30.03.2015

Seltsame Einschübe

Was denn nun meine Kritik an Zimpel sei, bzw. an seinem Buch Einander helfen, fragt mich jemand. Bleiben wir bei einem oberflächlichen Phänomen.
Zimpel schafft es, in seine wissenschaftliche Argumentation Sätze einzubauen, die nicht dort hineingehören, die in gewisser Weise sogar schräg zu der Argumentation verlaufen und diese stören:
„Sein hypnotischer Blick verrät einen investigativen, jung gebliebenen Geist, dem das Grauweiß von Bart und Locken nun auch noch eine Aura von Weisheit verleiht.“ (36)
„Man könnte seine Herkunft aus den USA auf den ersten Blick erkennen, würde er zu seiner John-Lennon-Brille und zu seinem silbergrauen Vollbart noch die obligatorische Baseballmütze tragen.“ (37)
Mich erinnert dies an die Beschreibung der Texte Michelets. Auch dieser scheint sich mehr für den Faltenwurf, die Farben, und Ähnliches zu interessieren, als für die Aussagen zu Verträgen, politischen Bündnissen, usw.
Genauer gesagt: Diese Sätze, die Zimpel in seine Argumentationsgänge einfügt, wirken wie hilflose Versuche, den Text plastischer, bildlicher, persönlicher zu machen. Aber mit Bildlichkeit und Anschaulichkeit hat das wenig zu tun. Es gibt keine Motivation für diese Bilder innerhalb des Textes. Sie verwirren eher, als dass sie das Verständnis unterstützen.

Da auch dies gefragt wurde, wie ich nämlich den Autismus in Wirklichkeit sehe, betone ich noch einmal, dass ich keineswegs Zimpels Ansichten des Autismus' kritisiere, sondern nur bestimmte Aspekte der Darstellung, bzw. bestimmte Schlussfolgerungen. Ein Urteil über das Störungsbild oder didaktische Schlussfolgerungen aus diesem kann ich mir derzeit noch nicht erlauben.

29.03.2015

Abenteuer Autismus, Kulturen der Empathie

Derzeit lese ich mich in das Thema Autismus ein. Gerade im Moment ist die Diskussion um die sogenannten Autisten sehr spannend. Mein Weg dorthin war eher zufällig. Es ist nicht mein Fachgebiet, obwohl ich Sonderpädagoge bin.

Literatur: Autismus und Empathie

Georg Feuser: Mensch/Umwelt-Psychologie

Vor drei Jahren habe ich länger und intensiver eine Arbeit zum Thema Autismus betreut. Hier war eines der Bezugsbücher von Georg Feuser, Autistische Kinder und Jugendliche, ein Buch, das mir wenig gefallen hat. Es vertritt mir eine zu grobe Systemtheorie, die zu sehr von einer vulgärmarxistischen Mensch/Umwelt-Psychologie kommt (typisch dafür sind Bronfenbrenner und Kriz, beides Autoren, die voller metaphysischer Grundannahmen sind).
Aber ich mag nicht ungerecht sein: tatsächlich habe ich dieses Buch nicht vom Thema Autismus her aufgeschlüsselt, sondern nur die systemischen Aspekte besonders gründlich überdenken können.

André Zimpel: zu viel des Sozialen

André Zimpel hat ein interessantes Buch veröffentlicht, Einander helfen. Der Weg zur inklusiven Lernkultur, welches allerdings recht befremdlich geschrieben ist; so hatte ich Zimpel aber auch schon in den Seminaren erlebt: immer, wenn er versucht, verständlich zu schreiben, wird er unverständlich. So finden sich zahlreiche, wenig der Sache dienliche Sätze in diesem Buch. Man stolpert über sie und kann sie nicht einordnen.
Eine der Kernthesen dieses Werkes ist der Zusammenhang von sozialer Aufmerksamkeit und Reizüberflutung. Zimpel postuliert, dass zumindest bestimmte Formen des Autismus durch eine völlig überhöhte Form der sozialen Aufmerksamkeit zu Stande kommen, so dass das autistische Kind durch die Reizüberflutung dermaßen überfordert ist, dass es sich zurückzieht und gerade im sozialen Bereich lange Zeit besonders verlässliche Regeln braucht.

Giacomo Rizzolatti: Handeln als Interpretation

Fachlich gesehen ist es allerdings ein Buch, was ich durchaus für sehr bedenkenswert halte, und meine derzeitigen Bücherbestellungen betreffen einige der Werke, die Zimpel zitiert, so zum Beispiel das Buch von Giacomo Rizzolatti Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. — Allerdings wollte ich dieses Buch schon lange einmal lesen, weil mich in den vergangenen Jahren die Diskussion um die Spiegelneurone und die Empathie, so wie sie in den Massenmedien und im Coaching-Bereich geführt wird, ziemlich genervt hat. Tatsächlich ist das Buch von Rizzolatti mit aller nötigen Vorsicht geschrieben, die immer dann greifen muss, wenn man neue Erkenntnisse aus der Neuropsychologie in die Praxis umsetzen möchte. Sofortige AHA-Effekte wird man in diesem Buch wohl eher nicht finden, es sei denn man konstruiert sie sich selbst hinein.
Eine wichtige Sache, die in der öffentlichen Diskussion überhaupt nicht auftaucht, ist der Zusammenhang zwischen Handlungsmustern und Interpretation. Es ist eigentlich nahe liegend, dass alle neuronalen Muster die Welt interpretieren und somit auch Handlungsmuster interpretierend sind. D.h. aber auch, dass sie nicht pragmatisch, sondern intellektuell gedacht werden müssen. Damit müssen Handlungen wiederum ganz anders gesehen werden, nämlich gerade nicht als eine strenge und enge Verbindung mit der Wirklichkeit. Und zum anderen kann man die strikte Trennung zwischen Handlungsmustern und Wahrnehmungsmustern nicht mehr aufrechterhalten. Die Übergänge zwischen ihnen sind mindestens fließend, wenn nicht sogar nicht existent.

Michael Tomasello: vormoralische Empathie

Ein anderes Buch, das Zimpel zitiert, und das ich für sehr wichtig erachte, stammt von Michael Tomasello Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Es ist nun keineswegs eine Neuheit, dass die Kultur sich in einer Art entwickelt, dass man evolutionäre Mechanismen am Wirken sieht. Bereits Karl Marx hat sich für die Forschungen Darwins interessiert und wollte ihn treffen, damals, als er in London lebte. Darwin hat ein solches Treffen jedoch abgelehnt, wohl mit der Begründung der politischen Gesinnung Marx'. Eine weitere Verbindung hat dies jedoch nicht verhindert. Im 20. Jahrhundert wurde die soziokulturelle Entwicklung auf unterschiedlichste Arten und Weisen erforscht.
Soweit ich das überblicken kann (aber ich habe tatsächlich das Buch bisher nur durchgeblättert), entsteht für Tomasello ein Gemeinschaftszusammenhang (sagen wir: ein Wir-Gefühl), bevor diese Gemeinschaft eine gemeinsame Moral entwickelt. Der Zusammenhang wird biologisch begründet, wenn auch auf der Basis der biologischen Evolution, die den Menschen zu einem notwendig sozialen Wesen macht. Dann aber kann die Gemeinschaft nicht als Leistung einer Moral gesehen werden, sondern die Moral als Ergebnis einer Gemeinschaft. Und in diesem Sinne hat Nietzsche recht, wenn er die Moral auf ihre Effekte der Eigennutzmaximierung hin untersucht; siehe Genealogie der Moral.

