17.02.2015

Sprachspiel und Sprechakt

Ich solle doch zumindest schöne Zitate raussuchen, wenn ich schon nicht zum Schreiben komme. Nun, vor einigen Jahren habe ich mich mit dem Thema Wut/Zorn beschäftigt. Hintergrund war die Lektüre mehrerer Bücher zur Emotionspsychologie. Ich wollte dieses Thema dann, zumindest für mich, anhand von kulturellen Texten auch semantisch untersuchen. Vor allem Goethe hatte es mir damals wieder angetan. Dazu habe ich jetzt, mit einiger weiterer Lektüre, noch einmal meinen Zettelkasten durchforscht.

Weinen und Gebrüll

Das Weinen im Gefängnis: die anderen merken, ob das Weinen »mechanisch« ist oder »angstvoll«. Unterschiedliche Reaktionen, wenn jemand »Ich will sterben« schreit. Wut und Verachtung oder einfaches Gebrüll. Man fühlt, dass alle voller Angst sind, wenn das Weinen ehrlich ist. Weinen der Jüngsten. Der Gedanke des Todes stellt sich zum erstenmal ein (man wird mit einem Schlag alt).
Gramsci, Antonio: Gefängnishefte I, S. 140
Diese Passage ist aus einer Notiz zu den Gefängniseindrücke von Jacques Rivière. Sie ist insgesamt sehr spannend (und bedrückend).

Wahrheitsbedingungen

Wäre ich ein Sprechakttheoretiker, dann müsste ich zunächst von der einzelnen Aussage ausgehen, die als zentrales Element der verbalen Handlung untersucht werden muss. Doch die Passage von Gramsci zeigt, dass eine Aussage wie »Ich will sterben« weder einen Wahrheitsgehalt besitzt, noch eine einfache, performative Aussage darstellt. Noch schwieriger stellt es sich dar, wenn man das Weinen, welches ja offensichtlich von den anderen Gefängnisinsassen verstanden wird, als Aussage zu untersuchen versucht.

Konstellationen

Je undeutlicher eine Aussage ist, umso schwieriger wird es, alleine aus der Struktur dieser Aussage den Handlungsgehalt herauszuarbeiten. Dann aber kommen die Sprachkonstellationen ins Spiel. Solche Konstellationen nicht alleine durch weitere Handlungen strukturiert, sondern durch zentrale Differenzen, die die Reaktionsweisen zwar nicht vollständig determinieren, aber zumindest vorgeben. Statt von einer Determination kann man von Gewohnheiten sprechen. Und so scheint es dann auch hier zu sein: Das Weinen wird je nach Einschätzung des Weinens (und wer dies äußert) anders behandelt.
Wesentlich ist also nicht der Sprechakt, sondern wie dieser in einem Sprachspiel konfiguriert ist. Wittgenstein hat für die Regeln dieser Konfiguration den Begriff der Tiefengrammatik geprägt. Er ist weniger an den oberflächlichen grammatischen Regeln orientiert, als an zentralen Differenzen und Wegen der Transformation.

Regeln befolgen

An solchen Sprachspielen und Transformationen kann man dann übliche und unübliche Wege verfolgen, die mal den gewöhnlichen Einteilungen gehorchen, mal widerständige und entgegengesetzte Wege gehen.
Um mit solchen Gewohnheiten bewusster umgehen zu können, ist eine Analyse notwendig. Klassischerweise wurden solche Analysen als Mittel zum Ziel der Vernunft ausgegeben. Irgendwann, so wurde implizit angenommen, habe man die Zwänge der Sprache hinter sich gelassen und sei in eine freie Ordnung eingetreten. Eine solche Annahme geht aber davon aus, dass sich eine wie auch immer geartete Realität erreichen ließe. Dem muss man, eigentlich schon seit Immanuel Kant, deutlich widersprechen.

Resignifikation

Wenn es aber nur eine illusionäre Orientierung in der Sprache gibt, dann kann es auch keinen festen Bezugspunkt für die Interpretation geben. Judith Butler führt dies angesichts der feministischen Interpretation der Pornographie vor. Problematisch ist nicht nur die Pornographie selbst, sondern auch deren Interpretation. Eine Analyse bedeutet immer den Ausschluss bestimmter Aspekte und damit eine Zurichtung des Untersuchungsgegenstandes, so dass die Ergebnisse von der Untersuchung, nicht von dem Untersuchten vorstrukturiert werden.
Die Resignifikation versucht dieser Misere dadurch zu entkommen, dass sie die vielfältige Lektüre zum Prinzip erklärt. Nur dadurch können die Begrenzungen von Interpretationen erfahren und deutlich gemacht werden.

Relation und Wesen

Sowohl Judith Butler als auch Wittgenstein gehen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, von einer strukturellen Latenz aus. So schreibt Wittgenstein:
Die Grammatik ist keiner Wirklichkeit Rechenschaft schuldig. Die grammatischen Regeln bestimmen erst die Bedeutung (konstituieren sie) und sind darum keiner Bedeutung verantwortlich und insofern willkürlich.
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Grammatik, S. 184)
Nietzsche äußert sich ähnlich:
Die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise ist unsinnig: es liegt im Wesen einer Sprache, eines Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszudrücken … Der Begriff „Wahrheit“ ist widersinnig … das ganze Reich von „wahr“ „falsch“ bezieht sich nur auf Relationen zwischen Wesen, nicht auf das „An sich“ … Unsinn: es gibt kein „Wesen an sich“, die Relationen konstituieren erst Wesen, so wenig es eine „Erkenntnis an sich“ geben kann …
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1887-1889, S. 303

Referenz

Wenn man von der Sprechakttheorie ausgeht, dann ist diese einer Referenz auf eine Intentionalität verhaftet. Die Untersuchungen Wittgensteins dagegen beziehen sich auf die Strukturen der Oberfläche, also gerade nicht auf etwas Innerpsychisches. Gelegentlich hat Wittgenstein deshalb das Wesen durch den Begriff des Bedeutungskörpers ersetzt. Die Bedeutung wird durch den Gebrauch bestimmt und statt den Regeln der Grammatik zu folgen und einer wie auch immer gearteten Absicht, gilt es deshalb, die Regeln des Gebrauchs genauer zu betrachten.
Wenn also Gramsci über das Weinen schreibt, dann geht es vor allem auch darum, wie eine Institution bestimmte Äußerungen benutzt und dadurch auf bestimmte Arten und Weisen Subjekte erzeugt.

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