung kommt, ob also eventuell die CSU zwar zu dem gleichen Ergebnis wie die AfD kommt, aber vielleicht aus einer differenzierteren, mit besseren Argumenten versehenen Position heraus. Das würde ich durchaus als einen Vorteil ansehen. Aber das bessere, differenziertere Argument ist wohl kein Kriterium, nach dem die meisten Menschen wählen gehen.
So aber sieht das ganze tatsächlich danach aus, als würden die Anhänger der CSU (und kurz darauf auch der SPD und der Grünen) nicht für sachliche Argumentationen zugänglich sein, oder als hätten diese Parteien keine sachlichen Argumentationen, oder als seien sie nicht stolz genug darauf, mit diesen sachlichen Argumentationen tatsächlich auch in die Öffentlichkeit zu treten.
Viel schlimmer aber finde ich an einer solchen Argumentation, dass sie so tut, als hinge das Wohl und Wehe von Flüchtlingen in Deutschland von einer Position ab, die die AfD vertritt. Und egal, was man dazu nun noch zu sagen habe, müsse man eben auch diese Position einnehmen. Die AfD mag verlieren, die Position selbst bleibt, wie begründet oder unbegründet auch immer, stark.

07.12.2015

ZEIT für Kant

Es freut mich, dass eine unserer großen Wochenzeitschriften, DIE ZEIT, meinem guten Beispiel und meiner Empfehlung folgt und die Lektüre Immanuel Kants anpreist. Nun gut, ganz so toll ist die ZEIT nicht: es gibt kaum tiefergehende Gedanken zu Kant. Rainer Forst, politischer Philosoph, bemüht sich redlich in einem einseitigen (rein äußerlich einseitigen) Interview, einige der Gedanken näher zu bringen. Thomas Assheuer betet einige Platitüden zu Kant hinunter; Sachen, die man auf wikipedia ebenso lesen kann, wie in Manfred Geiers Biografie Kants Welt (und dort wesentlich besser, also nicht als Platitüden). Ansonsten äußern sich einige mehr oder weniger bekannte Philosophinnen und Philosophen in einem jeweils eine halbe Spalte langen Bekenntnis zu Kant.
Enttäuschend? Ja. Ich bin wohl der ZEIT voraus (hier zum Beispiel, vor fast zwei Jahren, auch).
Wenn man nachahmt, oder gleich plagiiert, dann sollte man es doch so tun, dass es mehr und nicht weniger Nährwert besitzt, als das plagiierte Original. Das habe ich auch mal meiner Exfrau gesagt, als diese sich etwas hemmungs- und verständnislos aus einem meiner Artikel bedient hat.

Deshalb mein Tipp: abonniert lieber mich, ich bin ZEITlos.

06.12.2015

Geometrie, Jahrestage

Ein fleißiges Wochenende liegt hinter mir. Seltsamerweise sind die einfachen Unterrichtsinhalte manchmal psychologisch die kompliziertesten.

Lesenlernen

Das ist auch schon beim Erlernen des grundlegenden Lesens (der Erfassung von Wörtern) so. Beim Erlesen von Wörtern spielte nicht nur die Abfolge von Buchstaben eine Rolle, sondern auch die Wortmelodie, die die Silbentrennung unterstützt; die Silbentrennung wiederum ist wichtig für das Erlernen von Rechtschreibstrategien, und diese wiederum stützen zum Teil die grammatischen Kompetenzen. Es lohnt sich also, in diese Phase des Lesenlernens einige Zeit zu investieren.

Geometrie

Geometrische Kompetenzen

In die Entwicklung geometrischer Kompetenzen spielen zahlreiche Aspekte hinein, so zum Beispiel die Körperbeherrschung, die für eine gute Raum-Lage-Beziehung stützend wirkt, und diese ist wiederum wichtig dafür, dass geometrische Formen rascher behalten und komplexer angewendet werden können.
Fast noch wichtiger allerdings ist, wie sich solche geometrischen Kompetenzen, die oftmals in der schulischen Geometrie bereits ein Konglomerat bilden, auch auf andere Weise in höhere kognitive Prozesse einbinden lassen; hier findet man zum Beispiel das Programmieren (aber hier bin ich noch nicht sicher, was alles dazu gehört: ich habe gerade erst angefangen, darüber nachzudenken). Fast ein Selbstgänger (zumindest bei mir) ist das Erzählen: die räumliche Anordnung und die Bewegung der Figuren innerhalb dieser erfordern so ziemlich alle Kompetenzen, die man auch in der Geometrie einübt. Aber eigentlich ist es ja umgekehrt: Kinder entwickeln relativ früh die Grundlagen für das Erzählen, und parallel dazu werden sich vermutlich, im Austausch und unterstützend, erste geometrische Kompetenzen entwickeln.