Foucault, Leroi-Gourhan, Lotman und Bachtin, Luhmann

Hier wäre zum Beispiel Michel Foucault zu nennen, der die Bedingungen von Denksystemen, also Arten und Weisen, wie zu bestimmten Zeiten das Wissen eingeteilt und für die Praxis nutzbar gemacht wurde, untersucht hat. André Leroi-Gourhan hat mit seinem Werk Hand und Wort ein vortreffliches Buch vorgelegt; mich hat es ziemlich beeinflusst. Ein anderes, für mich wichtiges Werk ist Lotmans Die Innenwelt der Außenwelt, und hier sowieso eine bestimmte postkantianische Schule der russischen Literaturwissenschaft (Michail Bachtin). Nicht zuletzt aber muss man hier Niklas Luhmann und sein Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft nennen. Obwohl ich Luhmann seit langer Zeit kaum noch lese, so dass man meinen könnte, die Systemtheorie spiele für mich keine Rolle mehr, gibt er für mich immer noch den Rahmen allen meines Denkens an. Und wie ich neuerdings festgestellt habe, fällt es mir leicht, mich mit einem Systemiker auf hohem Niveau zu unterhalten.

Ungelesen: Fritz Breithaupt Kulturen der Empathie

Weil es so schön und direkt daneben zu bestellen war, habe ich mir auch ein anderes Werk zugelegt, über das ich noch nichts zu sagen vermag. Es wurde von einem Fritz Breithaupt geschrieben und nennt sich Kulturen der Empathie. Gerade dieses Buch musste dann auch einen Teil des Titels meines Artikels liefern: weil es bereits vom Titel für meine derzeitigen Überlegungen eine Rolle zu spielen scheint und diesen selbst das Thema vorgibt.
Ich glaube, ich muss hier mal wieder bei meinem guten Emilio Outsourcing betreiben, der gerade meine letzte Verbindung zu einem tiefsinnig durchdachten Blick auf sonderpädagogische Phänomene darstellt.

Das Schweigen der Inklusion

Welcher Herausforderung es ist, einen Klassenverband zu führen, in dem sich so vielfältige Begabungen mischen, fange ich wohl gerade erst an zu verstehen. Hier empfinde ich die Schule insgesamt (also nicht meine eigene Schule, sondern generell die Institution und Organisation) als fahrlässig gegenüber den Kindern.
Mehrfach zeigt Zimpel, dass Inklusion nicht nur ein hohes theoretisches Niveau erfordert, gerade weil solche Phänomene wie der Autismus in all seinen Ausprägungen verstanden werden muss wie ein kompliziertes Buch mit einer langen, verwickelten Geschichte; sondern der Zusammenhalt und die thematische Orientierung im Kollegenkreis muss weit über die Nettigkeiten hinausreichen und ein gemeinsames praktisches und intellektuelles Arbeiten zulassen.
Gerade dies aber ist aufgrund zahlreicher Arbeitsbelastungen, derzeit sitze ich an Formalien für die Klassenfahrt und bereite gleichzeitig den Antrag auf Anerkennung von LRS für die Eltern vor, kaum möglich. Es gibt Tage, an denen ich mit den beiden anderen Klassenlehrern, die Wand an Wand mit mir unterrichten, keine 10 Minuten reden kann. Es ist fast immer so, dass ich, wenn ich die Schule betrete, sofort mit den ersten Kindern Gespräche führen, und auch wenn dies meist nur Smalltalk ist, so sind diese Gespräche doch enorm wichtig. Und nach meinem Unterricht sind es häufig noch Eltern, die in meinem Klassenraum vorbeischauen und das eine oder andere zu klären haben. Gelegentlich sind es bis zu zehn „Elterngespräche“ (inoffizielle, nicht angemeldete), die ich an einem Nachmittag führe.
All dies sind wichtige Aspekte einer inklusiven Schule; und trotzdem sehe ich in den mir noch unbekannten Weltbildern und Sichtweisen der Kollegen ein Lernpotential, dass wir gerade auch in der praktischen Arbeit fehlt das für die Qualifizierung der Inklusion enorm wichtig wäre.
Welche Gratwanderungen und Zugeständnisse an Lücken in der Lernkultur Regelschulen mit über 30 Kindern pro Klasse machen müssen, möchte ich mir gar nicht vorstellen. Vielleicht hat das unser Schulamt noch nicht so richtig begriffen, aber zwischen der Inklusion und einer Platzierung von sogenannten behinderten Kindern in normalen Schulklassen liegen Welten.

23.03.2015

Emulationslernen

Zimpels Buch Einander helfen hat mich, nachdem ich es jahrelang nicht mehr beachtet habe, auf das so genannte Emulationslernen gestoßen. Dies ist dem Imitationslernen insofern gegensätzlich, als hier nicht die Handlungen anderer Menschen imitiert werden, sondern die gleichen Leistungen angestrebt werden. Bei der Imitation wird ein Mensch nachgeahmt, bei der Emulation versucht ein Mensch ein gleiches Produkt herzustellen.
Beispielhaft ist das Zeichnen von Mangas, welches meine Schüler sehr gerne machen. Hier wird nicht die Tätigkeit des Zeichnens übernommen, sondern das Anfertigen eines bestimmten Bildes. Ich ermutige meine Schüler dazu, dasselbe Bild mehrfach zu zeichnen. Ich weise sie auf bestimmte Aspekte hin und zergliedere so ein Bild mehr und mehr in Teilziele. Dies scheint mir eine hauptsächliche Leistung des Emulationslernens zu sein: anhand einer Ganzheit schafft sich der Lernende nach und nach Teilschritte, durch die er sich die Aufgabe erleichtert.
Einen ähnlichen Effekt, so scheint es mir, haben meine Wochenfragen; diese sind teilweise „zu schwer“ (im neueren pädagogischen Jargon heißt dies: überkomplex). Die Schüler arbeiten sich nach und nach an die Verfertigung solcher Texte heran. Texte haben oftmals auch gar keine andere Möglichkeit, als sich in ihrer gesamten Komplexität darzustellen. Schon einfache Sätze können, will man sie analysieren, so vielschichtig sein, dass eine Reduktion auf Ausgangsabstraktionen fachlich kaum zu rechtfertigen ist.
So haben letzte Woche einige meiner Schüler, zum zweiten Mal, zu einem satirischen Bild geschrieben. Dazu habe ich dann individuelle Antworten verfasst, die zum größten Teil auf die rhetorischen Mittel abzielen, insbesondere der Frequenz (also der Häufung eines bestimmten stilistischen Mittels). Individuell sind die Antworten übrigens auch deshalb, weil jeder Schüler eine andere Art der Problemlösung gezeigt hat, so dass man vielleicht zu einem einheitlichen Ziel kommen könnte (was ich bei so komplexen Phänomenen wie der Satire allerdings bezweifle), jeder Schüler aber einen individuellen Ausgangspunkt und dadurch auch einen individuellen Lernweg besitzt.

