10.04.2015

Gemeinsame Ziele, die Zone der nächsten Entwicklung und Inklusion

Wenn es mir nicht gut geht, fällt es mir schwer, meine Spekulationen zu veröffentlichen. Geht es mir gut, empfinde ich Spekulationen als hilfreich. Ich hatte mich wohl in den letzten Tagen ein wenig zu sehr in bestimmte, für mich nicht lösbare Probleme vergraben. Heute hat mich, und dafür muss ihr danken, M. aus diesem Nicht-Dialog herausgeholt.

Gleichklang im Ego-Tunnel

Evolution und Empathie

In seinem Buch Der Ego-Tunnel schreibt Thomas Metzinger:
Natürlich hat Intersubjektivität nicht nur mit dem Körper und mit Gefühlen zu tun, auch das Denken spielt eine Rolle. Vernunftbasierte Formen der Einfühlung scheinen wieder andere Teile des Gehirns einzubeziehen — insbesondere den ventromedialen präfrontalen Kortex. In jedem Fall hilft uns die Entdeckung der Spiegelneuronen zu verstehen, dass Einfühlung ein ganz natürliches Phänomen ist, das wir im Verlauf der biologischen Evolution Schritt für Schritt erworben haben.
(250)
Wir müssen also verstehen, dass die Empathie keine göttliche Eigenschaft ist und auch keine bedingungslose, sondern dass sie sich im Laufe der Evolution unter bestimmten Bedingungen entwickelt hat und offensichtlich in gewissen Milieus zu selektierenden Vorteilen geführt hat.

Dominanzwechsel, Funktionswechsel

Wenn man heute von der Evolution spricht, greift man zunächst auf die drei Gesetze zurück, die Charles Darwin herausgearbeitet hat: Variation, Selektion und Restabilisierung. Nun ist ein weiteres Geheimnis der Evolution, dass sie nicht auf Merkmale Auswirkungen gehabt hat, sondern auf Funktionen im Organismus. Die Merkmale drücken nur diese Funktionsänderungen aus. Insofern es Merkmale sind, die den Bezug zur Umwelt verändern, verändert sich durch sie natürlich auch die Organismus/Umwelt-Anpassung.
Jedenfalls kann man heute relativ genau bestimmen, ab wann ein Merkmal eine andere Funktion ermöglicht und schließlich ganz in die Erfüllung dieser Funktion hinüber wechselt. Wenn ein Merkmal eine andere, dominante Funktion ermöglicht, aber die alte noch nicht aufgibt, spricht man von einem Dominanzwechsel. Wird die alte Funktion dagegen mehr oder weniger aufgegeben, handelt es sich um einen Funktionswechsel. Ein typisches Beispiel dafür liefert uns Metzinger etwas weiter unten:
Genau wie bei Federn, die sich zuerst »für« die Wärmeisolation entwickelten und später den Vögeln das Fliegen ermöglichten, …
(252)
Ein anderes Beispiel ist der Hals der Giraffe. Hat dieser zunächst die Nahrungsaufnahme von höheren Sträuchern erlaubt, konnte die Giraffe dann mit ihm über weite Strecken hinweg spähen und so mögliche Feinde entdecken. Weder das Federkleid der Vögel noch der Giraffenhals haben die ursprüngliche Funktion aufgegeben. Bei den Vögeln allerdings hat sich ein Dominanzwechsel vollzogen; bei den Giraffen nicht.

Selbstmodell, phänomenales Selbst und verkörperte Simulation

Davon ausgehend lässt sich die folgende Passage aus Der Ego-Tunnel besser verstehen:
Erst entwickelten wir das Selbstmodell, weil wir unsere Sinneswahrnehmungen mit unserem körperlichen Verhalten verbinden mussten. Dann wurde dieses Selbstmodell bewusst, und das phänomenale Selbst wurde in den Ego-Tunnel hineingeboren, was uns erlaubte, eine globale und wesentlich selektivere und flexiblere Form der Kontrolle unseres eigenen Körpers zu erreichen dies war der Schritt von einem verkörperten natürlichen System, dass ein inneres Bild von sich selbst als einer Ganzheit besitzt und benutzt, zu einem System, dass diese Tatsache zusätzlich auch noch bewusst erlebt. Der nächste revolutionäre Schritt war dann das, was Vittorio Gallese, ein Kollege von Rizzolatti in Parma und einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, verkörperte Simulation genannt hat. Damit wir die Gefühle und Ziele anderer Menschen verstehen, benutzen wir unser eigenes Körpermodell im Gehirn, um sie zu simulieren.
(250)
Hören wir uns diese Passage dahingehend an, welche Stationen die Entwicklung der Empathie durchlaufen hat: (1) zunächst die Koordination sensorischer und motorischer Muster; (2) die Bewusstheit dieser Koordination und damit die mögliche Kontrolle und (3) schließlich die Simulation von bestimmten Vorgängen in der Umwelt.