Lernziele

Seit einigen Jahren benutze ich, allerdings nur gelegentlich, die Lernzieltaxonomie von Anderson und Krathwool, um mich mit einem Lernstoff auseinanderzusetzen. Gelegentlich deshalb, weil dieses Modell so umfassend ist, und auch nicht immer klar gegeneinander abgrenzbar, dass die Arbeit damit viel Mühe macht. Trotzdem lohnt es sich. Derzeit ist es also die Geometrie, die ganz grundlegende, wie zum Beispiel, durch einen Punkt eine Linie zu ziehen, und das mithilfe des Geodreiecks. Ganz so einfach ist das nämlich nicht, denn das Geodreieck muss etwas neben dem Punkt angelegt werden. Zudem gibt es eine ganze Menge drumherum zu beachten, zum Beispiel dass der Bleistift gut angespitzt ist, dass das Papier und das Geodreieck gut festgehalten werden, solche Sachen eben.

Teilleistungen

Teilleistungen sind jene Kompetenzen, die in einer Handlung zusammenwirken. Anders als im Kompetenzmodell, wie es in der Schule angewendet wird, gehe ich nicht davon aus, dass es eine eindeutige Kompetenz hinter einer eindeutigen Performanz (eine Ausführung oder Handlung) gibt, sondern verschiedene, die, je nachdem, wie gut sie aus geprägt sind, eine Handlung befördern oder behindern. Bei einer sogenannten Teilleistungsschwäche kann man so Aufgabenstellungen suchen, die entweder eine solche Teilleistung einüben (wenn man diese fördern will) oder sich gerade auf eine solche Teilleistung nicht stützen, wenn man das Kind zu einem Erfolg führen möchte. Beides ist nicht so einfach zu erreichen, und gelegentlich stößt man auf Situationen, in denen man als Lehrer ganze Schritte zurück gehen muss, um sehr viel grundlegender an bestimmte Aufgaben und kulturelle Anforderungen heranzugehen und diese den Schülern zu vermitteln.

Jahrestage

Mein freies Wochenende habe ich auch dazu benutzt, um ein wenig in Jahrestage herumzustöbern. Bisher habe ich aber nur einige typische Auffälligkeiten gesammelt.
Mir ist aufgefallen, dass ich schon lange nicht mehr über eine synästhetische Metapher, bzw. (so die Kurzform) eine Synästhesie, gestolpert bin. Bei Johnson finden sich diese relativ regelmäßig. Eine erste, sehr schöne, auf Seite 11:
Aus den Seitenstraßen schlägt hitziges Gegenlicht quer.
Besonders auffällig allerdings ist die Verdichtung, die Johnson vornimmt. Er führt Alltägliches und Zeitungsmeldungen, dann auch Erinnerungen und Erzählungen zusammen und komponiert sie zu Korrespondenzen und Kontrasten.
Die seltsam kühle Berichterstattung von dem, was in der Zeitung steht oder was Menschen gesagt haben, aber zugleich der zum Teil sehr emotionale Kontrast zwischen diesen berichtenden Sätzen, erzeugt eine eigentümliche Spannung.
Dies beginnt schon auf den ersten Seiten, in der zwei ähnliche Orte, zweimal Strand, Bahn, Spaziergang, ineinander vermischt werden, in der zweiten Zeiten in Deckung gebracht werden: an der Ostsee als Kind, an der Küste New Jerseys als Erwachsene.

Ansonsten?