22.03.2015

Verkleinerung und Elitismus

Da meine Schüler gerade gerne über Satire und Parodien arbeiten, lese ich mir meine ganzen alten Notizen zum Thema Humor durch. Gerade habe ich eine hübsche Stelle aus Schopenhauers Hauptwerk gefunden.

Vom Eise befreit

Doch zuvor mag ich von einer Veranstaltung berichten, die heute in Wandlitz stattgefunden hat, einem Lesewettbewerb, bei dem die Schüler auch klassische Gedichte vorgelesen haben. Dort wurde unter anderem der sogenannten Osterspaziergang von Goethe zum Besten gegeben. Abgesehen davon, dass ich dieses Gedicht aus persönlichen Gründen nicht leiden kann, wird häufig angegeben, es sei ein einzelnes Gedicht, das für sich alleine stünde. Das stimmt natürlich nicht. Es ist dem Faust I entnommen. Und dort heißt es auch nicht Osterspaziergang.
Jedenfalls musste ich mir dann heute folgende Version davon anhören:
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
von Johann Wolfgang von Goethe
durch des Frühlings holden, belebenden Blick …
Donnerwetter! Was der alte Goethe so alles konnte.

Verkleinerung/Vergrößerung

Im Vorwort von Die Welt als Wille und Vorstellung nutzt Schopenhauer eine Strategie, die zunächst als eine Selbst-Verkleinerung daherkommt, bis sie an einem bestimmten Grad kippt und wie eine Vergrößerung aussieht. Genauer beschreibt er die Wirkung seiner Werke als geringfügig und gibt sich demütig und bescheiden, um darauf hin seine Wirkung als unzeitgemäß, fortschrittlich und nur für wenige, äußerst fortgeschrittene Denker verständlich darzustellen. Er nutzt also die Verkleinerung, um sich zugleich als Avantgarde und Elite zu behaupten:
„Da ich gegen solche Vorwürfe nicht das mindeste vorzubringen habe, hoffe ich nur auf einigen Dank bei diesen Lesern dafür, dass ich sie beizeiten gewarnt habe, damit sie keine Stunde verlieren mit einem Buche, dessen Durchlesung ohne Erfüllung der gemachten Forderungen nicht fruchten könnte und daher ganz zu unterlassen ist, zumal da auch sonst gar vieles zu wetten, dass es ihnen nicht zusagen kann, dass es vielmehr immer nur [eine Sache weniger] sein wird und daher gelassen und bescheiden auf die wenigen warten muss, deren ungewöhnliche Denkungsart es genießbar fände.“
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 12

Verkehrung ins Gegenteil

In der Psychoanalyse werden verschiedene Abwehrmechanismen benannt, mit denen sich das Ich vor den Forderungen des Es schützt. Dazu gehört die Verkehrung ins Gegenteil. Sie ist als argumentative Strategie sehr interessant. Ein klassisches Beispiel dafür ist: ich liebe sie nicht, ich hasse sie!
Schopenhauer bietet nun eine ganz andere Art der Verkehrung ins Gegenteil, die eine bestimmte gesellschaftliche Struktur aufnimmt und diese dann komplett umdeutet. So wird aus der Verkleinerung ein Avantgardismus.

Gegen Hegel

Viel wichtiger daran ist allerdings, dass es bei diesem Umkippen nicht zu einer dialektischen Bewegung kommt. All dies führt gerade nicht zu einer Synthese, sondern zu einer Selbstbehauptung. Untersucht man solche Formen der Selbstbehauptung genauer, stellt man des Öfteren fest, dass hier mehrere Bewegungen zugleich vollzogen werden, dass es sich also nicht um einen einzigen Prozess handelt, sondern um Konstellationen von Prozessen, die zum Teil tatsächlich eine klassische hegelianische Gangart zeigen; zusammen allerdings lassen sie sich nicht mehr auf den einfachen Nenner von These-Antithese-Synthese bringen: gerade hier zeigt sich, dass eine Idee eine Einheit bildet, die in der Welt von vielfältigen Handlungen getragen wird (womit die idealistische Argumentation von der pragmatischen Argumentation ausgehöhlt wird). Gerade heute habe ich in einem Buch zur Integrationspädagogik eine solch bizarre, weil dogmatische Anwendung der hegelianischen Dialektik gefunden, dass es ein leichtes war, diese zu zerstören.
Leider habe ich bisher noch nicht die Zeit gefunden, diese Passage umfassend zu kritisieren und diese Kritik auszuformulieren. Sie ist in André Zimpels Buch Einander helfen. Der Weg zur inklusiven Lernkultur auf Seite 34 zu finden.

16.03.2015

Homo Faber

Ich vergaß: in der letzten Woche habe ich drei E-Mails zu Fragen zur Interpretation von Homo Faber (Max Frisch) erhalten. Offensichtlich ist dies wieder einmal Schullektüre in einigen Klassen. Es sind die üblichen Verunsicherungen angesichts der sogenannten Lektürehilfen. Diese Lektürehilfen sind zumindest bei einigen Schülern deutlich kontraproduktiv, vor allem bei all jenen Schülern, die sich eigene Gedanken machen.

Instruktiv dazu ist immer noch mein Artikel Faber und das Fleisch.

Wochenende

Vom Freitag auf den Samstag habe ich lange geschlafen. Mittwoch und Donnerstag bin ich bis weit nach 19:00 Uhr in der Schule gewesen, und das, obwohl ich um 6:30 Uhr morgens bereits dort ankomme. Am Freitagnachmittag bin ich dann ins Bett gesunken und am folgenden Tag erst um 12:00 Uhr aufgestanden.

Die neuen Lehrpläne

Den Nachmittag über habe ich mich mit den kommenden Lehrplänen beschäftigt. Es ist zwar außerordentlich zu begrüßen, dass bestimmte Lerninhalte nicht mehr auf bestimmte Klassen festgelegt werden, weil sich die Schüler je nach Art deutlich unterscheiden. Trotzdem bedauere ich das Verschwinden der alten Form der Lehrpläne, weil ich mich daran relativ gut abarbeiten konnte: Sie waren eben sehr spezifisch und auch relativ dogmatisch, so dass man ziemlich genau wusste, was man zu tun hatte.

Tagesfragen

Am Samstagabend habe ich auch begonnen, die Tagesfragen zu bearbeiten. Da ich vorletzte Woche krank war, habe ich die Hefte nicht mit nach Hause genommen und musste diesmal zwei Tagesfragen durchsehen. Da ich pro Tagesfrage für die gesamte Klassenstufe einen Tag brauche, war ich schon reichlich spät dran. Ich habe auch nur zwei Drittel der Hefte bis heute Abend geschafft.