Kontrolle und Zweck

Psychologisch gesehen kann man denselben Prozess mit anderen Begriffen rekonstruieren. Die Bewusstheit des Selbstmodells ermöglicht die kontrollierte Manipulation der Umwelt und damit die Ausbildung von Zielen und Zwecken. Nun scheinen die Menschen nicht direkt die Handlungen zu teilen, sondern vor allem die Ziele, während die Zwecke wohl kognitiv rekonstruiert werden:
Wie aktuelle Daten aus der Neurowissenschaft zeigen, durchbricht dieser Vorgang auch die Grenze zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten. Ein beträchtlicher Teil dieser ständig ablaufenden Spiegelaktivität geschieht außerhalb des Ego-Tunnels, und deshalb haben wir davon auch keinerlei subjektive Wahrnehmung. Von Zeit zu Zeit jedoch, wenn wir unsere Aufmerksamkeit gezielt auf andere Menschen richten oder soziale Situationen analysieren, spielt auch das bewusste Selbstmodell eine Rolle. Insbesondere können wir, wie bereits festgestellt, gleichsam unmittelbar verstehen, was jemand anders vorhat — es ist fast so, als ob wir es direkt sinnlich wahrnehmen. Oft »wissen wir einfach«, welchen Zweck ein anderer mit seinem Handeln verfolgt und in welchem Gefühlszustand er sich wahrscheinlich befindet. Wir greifen auf dieselben internen Ressourcen zurück, die uns unsere eigenen Zielzustände zu Bewusstsein bringen, um automatisch zu entdecken, dass andere ebenfalls zielgerichtete Entitäten sind und nicht bloß sich bewegende Gegenstände in unserer Umwelt. Wir können sie als Egos erleben, weil wir uns selbst als Egos erleben.
Der Ego-Tunnel, 250 f.)

Zwecke und geteilte Aufmerksamkeit

Betrachten wir noch einmal das Emulationslernen. Säuglinge besitzen noch kein Körperschema, bzw. kein phänomenales Selbst. Sie können noch nicht nachahmen. Die erste Sozialität, die deutlich kognitiv ist, ist die geteilte Aufmerksamkeit; man kann dies häufig in der Interaktion zwischen Elternteil und Kind beobachten: das Kind beschäftigt sich mit etwas und das Elternteil schaut zu, um gegebenenfalls einzugreifen, zum Beispiel wenn der Gegenstand aus den Händen des Säuglings entgleitet. Zugleich bildet sich hier ein gemeinsamer Zweck aus, der zwar vom Säugling noch nicht mit dem Erwachsenen geteilt werden kann, den der Erwachsene aber stützend übernimmt: dies ist die intensive Beschäftigung mit einem Gegenstand.
Später „hilft“ das Kleinkind den Erwachsenen bei bestimmten Tätigkeiten. So hat mein Sohn mir gelegentlich beim Ausräumen der Einkaufstüten geholfen. Er hat begriffen, dass viele der Lebensmittel in den Kühlschrank gehören und hat dann ganz selbstverständlich alle Sachen aus dem Rucksack dorthin weggeräumt.

Dialog, Bedeutung und Ziel

Bedeutungskörper

Der Bedeutungskörper eines Wortes, so hatte ich neulich geschrieben, wird durch seine Übersetzungen konstruiert. Wichtig sind also die leichtgängigen und schwierigen Nachbarschaften, zu denen ein Wort verbunden wird. Denkt man sich solche Übersetzungen als Operationen und Operationen als kognitiv abgebildete Handlungen, dann kann man die nämlichen Bedeutungskörper auch für alle Gegenstände in der Welt annehmen, insofern die Gegenstände im Gehirn genauso projeziert werden wie Wörter. Damit ist auch die interpretatorische Leistung von Handlungen bestimmbar: ein Gegenstand wird insofern interpretiert, als er durch eine Handlung in etwas anderes übersetzt werden kann.

