08.02.2015

Der Waldberg (aus Rose Ausländer: Denn wo ist Heimat?)

Rose Ausländer, geboren 1901 in Czernowitz/Österreich-Ungarn, hat in den Jahren 1927-1957 etwa 400 Gedichte geschrieben, von denen der Herausgeber der Gesamtausgabe, Helmut Braun, über 100 ausgewählt hat, um sie in diesem zweiten Band der Gesamtausgabe unter dem Titel Denn wo ist Heimat? zu veröffentlichen. Genauere Datierungen habe ich nicht erforscht.






Zeitgeschehen

1918 zerfiel die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie. Wien, Prag, Budapest und einige andere Städte dürften zu den kulturellen Hochburgen dieser Zeit zu rechnen sein. Die Psychoanalyse, die Wiener Secession, der Wiener Kreis, die Zwölftonmusik; all dies wurde mit Österreich-Ungarn verbunden. Der Geburtsort von Rose Ausländer allerdings lag ganz am Rande der Monarchie, in der heutigen Ukraine.
Mit dem Zerfall der Doppelmonarchie wurde Czernowitz rumänisch. Rose Ausländer hielt sich von 1921-1931 in den USA auf. Danach kehrte sie nach Czernowitz zurück. 1940 wurde dieses von den Russen besetzt; 1941 eroberten die deutschen Streitkräfte die Stadt. Die dort lebenden Juden wurden in ein Getto gesperrt; Zwangsarbeit und Deportation waren die Folge. Rose Ausländer überlebte das Getto. 1944 befreien russische Truppen das Gebiet. Seit 1946 lebte Rose Ausländer in New York. Erst 1965 siedelte sie, bis zu ihrem Tod 1988, nach Düsseldorf über.

Die Gedichte Rose Ausländers

Es ist vielleicht für mich zu früh, etwas über die Gedichte in ihrer Gesamtheit zu sagen. Zwar besitze ich mittlerweile bis auf drei Bände alle Werke, doch von einer intensiveren Beschäftigung kann bisher kaum die Rede sein. Zudem ist es recht schwierig, an Sekundärliteratur heranzukommen, vor allem an Sekundärliteratur aus der neueren Zeit. Offensichtlich gehört diese Dichterin zu den mittlerweile vergessenen Kulturschaffenden.
Auffällig an ihren Gedichten ist jedoch, dass diese von Beginn an eine große Offenheit vermitteln. Wesentlich zu diesem Eindruck tragen fünf poetische Strategien bei:

Sinnlichkeit und kühne Metaphorisierung

Ausländers Gedichte sind voller einfacher Gegenstände: Schmetterling, Baum, Blume, Klang, Duft, …; selten benutzt sie ausgesuchte, ungewöhnliche Wörter. Selten ist der Baum ein Flieder oder die Blume eine Margerite. Wie ein Kind, welches seine ersten Bezeichnungen ausprobiert, tastet sie sich durch die Welt. Und trotzdem, durch das reine Nebeneinander, verdichten sich ihre Verse zu teilweise kühnen Metaphorisierungen. Völlig verschiedene Bereiche verschränken sich, ohne dass diese Verschränkung in einen geordneten, vernünftigen Zustand gebracht wird:
Asche aus Abend und Aas.
Denn wo ist Heimat?, S. 80

Syntaktisch-semantische Zweideutigkeit

Schon in ihren ersten Gedichten finden sich syntaktische „Fehler“, die die Bedeutung der Verse öffnet und vielfältige Anschlüsse (Interpretationen) ermöglicht:
Ruft eine Baumseele grünes Ermahnen,
duftet der Honig der Dolden herein,
läutet ein Lerchenlied sternisches Ahnen,
quillt aus dem Sonnenberg süßester Wein.
Denn wo ist Heimat?, S. 45
Ganz unvermutet endet der Satz. Er bleibt (zunächst) eine Aneinanderreihung sinnlich-metaphorischer Wendungen. Später wird Ausländer ihre Gedichte fast völlig ohne Satzzeichen verfassen, in freien Versen und Strophen. Die einzelnen Verse erscheinen wie Zwischenglieder zwischen den anderen Versen und damit die Gedichte wie kontinuierliche Verschiebungen der bisherigen Betrachtungsweise.

Vertauschen von Relationen und Abhängigkeiten

Beständig spielen die Gedichte mit den Abhängigkeiten und vertauschen sie.
Und die Bäume, sinds seine Glieder
oder meine verzweigten Lieder,
die Silben aus Blättern geschürzt?
Denn wo ist Heimat?, S. 47
Auf diese Weise setzt Ausländer Herrschaftsverhältnisse aufs Spiel, erschüttert und hinterfragt sie. Vor allem ist dies die Herrschaft des vernunftbegabten Subjekts. Dieses löst sich in seiner Hingabe an die Sinnlichkeit der Welt ebenso auf, wie in seiner gemeinsamen Erschaffung in der Sprache. Die Sprache geht in gewisser Weise dem Subjekt voraus. Indem es sich der Sprache hingibt, erschafft es sich erst.