Problemlösen

Nun habe ich aber nicht nur an den Tagesfragen gesessen: ich hatte letzte Woche eine Aufgabe gestellt, deren Beantwortung durch die Schüler ich sehr interessant fand. Für meine starken Schüler stelle ich so genannte „überkomplexe“ Aufgaben. Ich schaue mir dann an, wie sie mit diesen Schwierigkeiten umgehen. Auf diese Weise erfahre ich mehr darüber, wie meine Schüler mit Problemstellungen umgehen. Ich gebe dann, wo möglich, Tipps und Tricks, um mit komplexen Anforderungen umzugehen. Das ist nicht immer ganz einfach, da es gerade im Bereich des analogischen Denkens eine unendliche Menge an Möglichkeiten gibt. Nicht umsonst gehört gerade diese Art der Problemlösung zu einer der Kernpunkte der Innovation.

Die Schüler und die Rhetorik

Eine meiner Aufgaben für die letzte Woche war das Erklären eines satirischen Beitrages. Diese Aufgabe haben sich nur wenige Schüler herausgegriffen. Die wenigen Schüler allerdings haben diese meist ganz hervorragend gelöst. Nach drei Monaten in der Klasse bedienen sich manche der Schüler bereits deutlich eines literaturwissenschaftlichen Vokabulars. Besonders gefreut hat mich, dass die Schüler zum Teil nicht nur rhetorische Figuren identifizieren konnten, sondern auch über deren Funktion reflektiert haben. Dies gehört wohl zu einer der größten Herausforderungen, die man Menschen bei der Interpretation von Texten zumuten kann. Und dass hier bereits Kinder aus der vierten Klasse solche Fähigkeiten zeigen konnten, beweist, dass wir unseren Literaturunterricht nicht mehr in der Art und Weise gestalten dürfen, wie uns dies die klassische Schulbildung vorgegeben hat.

Satire

Jedenfalls habe ich zwischendurch auch zur Satire gearbeitet. Natürlich weiß ich „irgendwie“, welche Elemente eine Satire beinhalten muss. Aber sich Gedanken darüber zu machen, wie man dies Grundschülern beibringt, das ist schon eine ganz andere Herausforderung. Man muss sich hier deutlich um eine einfache und klare Vermittlung bemühen. Und durch diese Bemühung habe ich jetzt das Gefühl, wesentlich besser die Operationsweisen der Satire und der Parodie zu verstehen.

Zeit für Kinder

Wenn ich morgens in die Schule komme, habe ich ungefähr eine halbe Stunde Zeit, meine Sachen zu ordnen. Dann erscheinen die ersten Schüler und erzählen meist von ihren Erlebnissen und Erfahrungen vom Vortag oder stellen Fragen zu irgendwelchen Aufgaben. So geht das, bis ich die Schule verlassen, oft auch noch im Bus, den ich gemeinsam mit meinen Schülern nehme.
Trotzdem ist mir die Arbeit zu Hause auch sehr wichtig. Nach und nach entdecke ich eine ganz andere Seite des Kindseins. Und dazu brauche ich die Abendstunden, um darüber zu reflektieren und mir Gedanken zu machen. Dies ist keine direkte Arbeit mit den Kindern, aber doch absolut notwendig, um so nach und nach aus den Erlebnissen Erfahrungen zu machen.
Gerade dieses Wochenende habe ich mich auch noch mal mit der Beurteilung der Tagesfragen intensiver beschäftigt. Ich muss gestehen, dass ich auf meine Vorgängerin, die mir hier eine ganze Liste an Bewertungskriterien mitgegeben hat, ein wenig eifersüchtig bin. Sie schien dies bei ihrer Arbeit alles wie selbstverständlich im Kopf zu haben und hatte darauf immer gute bis hervorragende Reaktionen, die allesamt durchdacht schienen. Wenn ich dagegen meinen Umgang ansehen, so bin ich zwar nicht schlecht, aber diese umfängliche Reflexion fehlt mir eindeutig. Hier werde ich noch viel Arbeit zu leisten haben.

08.03.2015

Montessori und die Technologie

Erik Brynjolfsson, Wirtschaftsprofessor am MIT, erklärt in einem Interview:
Die Frage ist nicht, was Technologie mit uns anstellt – sondern was wir mit Technologie anstellen wollen. Einer der wichtigsten Aspekte scheint mir die Neuerfindung des Bildungssystems zu sein. Es muss darauf ausgelegt werden, Kreativität und Sozialkompetenz zu fördern. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Microsoft-Gründer Bill Gates, Amazon-Gründer Jeff Bezos, Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg oder die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin alle eine Montessori-Schule besucht haben.
Maschinen sind sehr gut in strukturierter Problemlösung – man muss ihnen nur die richtigen Schritte beibringen. Bei unstrukturierten Problemen haben sie allerdings Mühe. Pablo Picasso sagte: «Computer sind nutzlos. Sie können nur Antworten geben.» Und er hatte recht. Natürlich sind Antworten nützlich, aber heute ist es wichtiger, die richtigen Fragen zu stellen. Die Montessori-Methode ermutigt die Kinder, spielerisch zu erkunden, was wichtig ist und was nicht – auf eine Art, wie es Maschinen nicht können. Solche kreativen Problemlöser brauchen wir künftig.
Und er fügt hinzu:
Im 20. Jahrhundert haben wir uns den Vorsprung erkauft, indem wir mehr in Bildung investiert ­haben. Aber das reicht nicht mehr. Wir werden auch in diesem Jahrhundert mehr investieren müssen. Wichtiger ist aber, das System zu reformieren. Solange wir das nicht fertigbringen, ist ­jeder zusätzliche Dollar umsonst.
Ingeborg Waldschmidt schreibt in ihrer Monographie zu Maria Montessori:
Die den deutschen Montessori-Einrichtungen gemachten Auflagen und die bestehenden gesetzlichen Regelungen führen häufig zu halbherzigen Kompromisslösungen. International sieht es mit den Realisierungschancen der Montessori-Pädagogik größtenteils besser aus.
Waldschmidt, Ingeborg: Maria Montessori. Leben und Werk. S. 92

Und was sonst noch so passiert: queere Muslime, Frauenquote, Staatspropaganda

Das eine und das andere: Leser meines Blogs wissen, dass ich der "homosexuellen Bewegung" mit einer gewissen Zwiespältigkeit gegenüber stehe: gut finde ich, dass sowohl die Eintönigkeit des feindlichen Islams durch eine Ausstellung aufgebrochen wird, die Homosexuelle in der islamischen Kultur zeigt: Queere Muslime. Völlig entnervt war ich allerdings wieder einmal darüber, was einem auf der Seite als "Hauptthemen" und "Hauptinteressen" angeboten werden. Man fühlt sich zum Zuschauer von Interessen gemacht, die so eindeutig eben nicht in die Öffentlichkeit gehören.