Freitag habe ich, wie sich das über die Woche hinweg schon angekündigt hat, gefiebert. Heute habe ich mich noch einmal über Mittag lange hingelegt und fest geschlafen, obwohl ich gestern Abend früh ins Bett bin. Meine Notizen zu dem Aufsatz von Judith Butler befinden sich jetzt in meinem Zettelkasten, dafür habe ich wieder zahlreiche Kommentare zur Geometrie verfasst (siehe oben).
Auch einige politische Artikel habe ich durchkommentiert, einige etwas ältere, lauter Artikel zur Islamisierung – mich stört der suggestive Charakter. Viele der angesprochenen Fakten habe ich nicht in anderen Quellen finden können. Dafür scheinen sich die Islam-Gegner fleißig gegenseitig zu zitieren. Gut: Ganz so einfach ist es nicht, und ich habe bisher noch keine Bücher dazu gelesen. Aber in gewisser Weise findet man dieselben Phänomene, wie bei den populärwissenschaftlichen Darstellungen des Neuroeducation: wirkliche Fachliteratur findet selten Erwähnung. Dafür gibt es die üblichen rhetorischen Verdrehungen und die Mechanismen, mit denen Feindbilder aufgebaut werden.
Aber ich halte mich zurück. Erst mal keine Politik, nicht offiziell.

05.12.2015

Grüner Sandkasten

Alexander Kissler ist Resort-Leiter beim Cicero, einer Zeitschrift, die ich nur gelegentlich lesen kann, weil mich vieles, was darin geschrieben wird, aufregt. Aufregen tut mich dies vor allem der Argumentation wegen, nicht unbedingt des Inhalts.

Politische Abstinenz

Ich hatte mir, eigentlich schon vor zwei Jahren, eine Art politische Abstinenz verordnet; ich wollte politische Begriffe, politische Argumentationsweisen klären, weil ich gegenüber der Selbstverständlichkeit politischer Lager, aber auch gegenüber der eigenen Gewissheit der politischen Meinung, immer unsicherer geworden bin. Ich wollte für mich das Politische noch einmal grundsätzlich durchdenken.
Aus diesem Vorsatz (von dem ich noch nicht einmal weiß, ob er gut oder schlecht war) ist nicht allzu viel geworden. In gewisser Weise machen es einem aber auch manche Autoren furchtbar einfach, sie in das Reich der Lächerlichkeit zu verbannen und sich ein wenig „politisch erhaben“ zu fühlen.

Mind the gender-Gap

Kissler jedenfalls scheint so beeindruckt davon zu sein, dass man jedes Mal neu den gender-Gap lächerlich finden müsse, dass er sich bei allem, was der Bundesdelegiertenkongress der Grünen im November zustande gebracht hat, gerade nur auf das gender-Sternchen stürzt. Vielmehr suggeriert er dann auch noch, es habe auf diesem Parteitag nichts anderes gegeben, als eben jene „geschlechtergerechte“ Sprache.
Nun sehe ich diese Formierung der Sprache zu einer geschlechtergerechten Sprache durchaus als kritisch. Mich stört weniger daran, dass hier eine offizielle Regelung durchgesetzt wird, als den Nutzen einer solchen Maßnahme. Das ist eine Veränderung an der Oberfläche, deren tiefgreifende Wirkung wohl eher herbeigewünscht, als wirklich umgesetzt wird. Leser meines blogs wissen, dass ich bestimmte gender-Theoretiker, wie zum Beispiel Judith Butler oder Luce Irigaray, sehr hochhalte und ihre Bücher für wichtig und lesenswert erachte, im Gegensatz zu solchen Menschen wie Matussek oder Mursula. An denen ich ja auch nicht zu allererst die Inhalte ihrer Meinungen bemängele, sondern die Art und Weise, wie sie argumentieren.
Ich verbanne also nicht, auch wenn mir dies gelegentlich vorgeworfen wird (in Unkenntnis anderer Artikel auf meinem Blog), die gender-Theorie in das Reich der Blödsinnigkeit. Ich folge bloß nicht jeder Behauptung in blinder Gutgläubigkeit, in der das Wort gender auftaucht. Was auch daran liegt, dass ein Satz selten für sich alleine steht, sondern innerhalb eines Argumentationsgangs und eines Meinungsmilieus beurteilt werden muss.