Anthropomorphisierung

Der Dialog muss keiner zwischen Menschen sein. Alles ist zur Sprache fähig, und insofern scheint den Dingen die Möglichkeit wie ein Mensch zu erscheinen substantiell eingeschrieben. Damit treten sie aber aus dem rein sinnlichen Bereich heraus. Sie werden zu Freunden und Verbündeten, Führern und Feinden. Die ganze Welt ist politisch, weil sich in allen Zusammenhängen Verhältnisse des Willens widerspiegeln.

Selbstthematisierung

Schließlich spielen die Selbstthematisierungen eine wichtige Rolle. Immer wieder erinnert das lyrische Ich daran, dass es diese Gedichte schreibt, mit den Möglichkeiten, die eine Dichterin zur Verfügung hat: den Silben, den Versen, den Liedern.
Durch die Selbstthematisierung erinnert das lyrische Ich an eine Art Zentrum des Sprechens, wobei dieses Zentrum gelegentlich eine aktive Passivität (vgl. S. 45) bleibt, in der verschiedene Sphären verbunden und die Übergänge zwischen diesen Sphären gefiltert werden.

Der Waldberg

Diese Skizzen zur Poetik Rose Ausländers sind mit einiger Vorsicht zu genießen. Sie beruhen auf einer recht schmalen Auswahl genauer analysierter Gedichte. Im folgenden sollen sie uns aber als Leitlinien für die Analyse des Gedichtes Der Waldberg dienen. Hierbei handelt es sich offensichtlich um einen prägnanten Berg, den die Lyrikerin mehrfach beschreibt; siehe zum Beispiel das Gedicht Der Bergwald (S. 47).

Das Gedicht

Der Waldberg
Den zerschnittnen Leib aus Serpentinen
gibt er allen, allen will er dienen.

Aus dem Moosfleisch drängen Pilz und Blume,
seiner liebsten Jahreszeit zum Ruhme.

Wenn die Sonnensilben ihn beschwören,
opfert er sein bestes Blut den Beeren.

Den verstrickten Wurzeln seiner Bäume
überträgt er seine Gipfelträume.

Seinem Haupt erlaubt er nur ein Denken:
licht zu sein und sich dem Licht zu schenken.
Denn wo ist Heimat?, S. 24

Dienen

Auffallend ist die Isotopie zum Wort ›dienen‹:
+ dienen
+ zum Ruhme
+ (Blut) opfern
+ sich schenken (dem Licht)
Obwohl sich diese Zeichen der Hingabe in jeder Zeile des Gedichtes finden, bleibt sie in gewisser Weise zweideutig. Sie ist eine Aufopferung, aber eine recht herrschaftliche. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, dieses Opfer zurückzuweisen.

Personifikation des Herrschers

Vor allem durch die aktiven Verben gefördert findet sich eine Personifikation eines Herrschers, dem Waldberg (so möchte man meinen), der zugleich Staatsleib und Monarch ist; rhetorisch gesehen wirken zwei Paradoxien:
1) Der Waldberg ist so etwas wie der erste Diener des Staates, also durch (Selbst-)Unterwerfung erhöht (was die räumlichen Metaphoriken, die vor allem hierarchische sind, fragwürdig macht, bzw. in eine Schwebe bringt).
2) Der Waldberg ist zugleich Teil als auch Ganzes.

Hierarchische Gliederung

In gewisser Weise findet sich eine Hierarchie in dem Gedicht, die in drei Glieder aufgeteilt ist. Bezeichnet man die Mitte mit dem Leib, dann wird die darunterliegende Stufe durch die Wurzeln, die darüber liegende durch das Haupt, bzw. die Sonne und dem Licht gebildet.
So spielt das Gedicht auf zwei Topoi der politischen Theorie an: einmal auf den Staat als Körper, wie er von Thomas Hobbes beschrieben wird; einmal auf die Selbstdarstellung Friedrich II. als aufgeklärter Monarch.

Gipfelträume

Im Gedicht finden sich drei Katachresen: Moosfleisch, Sonnensilben und Gipfelträume. Die Katachrese ist ein Kompositum, dessen einer Teil metaphorisch gemeint ist.
Das Wort Gipfelträume nimmt in dem gesamten Gedicht eine schwierige Stellung ein. Welche Rolle es in der „Hierarchie“ des Waldbergs spielt, ist keineswegs klar. Zunächst verweist das Wort übertragen auf eine Delegation, auf die Zuweisung einer Aufgabe, wie sie typisch ist in Herrschaftsverhältnissen. Doch geraten hier, zusammen mit der Aufopferung und Dienerschaft des Monarchen, sowie mit der Bedeutung der Wurzeln für das Ökosystem Wald, die einfachen Verhältnisse durcheinander: Sie bleiben in der Schwebe, unentschieden.