Keinesfalls ist die Frauenquote ein Erfolg. Hier wird an elitärster Stelle zugetüncht, was in der breiten Bevölkerung noch allzusehr im Argen liegt. Im Argen liegt zum Beispiel, dass der deutsche Gebrauch des Wortes gender immer noch für Frauen, Homosexuelle, etc. in Beschlag genommen wird, nicht aber für Männer. (Über die herrschenden Frauenbilder müssen wir uns schon gar keine Sorgen machen: die werden von einer stelzbeinigen Heidi Klum und einem krittelnden Guido Maria Kretschmer bedient.)
Es gibt nicht DIE hegemoniale Männlichkeit. Dies war, ist und bleibt ein Mythos einer gewissen feministischen Strömung. Immer hat es zwar vorherrschende Männerbilder gegeben, aber diese passten und passen zu den meisten Männern eben nicht. Und wie die einzelnen Männer den Umgang zu den ihnen bekannten Frauen gestalten, lässt sich wohl kaum mit einem einzelnen Begriff belegen. Wir finden darin den Mythos der Einheit, basierend auf dem Prinzip der Extrapolation, also eben all jene Mechanismen, die der Feminismus (durchaus sehr großartig) in der Kultur mit Blick auf die Frau analysiert hat.
Vor allem machen es sich manche Frauen auch bequem, wenn sie statt Kritik am realen Mann zu üben, immer wieder auf dem gleichen, zum Teil längst nicht mehr stimmigen Männerbild herumhauen. Das hat dann nichts mehr mit Analyse zu tun, sondern nur noch mit ideologischer Bequemlichkeit.

Und da wir gerade bei Staatspropaganda sind.
Weitet man die Hegemonie aus, dann entsteht gelegentlich Staatspropaganda. Putin ist so ein Fall. Auf einer Pressekonferenz erklärte er kurzerhand, der Westen habe Schuld an der Wirtschaftskrise. Und auch wenn man nun eigentlich Marx nicht loben sollte (obwohl seine Leistungen historisch zu würdigen sind: sein Radikalismus hat viele altehrwürdige, aber eben doch falsche Glaubenssätze weggefegt), ein wenig mehr marxistische Eingabe dürfte man dann dem russischen Staatsüberhaupt doch wünschen.
Zur Ideologie schreibt Hannah Arendt:
Die Ideologie, die die Tatsachen in ihrer faktischen Widersprüchlichkeit der fiktiven Widerspruchslosigkeit opfert, bietet sich als Weltersatz an. Ihre große Anziehungskraft insbesondere auf moderne Menschen liegt in ihrer Loslösung von Wirklichkeit und Erfahrung begründet. Denn je weniger Menschen »in dieser Welt noch wirklich zu Hause sein können, desto geneigter werden sie sich zeigen, sich in ein Narrenparadies oder einen Narrenhölle abkommandieren zu lassen, in der alles gekannt, erklärt und von übermenschlichen Gesetzen im vorhinein bestimmt ist.
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 723 f.
Mit anderen Worten: Putin leidet am Prinzessinnen-Syndrom und ein ganzes Volk mit ihm.

Dialektik und Hegemonie (Jahrestage: Politik erzählen)

Dialektik ist nicht, wie vor einigen Jahren mal jemand dreist mir gegenüber behauptet hat, eine Erfindung der Marxisten und deshalb eines aufgeklärten Menschen nicht wert. Klassischerweise aber ist die Dialektik die Methodenlehre der Logik, die Analytik die Elementenlehre; und die Analytik geht der Dialektik voraus.

Hegemonie und Vernunft

Mit dem Begriff der Hegemonie, der, wenn ich mich recht erinnere, von Lenin eingeführt wurde, wurde dem klassischen Marxismus und seiner Überwindung der Klassenspaltung durch die Vorherrschaft des Proletariats eine empfindliche Wunde geschlagen. Zunächst bedeutet Hegemonie, dass sich Subkulturen bilden, die aus sich selbst heraus eine Dynamik erschaffen, die mit der Arbeiterklasse kaum noch etwas zu tun haben muss. Zum anderen aber hat Gramsci deutlich gezeigt, dass hegemoniale Strukturen zwar in sich selbst den Anschein einer Vernunft erschaffen, dieser aber eben auf typischen Mechanismen hegemonialer Strukturen beruht, die etwas voraussetzen, was sie nicht mehr hinterfragen können und eben dies dann ihre Vernunft nennen.

Politische Akteure

Hegemonien bilden in sich eine Struktur aus, in der politische Akteure agieren. Folgt man Gramsci, dann besteht das Wesen der politischen Meinung darin, gesellschaftliche Zustände zu ordnen. Der Zirkelschluss muss hier deutlich gemacht werden: politische Akteure ordnen die Verhältnisse zwischen politischen Akteuren durch die politische Praxis. Dies ist der schwankende Boden, auf dem die politische Praxis stattfindet. Das Teil (der Einzelne politischer Akteur) versucht sich als Ganzes (die politische Gemeinschaft).

Politische Akteure erzählen

Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes schreiben, viel kürzer. Lange habe ich nicht mehr in Johnsons Jahrestage geblickt. Gerade aber der heutige Tag, der 9. März, der mit dem 9. März 1968 korrespondiert, enthält eine lange Passage, die deutlich macht, wie man politische Akteure in ein Verhältnis setzt, Wirkungen und Meinungen schildert und so aus isolierten Phänomenen einen politischen Zusammenhang schafft.
Johnson listet auf, indem er die Politik nicht bei der großen Politik stehen lässt, sondern alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens, wie sie bereits bei Platon und Aristoteles geschildert werden, eng nebeneinander stellt. Er zitiert, und gestaltet nur durch die Verdichtung der Phänomene des (politischen) Willens (und des sinnlichen Lebens, das daraus entsteht) in langen, mäandernden Satzkonstruktionen.

Schutz, Streit, Schutz

Der Slum ist ein Gefängnis, in das die Gesellschaft jene deportiert, die sie selbst verstümmelt hat. Das sind Wohnungen, in denen die Wanzen und Schaben nicht mit der geduldigsten Anstrengung im Zaum gehalten werden können, in denen es beim Kühlschrank nicht auf die Kühlung der Nahrungsmittel ankommt, sondern auf die Funktion des Tresors, den das Ungeziefer nicht knacken kann. Wenn ganze Familien, ohne das Geld für Erholung oder Fluchtversuche, in einem einzigen Zimmer wohnen müssen, werden die Kinder Zeugen unausbleiblicher Streitszenen, kommen müde und verstört in die Schulen, mit unvollständigen Hausaufgaben; ihre Leistungen müssen hinter den Anforderungen des Lehrplans zurückbleiben, sie verlassen die Schulen so früh als möglich, sie »fallen heraus« und beginnen in niederen Berufen zu arbeiten, die mit der technischen Entwicklung aussterben werden, und sind ausgebildet für die Armut. Wenn auf der Oberen Westseite zwei Drittel der Neger einzelne Männer sind, so weil eine vom Ernährer verlassene Familie damit den Anspruch auf Fürsorge-Unterstützung erwirkt; die Wissenschaft hat bereitwillig den »Faktor der Einraumbelegung« erfunden. Die Neger in den Slums fühlen sich vernachlässigt von der Polizei, ihre Straßen werden spärlicher patrouilliert, Einbrüche bei ihnen rufen eher Langeweile hervor, bei einer Schlägerei wird der Dunkelhäutige bevorzugender festgenommen als der Hellfarbige; dennoch wünschen die Neger schlicht mehr Polizei, zuverlässigeren Schutz (wo die Weißen sich leisten können, eine zivile Aufsichtsbehörde für die Ordnungskräfte zu fordern).
Johnson, Uwe: Jahrestage II, 845

Gerettet alle. Nur Einer fehlt!