In ernsten Zeiten

Alexander Kissler also bemängelt am Parteitag der Grünen, dass dieser sich mit der geschlechtergerechten Sprache auseinandersetzt, und beginnt seinen Artikel wie folgt:
In ernsten Zeiten muss man Prioritäten setzen. Freiheit, Sicherheit, Islamismus – vor diesem Hintergrund wird das Kräftefeld der Zivilgesellschaft neu austariert.
Im zweiten Absatz schreibt er dann:
Ebenso trotzig auf ihrer Lizenz zur Weltrettung durch Indianerspiele auf Nebenschauplätzen beharren die „Grünen“, eine Partei, die bis vor Kurzem sogar von klugen Zeitgenossen ernst genommen worden ist.
Was dann folgt, ist eine Schmähung der geschlechtergerechten Sprache. Und man könnte dies tatsächlich als eine halbwegs sinnvolle Kritik wahrnehmen, wenn Kissler nicht im Vorhinein klargemacht hätte, dass auf diesem Parteitag nichts anderes passiert sei, als eine Debatte über die geschlechtergerechte Sprache.
Ein Blick auf die Tagesordnung dieses Parteitags belehrt einen des Besseren. Der Beschluss über die geschlechtergerechte Sprache ist dort eine Randnotiz, und das, was laut Kisslers Artikel scheinbar fehlt, wird in Kernpunkten und an prominenter Stelle besprochen.
Kissler verursacht, was er bemängelt, eindeutig selbst. Und noch eher muss man ihm vorwerfen, dass er gerade nicht das (eventuell) Kritisierenswerte der zentralen Themen dieses Parteitags heraushebt, also eben jene Auseinandersetzung mit „Freiheit, Sicherheit, Islamismus“. Und wieder einmal darf man sich wundern, ob seine Vorwürfe nicht gerade für ihn selbst gelten, ob er vielleicht einfach nicht kompetent genug ist, um solche ernsthaften, zentralen Themen zu besprechen, ob er vielleicht zu feige oder zu blöde dafür sei.
In ernsten Zeiten sollte sich vielleicht ein Feuilletonkasper wie Alexander Kissler auf die ernsthaften Themen beziehen. Falls er dazu überhaupt in der Lage ist.

Böse Buben

Wie komme ich aber darauf? Warum stolpere ich über Alexander Kissler?
Mit diesem habe ich mich vor anderthalb Jahren schon einmal auseinandergesetzt, im Zuge der Debatte um die Rede von Sibylle Lewitscharoff. Auch damals habe ich ihm vorgeworfen, dass er sich sein gegnerisches Lager herbeiredet und seine Argumentationen so offensichtlich durch reine Rhetorik und rhetorische Verdrehungen getragen werden, dass man ihn kaum ernst nehmen kann. Über meinen eigenen Artikel bin ich gerade gestolpert, weil ich etwas auf meinem Blog gesucht habe, das zu meiner derzeitigen Auseinandersetzung mit der Didaktik der Geometrie hätte passen können. Stattdessen habe ich mir meine rhetorische Analyse von Kisslers Artikel durchgelesen. Und habe, um mich zu aktualisieren, nach Kissler gesucht.
Politische Abstinenz fällt einem schwer, wenn man trotz gravierender Zweifel an sich selbst und der Haltbarkeit seiner politischen Meinung über öffentliche Beiträge stolpert, die so leicht als egomanischer Unsinn zu entlarven sind. Dagegen ist selbst ein Akif Pirinçci noch ein intellektuelles Schwergewicht.

29.11.2015

Mengen und Modelle

Wenn man sich die Mengenbildung dort anschaut, wo noch Probleme mit dem Erfassen von Mengen vorliegen, stößt man auf einen scheinbar ganz anderen Bereich, der auf ähnlichen Operationen beruht: dem des Modellierens.

Mengenbildung

Eine der Grundlagen des Rechnens besteht in dem Erfassen von Mengen. Dementsprechend gut muss diese Fähigkeit geübt werden. Es mag zwar dem erwachsenen und kompetenten Rechner seltsam erscheinen, aber diese Fähigkeit ist nur zum Teil angeboren. Offensichtlich kann die Aufmerksamkeit vier Elemente gleichzeitig erfassen. Alle Mengen darüber hinaus müssen erlernt werden, etwa, indem eine Menge von neun Elementen in drei mal drei Elemente aufgeteilt wird.
In der Kognitionspsychologie spricht man beim Zusammenfassen von Elementen vom chunking (Bündeln), und das entsprechende Ergebnis nennt sich chunk. In der Mnemotechnik werden diese benutzt, um größere Mengen einzuteilen und auswendig zu lernen. Benennt man die einzelnen chunks, spricht man auch vom Kategorisieren. Das Kategorisieren wiederum ist an das Sammeln und Ordnen gebunden, bzw. an das Erstellen von Mustern.