Moosfleisch

Die Verleiblichung des Berges taucht häufiger als Thema in den Gedichten Ausländers auf. Offensichtlich handelt es sich um ein Ausflugsziel Ausländers, denn neben dem Thema des natürlichen Staatswesens ist die Wanderschaft, die zugleich eine Verschmelzung bedeutet, ein anderes Thema in ihren Gedichten. So taucht das Wort Moosfleisch auch in Was dem Berg gehört (Die Musik ist zerbrochen, S. 35) auf. Menschlicher Leib und Natur verschränken sich ineinander. Dabei vermischen sich aber weniger die Materien als die Funktionen. Nicht in ihrem Dasein, sondern in ihrem Füreinandersein werden sie zu Vorbildern und Lehrmeistern.

Sonnensilben

Oftmals finden sich bei Rose Ausländer Hinweise auf poetische Elemente oder poetische Verfahren. Die Selbstthematisierung jedenfalls ist ein wiederkehrender Topos ihrer Gedichte. In diesem Fall ist aber nur die Katachrese Sonnensilben eine Verbindung zu der Tätigkeit der Dichterin. Unklar ist allerdings, ob die Sonne zu dem Gipfel des Berges dazu gehört, oder diesen übersteigt. Von den politischen Träumen der vergangenen Jahrhunderte abgeleitet wäre beides möglich: der Monarch als Sonne und der Monarch, der der Sonne am nächsten, aber dieser doch untergeordnet ist.

Inversion

Jeder Satz ist durch eine Inversion gebildet. Das Subjekt steht in einer „nachrangigen“ Stellung. In Strophe 1 und 4 beginnt der Satz mit einem Akkusativobjekt, in Strophe 5 mit einem Dativobjekt. Strophe 3 stellt einen Nebensatz voran, der die Bedingungen für den Hauptsatz formuliert. Und in Strophe 2 wird das Satzsubjekt exemplarisch durch Pilz und Blume benannt, aber ebenfalls in einer Satzinversion, die eine adverbiale Ortsbestimmung (allerdings eine metaphorisierte) voranstellt. In einer Beifügung bezieht sich das Possesivpronomen offensichtlich auf ein Subjekt außerhalb der Strophe.
Der ganze Satzbau drängt also darauf hin, das Subjekt in eine nachrangige Stellung zu versetzen, ohne es als Satzsubjekt (im grammatikalischen Sinne) aufzugeben. Es bleibt weiter das Zentrum der Aktivität, doch die Betonung der Aktivität betrifft das Ziel, im Satz also Akkusativ- und Dativobjekte.
Auch dadurch geraten die Sätze in ihrer Bedeutung in eine Schwebe.

Licht

1) Zunächst ist die Verbindung von Haupt, denken und Licht eine recht eingängige: Sie bezieht sich auf die Aufklärung, auf die Überlegenheit der Aufklärung, auf ihr Licht-sein und damit auf ein rationalistisches Prinzip.
2) Durch mehrere Strategien wird dieses Bild der Überlegenheit allerdings erschüttert. Zunächst ist dort das reflexive Verb „sich schenken“ zu nennen. Das Denken opfert sich, indem es so wird, wie das, dem es sich hingibt: licht. Allerdings ist in der ersten Nennung das Licht eine Eigenschaft, während beim zweiten Mal Licht sowohl als Denotat gelesen werden kann, dem sich der personifizierte Herrscher gegenüber als metaphorisch verhält, als auch als Metapher für die Aufklärung und damit als „natürliche“ Verbindung zum aufgeklärten Herrscher.
3) Damit sind wir bei der zweiten Erschütterung des rationalistischen Prinzips. Die Doppeldeutigkeit des Lichts selbst ist es, die die Trennung von Natur und Kultur, Vernunft und Dasein in Frage stellt.
4) Der erste Vers der 5. Strophe wiederholt die Paradoxie des Herrschers als Teil und als Ganzes, diesmal allerdings auf den „eigentlichen“ Sitz der Herrschaft bezogen, das Haupt. Der Herrscher steht hier außerhalb, er weist einem Teil seiner Herrschaft, seinem Haupt, eine bestimmte Aufgabe zu, indem er seinen Bereich begrenzt, ihm nur bestimmte Sachen erlaubt. Zugleich aber, so sollte man meinen, ist er gleichbedeutend mit dem Haupt selbst. Dann aber würde es sich um eine Selbstdisziplin handeln, um eine vernunftgemäße Beschränkung der Herrschaft und eine andere Formulierung für „erster Diener des Staates“.

Zwischenreiche

Die Räume, in denen sich der dichterische Geist bewegt, sind Zwischenräume. Sie leben von der Spannung, zugleich Teil als auch Ganzes zu sein; Teil, denn ihr Dasein ist flüchtig und ihre Sinnlichkeit vergänglich, Ganzes, weil nur sie eine Fülle anbieten, in der der Mensch sich sprechend verorten kann. So wird der erste Diener des Staates zu einer Chiffre für die Dichterin, die zugleich herrscht und dient, Chronistin ihrer eigenen Herrschaft ist und ihre eigenen Taten treulich nachzeichnet und damit zugleich vollbringt:
Der Kampf ist endlos
Keiner siegt
Die Musik ist zerbrochen, S. 90

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