Wenn man von der Resignifikation spricht, ist es nicht schwer, zum Bild der Argonauten zu kommen, die, verflucht, auf ewig auf dem Meer aushalten müssen und kein Ufer gewinnen können. Dies, so Roland Barthes, sei ein passendes Bild für die Theorie; denn wie die Argonauten müsse der Theoretiker auf das rettende Ufer verzichten. Er sei stattdessen gezwungen, sein Schiff aus dem Treibgut, das ihm das Spiel der Wellen zukommen lässt, immer wieder neu zu konstruieren und umzubauen (vgl. dazu Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, S. 214 f.).

Das Schauspiel der Kultur

Womit wir bei Hans Blumenberg wären, dem Schiffbruch mit Zuschauer. Dieser zitiert Jakob Burkhardt:
Könnten wir völlig auf unsere Individualität verzichten und die Geschichte der kommenden Zeit etwa mit ebenso viel Ruhe und Unruhe betrachten, die wir das Schauspiel der Natur, zum Beispiel eines Seesturms vom festen Lande aus mit ansehen, so würden wir vielleicht eins der größten Kapitel aus der Geschichte des Geistes bewusst miterleben.

Konkretes und abstraktes Leben

Diese Spaltung ist bekannt. Es ist die des Menschen, der sein Leben in concreto und in abstracto lebt, wie es Schopenhauer am Ende seines ersten Buches von Die Welt als Wille und Vorstellung und im Übergang zu dem zweiten Buch schildert. Nicht ohne Ironie ist genau diese Stelle der Abschluss von jenem ersten Buch, welches mit Der Welt als Vorstellung erste Betrachtung: Die Vorstellung, unterworfen dem Satze vom Grunde: Das Objekt der Erfahrung und der Wissenschaft betitelt ist, während das zweite Buch Der Welt als Wille erste Betrachtung: Die Objektivation des Willens benannt wurde.
Schopenhauer schreibt dort:
Die allseitige Übersicht des Lebens im Ganzen, welche der Mensch durch die Vernunft vor dem Tiere voraus hat, ist auch zu vergleichen mit einem geometrischen, farblosen, abstrakten, verkleinerten Grundriss seines Lebensweges. Er verhält sich damit zum Tiere wie der Schiffer, welcher mittelst Seekarte, Kompass und Quadrant seine Fahrt und jedesmalige Stelle auf dem Meer genau weiß, zum unkundigen Schiffsvolk, das nur die Wellen und den Himmel sieht. Daher ist es betrachtungswert, ja wunderbar, wie der Mensch neben seinem Leben in concreto immer noch ein zweites in abstracto führt. Im ersten ist er allen Stürmen der Wirklichkeit und dem Einfluss der Gegenwart preisgegeben, muss streben, leiden, sterben wie das Tier. Sein Leben in abstracto aber, wie es vor seinem vernünftigen Besinnen steht, ist die stille Abspiegelung der ersten und der Welt, worin er lebt, ist jener eben erwähnte verkleinerte Grundriss. Hier im Gebiet der ruhigen Überlegung erscheint ihm kalt, farblos und für den Augenblick fremd, was ihn dort ganz besitzt und heftig bewegt: Hier ist er bloßer Zuschauer und Beobachter.
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I, 138 f.

Entnaturalisierte Schifffahrt

Doch diese Spaltung in Naturmensch und Kulturmensch ist bereits zur Zeit Schopenhauers auf dem absteigenden Ast. Als Kulturmenschen haben wir das Land längst verlassen. Burckhardt schreibt:
Wir möchten gerne die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst.
Dementsprechend spricht Blumenberg von einer völligen Entnaturalisierung in der Beseitigung des Dualismus von Mensch und Realität. Wir Menschen haben uns die Natur als eine symbolische geschaffen, von Anfang an, noch als wir ganz den naturhaften Gewalten ausgesetzt waren und sie als Götter und Dämonen beschrieben haben.

Vom Tod des bürgerlichen Helden

Schließlich aber wird die Ballade John Maynard dem sonst so ironischen und jeder Idolisierung fremden Theodor Fontane eine Aussage über jenes Heldentum entlocken, mit dem die bürgerliche Zeit von jeher ihren Opfern gegenübergestanden hat. Man selbst ist den Wellen entkommen und steht jetzt, mit dem unverstandenen Verlust, an der Küste. Man feiert und betrauert den Toten. Man bringt ihm einen Marmorstein an.
Doch die ganze Ironie an der Geschichte ist, dass es jenen John Maynard nie gegeben hat. Aus einer Zeitungsnotiz entstanden, gab es frühzeitig ein Gedicht, das diesen Vorfall zu vereindeutigen und zu heroisieren wusste. Darüber ist es zu Fontane kommen, der daraus seine Ballade schuf. Und wenn heute in Buffalo tatsächlich eine solche Plakette in der Hafenmauer existiert, dann nur deshalb, weil so viele Deutsche nach diesem Marmorstein gesucht haben. Die Stadt Buffalo sah sich gedrängt, für ihre deutschen Touristen eine solche anzubringen.

Schaulaufen

Fontane würde vielleicht, wenn er heute noch einmal die Möglichkeit hätte, auf seine Ballade zurückzuschauen, nicht nur eine Ironie in der ganzen Geschichte finden. Wir beobachten heute in zahlreichen Fernsehsendungen das Scheitern des bricoleurs, jenes Bastlers, der mit dem zu arbeiten hat, was er naturhaft vorfindet; nur ist das Naturhafte heute längst durch gewitzte Fernsehmacher manipuliert. Sowohl das Dschungelcamp als auch DSDS inszenieren die Schifffahrt wie das Scheitern. Die Wellen machen sie selbst, im Studio.
Und so werden wir die Geister, die wir einst, vor tausenden von Jahren, aus Unverstand gerufen haben, mit aller Vernunft nicht wieder los. Es sind eben all jene Geister, die wir durch den Rahmen des Theaters erzeugen, dadurch, dass wir Zuschauer bleiben wollen, aber doch selbst auf dem Schiffe stehen, das wohin auch immer weitersegelt.

07.03.2015

Spontanität

Die Verpflichtung, seine Spontanität regulieren zu können, ist mit einer doppelten Schwierigkeit belastet.
Zum einen muss die Spontanität erkannt werden. Es muss also ein Wertesystem etabliert sein, dass zwischen Spontanität und Ritualisierung unterscheiden kann.
Zum anderen muss es Programme geben, die diese Spontanität aufgreifen, auch wenn sie nicht vorhergesehen und völlig fremdartig ist.