Formeln

Etwas zu kategorisieren beruht auf einer Abstraktion. Wenn die Abstraktion von jeglichem Merkmal absieht, abgesehen von der Einheit, kommt man zu den Zahlenmengen. Zahlen selbst ordnen diese Mengen nach der Menge ihrer Elemente (tautologischer kann man es leider nicht ausdrücken). Die grundlegenden Rechenoperationen, wie etwa 3 x 3, fassen solche Mengen in einer Art zusammen, dass sie der Aufmerksamkeit weiterhin zugänglich bleiben. Während dabei die Zahlen abstrahierte Elemente sind, stellen die Operationen abstrahierte Handlungen dar. Das Pluszeichen steht zum Beispiel für "lege dazu" oder "füge zusammen".
Schreibt man eine solche einfache Formel aus, kommt man zu einer Proposition. Propositionen, so vermuten die Kognitionspsychologen, sind die Grundlage des Weltbildes. Diese Beobachtung ist deshalb so wichtig, weil man so das Mathematisieren als eine Form der abstrakten Weltbeschreibung postulieren kann.

Modelle

Modelle wiederum stellen Regeln auf, wie man bestimmte Weltausschnitte zueinander systematisieren kann. Typisch dafür sind z.B. die Bedürfnispyramide, das Emotionsmodell von Plutchik oder der Erzählkreis von Stanzel (wobei dieser ziemlich kompliziert ist, da er mehrere Schichten der Abstraktion miteinander kombiniert).
In Modellen gibt es keine vollständige Abstraktion. Sie sind an Merkmale gebunden. Auch die Operationen zwischen ihnen sind konkreter als bei den Rechenoperationen. Trotzdem kann man in gewisser Weise hinter den Modellen die mathematischen Formeln entdecken.
So kann man bei Modellen auf der einen Seite die vollkommene Abstraktion entdecken, die aber inhaltsleer ist, weil sie an keinerlei Merkmale außer der Identität der Elemente mit sich selbst gebunden ist. Demnach können die Elemente aber auch untereinander nicht mehr unterschiedlich sein, abgesehen von ihrer Identität natürlich, so dass die Menge in sich selbst nur noch durch ein formales System geordnet werden kann. Das ist natürlich die Mathematik, bzw. die Mathematik des Zahlenraums.
Und auf der anderen Seite bezöge sich ein Modell auf eine absolute Konkretion, wodurch das Modell mit der Realität zusammenfallen würde. Dementsprechend wäre es sinnlos, überhaupt ein Modell zu erstellen.

Im Zwischenraum

Modelle, die weder vollkommen konkret noch vollkommen abstrakt sind, bilden die Ausgangssituation für das Erfassen von Mengen. Nun muss man wissen, dass Kinder zunächst von sehr abstrakten Einheiten ausgehen und erst nach und nach zu differenzierten Bildern und Vorstellungen kommen. Typisch dafür ist das Erkennen von Gesichtern. Säuglinge reagieren zunächst ganz allgemein auf bestimmte Anordnungen von Element, die Gesichtern ähneln, dann nur noch auf Gesichter von Menschen, schließlich nur noch auf belebte Gesichter und ganz zum Schluss unterscheiden sie zwischen den Gesichtern ihrer Bezugspersonen und fremden Gesichtern (diese letzte Phase nennt man auch Fremdeln, die etwa zwischen dem 6. und 8. Lebensmonat eintritt).
Nun müsste den Kindern eigentlich die Abstraktion in den Zahlenraum leicht fallen, da sie ja aus der Abstraktion kommen. Tatsächlich aber ist unser Gehirn darauf ausgerichtet, konkrete Einheiten zu erschaffen. Das Gehirn ist eine „Konkretisierungsmaschine“. Es wird so weit konkretisiert, wie es nötig ist, um interessante Handlungen auszuführen.

Operationalisieren

Gewöhnlich ist eine Handlung darauf ausgerichtet, etwas Anderes (nicht unbedingt etwas Neues; siehe das Nachahmungsverhalten) herzustellen. Wird eine solche Tätigkeit gedanklich vorweg genommen, hat man es mit einer Operationalisierung zu tun. Die Entwicklung des kindlichen Bewusstseins ist auf solche Operationen, die Anderes anstreben, angelegt. Dies geschieht dann mehr oder weniger abstrakt. Und hier unterscheidet sich die Mathematik (oftmals, durchaus nicht immer) von dem normalen kindlichen Handeln: die Mathematik bevorzugt Systeme, die sich auf sich selbst abbilden.
Damit wird das Operationalisieren zu einem Sonderfall: es erzeugt nichts Neues. Und insofern widerspricht es dem kindlichen (aber eben auch oftmals dem erwachsenen) Denken.