Dies schrieb ich vor einigen Monaten, ich glaube im Oktober.
Damals habe ich einige Abschnitte aus Stefan Riegers Die Individualität der Medien kommentiert. Die kommentierte Passage ist die gleiche, die ich neulich unter dem Titel Selbstregulation schon einmal, wenn auch mit einer anderen Einbindung bedacht habe.

Man muss die Tragweite des oben geäußerten Gedanken verstehen. Spontanität wird vielleicht spontan erzeugt, aber nicht notwendigerweise als solche wahrgenommen. Man kann auch Rituale spontan wiederholen. Oder eine Spontanität so verstehen, dass sie in der Wahrnehmung keine Spontanität mehr ist.
Wie dem auch sei: "hinter" der Spontanität oder quer zum Handeln liegt ein Interpretationsraster, das überhaupt erst das Sprechen von Spontanität in konkreten Kontexten möglich macht.
Damit ist aber zum Beispiel die Spontanität der Vernunft, wie Kant sie behauptet hat, fragwürdig geworden; ebenso sind die spontanen Ausdrücke von Kreativität nicht mehr naiv hinnehmbar.

Will man die Unterscheidung Spontanität und Ritualisierung noch anders fassen, zum Beispiel in den Begriffen der Systemtheorie, dann kann man hier die grundlegende Unterscheidung stabil/instabil annehmen, die im Systemgedächtnis als Vergangenheit und Zukunft konstruiert wird. Was vergangen ist, ist stabil; was zukünftig ist, ist instabil. Damit kann die Spontanität zu den zukünftigen, also den instabilen Ereignissen gerechnet werden, während die Ritualisierung zu den vergangenen, also stabilen Ereignissen gehört.
Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Man kann mit der Spontanität von Menschen rechnen. Ihre Spontanität ist ritualisiert. Es gibt ritualisierte Spontanitätshemmer und ebenso gibt es ritualisierte Zeiten der Spontanität (Six thinking hats von Edward deBono, Morgenseiten von Julia Cameron). Wie vieles, so entpuppt sich auch hier die Zeitlichkeit eines ideellen Begriffs als komplex und heterogen.

Was mich allerdings am meisten daran interessiert, ist, wie solche Zeitlichkeiten über Normen und Werte reguliert werden.
Judith Butler hat angenommen, dass sich Subjektivationen durch wiederholte Anrufungen ereignen. Allerdings sehe ich hier das Problem, dass diese Ereignisse, diese Sprechakte, diese Performanzen keinen Halt finden, wenn sie sich nicht zugleich ein Gegengewicht erzeugen. Dieses Gegengewicht wird, wie Jürgen Markowitz das so schön ausgedrückt hat, in die Abwesenheit deponiert. In dieser Abwesenheit wird von dem Gegengewicht erwartet, dass es gleich bleibt.
Nicht bei Butler, aber bei der Deutschen feministischen Diskussion ist mir dies aufgefallen: es gibt zwei Arten, Identitäten zu bilden. Und man könnte diese beiden Arten durch ihren Bezug zur Macht unterscheiden: bei der einen Identität wird das Subjekt durch beständige Machtmechanismen erzeugt, bei der anderen wird die Identität durch eine Wegnahme von Machtverhältnissen geschaffen. Das Befremdliche an der feministischen Diskussion ist zum Beispiel, dass den Kindern keinerlei Macht zugesprochen wird und dass sie nur über die Mutter vermittelt als Subjekte auftauchen. Versucht man diese dann allerdings als politische Akteure ins Spiel zurückzuholen, gilt man häufig als „Erpresser“ oder etwas ähnliches.
Natürlich gilt das nicht für jede Diskussion. Natürlich gibt es auch ganz andere Ansichten vom Kind. Trotzdem wirkt das Kind häufig wie eine Legitimation und als nichts anderes. Dass dies die „feministische“ Seite ist, die man durchaus anprangern kann, bedeutet allerdings nicht, dass die Gegenseite, zum Beispiel die der „missachteten Väter“ richtig ist. Komplexe Systeme funktionieren nicht nach einem solchen einfachen Entweder-Oder.
In einer solch komplexen Situation könnte es hilfreich sein, sich auf die Rhythmen der Aktualisierung zu stützen und auf den Begriff des Zeichengefüges, so wie E. ihn für den Bereich der Jugendkriminalität versuchsweise fruchtbar gemacht hat (versuchsweise, weil die Literatur für einen solchen theoretischen Vorstoß nicht vorbereitet war und deshalb die Arbeit ein ganzes Stück weit spekulativ bleiben musste).
Wir hätten dann eine wesentlich schwierigere Situation zu beachten, als Judith Butler sie schildert. Es gäbe dann keine Effekte der Subjektivation ohne Effekte der Entsubjektivierung, keine Anrufung ohne eine Abberufung. Butler hat dies auch mehrfach angedeutet, etwa, wenn sie die Resignifikation als eine zentrale Strategie vorstellt  (die Resignifikation wird, soweit ich das sehe, bei Butler nie genau definiert: sie bildet eine Lesart, die der dominierenden Lesart insofern widerständig ist, als sie die Quelle und deren Kommentar, also die Signifikation, in die Situation einer noch genaueren, erweiterten Lesart bringt; ebenso ist die Entnaturalisierung des biologischen Geschlechts bei Butler keineswegs anti-patriarchal oder subversiv, siehe Körper von Gewicht, S. 177 ff., insbesondere aber S. 183).

05.03.2015

statt Lesen

Irgendwie hat mich die Grippe jetzt voll im Griff. Zwei Tage habe ich Gliederschmerzen gehabt, dann letzte Nacht hohes Fieber, dafür bin ich heute bis auf eine bleierne Müdigkeit symptomfrei.

Was ich gerade nicht so toll finde in meinem Leben: ich habe mir in den letzten Wochen zahlreiche Bücher gekauft, viele antiquarisch. Ich komme nicht dazu, sie zu lesen.
Immerhin: Bücher zu besitzen ist großartig.

01.03.2015

Sehen: Extrapolation, Unterbrechung, Gruppe

Geht man nicht von einer positivistischen Wahrnehmung aus, also von einem Eindruck der Wirklichkeit in der Wahrnehmung, versucht man also den radikalen Konstruktivismus ernst zu nehmen, dann muss man von einer Form ausgehen, die den Wahrnehmungen zu eigen ist, die nicht in einem Jenseits liegt, sondern auf derselben Ebene, mithin in anderen Wahrnehmungen. Insofern brauchen wir keine Abbildlehre, sondern eine Grammatik des Sehens.

Der Formalismus

Im Moment lese ich von Sylvia Sasse das Buch Michail Bachtin zur Einführung. Der Formalismus begründete sich darin, dass die Form in der Komposition des Kunstwerks verwirklicht werden könnte. Es gebe also die Möglichkeit, die Form, die eine typische Leistung der Vernunft ist (im Sinne Kants), im Material zu veräußern. Dieser Idee widerspricht Bachtin. Er wirft den Formalisten ein verkürztes Verständnis der Form vor. Zunächst, so Bachtin, gibt es zwar eine Korrespondenz zwischen der äußeren Gestalt und der inneren Form, aber keine Gleichheit. Vielmehr entsteht die Form aus der Komposition des Kunstwerkes, seinem Inhalt und seinem Material und bildet damit eine Art Atmosphäre, die durch die „tätige Wahrnehmung“ am Kunstwerk entsteht.

Verfremdung

Schon bei den Formalisten spielt die Verfremdung eine wichtige Rolle. Sie unterscheiden zunächst das Wiedererkennen und das Sehen. Das Wiedererkennen geschieht automatisch, gleichsam am Bewusstsein vorbei; demgegenüber ist das Sehen durch verschiedene Formen der Verfremdung und damit Aneignung des geschauten Objekts hindurchgegangen.
Der wesentliche Gedanke dabei ist, dass nur durch die Verfremdung selbst eine Aneignung des Objekts möglich ist. Das Objekt muss behandelt, verändert, umgestaltet, transformiert werden. Dieser Gedanke ist untypisch, weil wir die Aneignung mit der bewusstlosen, automatisierten Beherrschung gleichsetzen und diesen Gedanken in der „Eigentlichkeit“ des Objekts verankern, also in einer Art Wesen und Wesentlichkeit. Sowohl die Formalisten als auch Bachtin, eigentlich aber schon Kant, drehen diesen Gedanken komplett um.

Mannigfaltigkeit

Geht man davon aus, dass die Wahrnehmung nicht abbildet, sondern in einer Grammatik geregelt ist, dann drückt sich diese Grammatik in Form von „Sätzen“ aus. Dies sind Konstellationen oder Konfigurationen, die einen geregelten Zusammenhang bilden. Gelegentlich findet man dafür den Begriff der Mannigfaltigkeit (zum Beispiel bei Kant und Wittgenstein).
Eine Möglichkeit, eine solche automatisierte Grammatik zu verfremden, ist die Extrapolation.

Extrapolation

Ich hatte die Extrapolation in den letzten Jahren immer wieder als ein Beispiel für schlechte Argumentation vorgeführt. Sie löst ein Element aus einer Gruppe heraus und behauptet, dass dieses Element die Gruppe als Ganzes charakterisiere. Sowohl bei Ludwig Wittgenstein als auch bei Gilles Deleuze wird dagegen die Gleichwertigkeit der Elemente als ein Zusammenwirken behauptet. Die einzelnen Elemente haben nicht unbedingt die gleiche Funktion; aber keines von ihnen ist der Abbildung der gesamten Gruppe fähig, sowie ein Verb oder ein anderes Wort nie den gesamten Satz abbilden kann. Ein Satz funktioniert nur als gesamter.
Unter diesem Aspekt der Abbildung ist die Extrapolation tatsächlich eine falsche Operationsweise. Nimmt man allerdings die Extrapolation als Möglichkeit der Verfremdung, dann dient sie dazu, durch die unterschiedlichen Abweichungen über die „ursprüngliche“ Gruppe aufzuklären.
Indem ich also einen Satz immer wieder abwandle, indem ich ihn mit ähnlichen, aber doch anderen Sätzen einkreise, kann ich Rückschlüsse auf die Form des Satzes ziehen.
Diese Art und Weise, die Extrapolation zu gebrauchen, führt zu Regeln, nicht zu Bildern. (Das Bild des Satzes wird bei Wittgenstein als ein positivistisches Überbleibsel kritisiert. Man glaubt, so Wittgenstein, zwar nicht mehr an die Wirklichkeit, aber doch an die Wahrheit der Sätze. Dann aber würden die Sätze ohne das Wirken der Vernunft zustande kommen, was, folgt man der konstruktivistischen These, eine Absurdität ist.)

Unterbrechung

Eine andere Form der Verfremdung ist die Unterbrechung. Eine Reihe oder Abfolge wird in ihrem Automatismus aufgehalten. Auch hier spielt die Extrapolation eine wichtige Rolle.
Als ich neulich über die Ambivalenz der Metakognition geschrieben habe, beruhte das auf demselben Gedanken wie die Ambivalenz der Extrapolation. Die Metakognition bildet den Lernprozess nicht ab, sondern reguliert ihn auf eine bestimmte Art und Weise, indem sie ihn in eine Form presst, die ihm bis dahin nicht eigen war.

Normativ/kognitiv

Bei Niklas Luhmann findet sich die Unterscheidung normativ/kognitiv. Normative Prozesse ordnen ein Stück Welt entlang einer Norm. Falls es sie rein gäbe, dann in der Form, dass sie nicht an Erkenntnis interessiert sind. Dem stehen die kognitiven Prozesse gegenüber, die reines Erkennen wären, wenn es rein kognitive Prozesse gäbe. Meist sind es jedoch Mischformen.
Diese Mischformen drücken sich in der Ambivalenz der Metakognition genauso aus wie in der Ambivalenz der Extrapolation. Und genauso ist die Verfremdung zugleich eine Aneignung, weil sie ein Objekt projeziert, aber die Struktur, in die dieses Objekt eingebunden ist, meint.

Parodieren

Das klassische Genre der Verfremdung ist die Parodie. Man kann die ganze Literaturgeschichte als eine Kette von Parodien lesen. Ich nehme an, dass dies in der Malerei und der Komposition ebenso möglich ist. Eine Parodie muss nichts Heiteres haben. Sie besteht aus einer Vorlage, die in gewisser Weise manipuliert und dadurch transformiert wird.
In der Kette dieser Transformationen wird das „Original“ in seiner Wertigkeit erkannt. Indem es durch die Parodie nicht mehr so funktioniert, wie es früher funktioniert hat, erkennt man die Regeln, nach denen es funktioniert hat und damit die Regeln, die eine Kultur zu einer gewissen Zeit ausmachen könnten.

Zurück zum Subjekt

Auch das Subjekt erkennt sich selbst, so lese ich in Bachtin, in dieser Kette seiner Transformationen. Es ist zwar nicht außerhalb seiner selbst, aber darauf angewiesen, sich nach außen zu betätigen und darüber auf sich selbst zurückzuschließen. Bachtin nennt dies Außerhalbbefindlichkeit.
Was der Mensch wahrnimmt, wenn er in der Tätigkeit ein Objekt bearbeitet, sind die Bedingungen der Möglichkeit, ein solches Objekt zu erkennen. In der Tätigkeit und den Regeln der Tätigkeit liegt die Grammatik der Wahrnehmung.
Insofern ist Welterkenntnis zugleich Selbsterkenntnis. Und insofern brauchen wir auch keine erkenntnistheoretischen Zweifel. Wir müssen einfach nur die Strukturen unserer Welt und unsere Tätigkeit in ihr untersuchen, um uns selbst zu erkennen. Wir brauchen nicht den Verdacht, dass wir etwas nicht sehen würden, nicht erkennen könnten. Alles liegt offen vor uns da, wir als uns selbst, weil diese Welt unsere eigene ist.