Mathematische Basiskompetenzen

Eigentlich wollte ich …
Dieser Satz wird wohl zu einem Running Gag. Eigentlich wollte ich für meine Klasse einen Adventskalender herrichten. Das ist passiert. Eigentlich wollte ich für meine Klasse ein Heft für Sonderaufgaben zur Geometrie erstellen. Es ist auf 24 Seiten angelegt, 21 Seiten habe ich bereits. Eigentlich wollte ich das Kapitel über Raum und Fläche zu Ende diskutieren. Stattdessen habe ich von einem Zitat aus zahlreiche Notizen zu Spielen, Origami, und anderen Sachen geschrieben. Na gut, zahlreich ist etwas übertrieben: es sind genau 19.
Auch die mathematischen Basiskompetenzen wollte ich mir eigentlich etwas genauer ansehen. Das ist allerdings nicht passiert.

Basteln

Samstagmorgen war ich unterwegs: an der Storkower Straße befinden sich einige Geschäfte, in denen man günstig alle möglichen Sachen kaufen kann, Schachteln, Papier, Stifte, Kleister, eben all diese Sachen, die in 1 €-Läden angeboten werden. Dort habe ich mich mit Packpapier, Büroklammern, Geodreiecken, und ähnlichem eingedeckt. Dann habe ich mir noch feste Pappe aus dem Supermarkt mitgehen lassen. Heute Nachmittag habe ich dann ein wenig herumgebastelt, aber wie ihr euch sicher vorstellen könnt, nicht allzu viel, weil ich, ich sagte es ja bereits, wenig Zeit hatte. Ich bin noch unzufrieden; ich muss meine handwerklichen Fähigkeiten deutlich verbessern. Man kann aber aus Pappe und buntem Papier schönes, sehr stabiles Material herstellen, mit dem man zahlreiche Aspekte für den Mathematikunterricht, aber auch für den Deutschunterricht abdecken kann. Eventuell komme ich ja diese Woche dazu, ein paar einfachere Materialien konkret werden zu lassen.

Lesen

Nein, zum Lesen bin ich gar nicht mehr gekommen.
Nun gut, ich habe in meinem Zettelkasten rumgestöbert. Mathematik, bzw. Zahlen, Reihen und Mengen, Modelle und Aufmerksamkeit; dazu habe ich meine früheren Notizen gelesen. Was ich eigentlich mache: mich gedanklich an meine neue Klasse anzuschmiegen. Glücklicherweise habe ich bei dieser Klasse, bzw. bei dieser Schule mehr Zeit, mich nachmittags zu Hause hinzusetzen und zu reflektieren. Wenn ich bedenke, dass ich an meiner letzten Schule das Thema Balladen Anfang April abgeschlossen hatte, aber eine gründliche, sachliche Analyse immer noch nicht geleistet habe, eine halbwegs brauchbare erst im Sommer, bin ich im Moment gut dabei.

Neue Schule, neues Glück

Ich mag mir das gar nicht vorstellen: Dienstags zum Beispiel bin ich um 12:30 Uhr mittags zuhause. Da hatte ich an der anderen Schule noch anderthalb Stunden zu tun. Bis ich dann nach Hause gekommen bin, war meist 17:00 Uhr vorbei, nicht selten 18:00 Uhr.
Insofern geht es mir im Moment wesentlich besser. Obwohl ich meine Schüler vermisse: die waren echt großartig. Auch über die Eltern kann ich mich nicht beschweren: ich habe noch nie so viel Unterstützung erfahren, wie damals, an dieser Schule, zumindest durch die Eltern. Zu den Kollegen kann ich zwar auch insgesamt viele gute Sachen berichten, allerdings war das Verhältnis zu einigen (eigentlich nur zu zwei) an meiner alten Schule dermaßen schwierig, dass mir das emotional viel Energie geraubt hat. Dummerweise hängt mir das in meiner neuen Schule immer noch nach. Dabei sind meine drei Kolleginnen, mit denen ich mir den gleichen Flur teile, sehr nett und hilfsbereit.