Das Areal F5

Im Gehirn findet sich eine Art Äquivalenz zur handelnden Übersetzung. Dies ist das Areal F5, zumindest beim Affen. Deren Funktion beschreibt Rizzolatti Empathie und Spiegelneurone folgendermaßen:
Die Mehrheit ihrer Neurone codiert nicht einzelne Bewegungen, sondern motorische Akte, also Bewegungen, die durch ein bestimmtes Ziel koordiniert sind.
(37)
Hierin kann man die Bevorzugung gemeinsamer Ziele vor der Nachahmung sehen. Ziele entstammen den assoziativen Bereichen des Gehirns, sind also mehr oder weniger umweltabhängig. Sie können auf anderen Wegen als durch die Nachahmung entstehen, zum Beispiel durch Unterricht und durch Weitergabe von Informationen mittels der Sprache.
Die Bewegungen selbst dagegen werden wohl erprobt. Sie lassen sich erst hinreichend durch einen Gesprächspartner erklären, wenn man bereits ein ausgeprägtes phänomenales Selbst erworben hat.

Ziel und Aufmerksamkeit

Gemeinsame Ziele verlangen eine gewisse gemeinsame Aufmerksamkeit und damit eine Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf das Ziel. Betrachten wir uns noch einmal das Beispiel von dem Säugling, der durch das Elternteil bei der Untersuchung von Gegenständen unterstützt wird, so zeigt dieser zunächst eine Aufmerksamkeit, während das Elternteil die Aufgabe hat, diese Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten.
Das Kind kann dann aber lernen, eine gemeinsame Aufmerksamkeit zu erwarten und das Elternteil in dieses Spiel mit einzubeziehen. Dann wird zum Beispiel der Gegenstand mutwillig weggeworfen, um zu sehen, ob das Elternteil diesen wie gewohnt zurück gibt. Damit verlagert sich aber auch das Ziel von der Interaktion mit dem Gegenstand zu der Interaktion mit dem Elternteil und damit in Richtung eines „echten“ Dialogs.

Dialog und Bedeutung

Insofern das Kind mit Menschen in seiner Umgebung in einen Dialog tritt und hierbei Gegenstände einbezieht (aber, wie Schopenhauer sagt, ist der Leib zwar ein besonderes Objekt, aber doch nur ein Objekt [siehe Die Welt als Wille und Vorstellung I, 42]), wird die Bedeutung dieser Objekte daran erfahren, welche Handlungen an ihm vorgenommen werden.
Dabei lässt sich der Dialog durchaus wiederum mit den evolutionären Mechanismen betrachten: Kinder variieren ihre Bewegungen anhand eines Objektes, wählen dann bestimmte Handlungen aus und stabilisieren diese durch Wiederholungen. Die Variation dieser Handlungen kann aber auch von außen initiiert werden, zum Beispiel im fördernden Dialog, der dem bisherigen Spiel des Kindes neue Impulse gibt. Impulse sind Variationen, zumindest für das Kind; diese können durch Hinweise und Ermutigungen weiter ausgewählt werden. Schließlich können die möglichen Handlungen übernommen und übertragen werden.
Im Dialog gewöhnen sich Kinder demnach an ähnliche Bedeutungskörper, weil sie die je spezifischen Übersetzungen von Objekten nachbilden oder nachahmen. Damit ließe sich erklären, warum der Dialog und die geteilte Aufmerksamkeit eine so wichtige Rolle im pädagogischen Prozess bilden.

Die Zone der nächsten Entwicklung

Die Zone der nächsten Entwicklung bezeichnet den Umgang mit einem Gegenstand, den ein Schüler noch nicht alleine ausführen kann. Es ist zugleich die Zone des Dialogs. Nach Vygotskij wird dieser Dialog nach und nach verinnerlicht, so dass er zu einer Erweiterung der Kompetenzen eines Menschen führt, zu einer Verschiebung der Zone der nächsten Entwicklung und zu einer Veränderung des Dialogs.
Wir können jetzt aber sagen, dass dieser Dialog vermutlich nicht gelingt, wenn es nicht ein gemeinsames Ziel gibt. Und wir können weiterhin sagen, dass für diesen Dialog die geteilte Aufmerksamkeit ebenso eine Voraussetzung ist. Drittens kann man vermuten, dass es dem Erwachsenen, bzw. dem Erfahreneren zukommt, herauszufinden, für welche Aufmerksamkeit ein Kind im Moment zu haben ist und dort die gemeinsame Tätigkeit zu suchen.

Dominanzwechsel

Weiter sollte man in diesem Dialog bisherige Funktion stützen, dabei aber darauf achten, dass eine andere Funktion dadurch nach und nach entstehen kann.
So lernt man mit Kindern zunächst die referentielle Funktion von Wörtern, zum Beispiel dass Nomen auf Gegenstände zeigen (wobei klar ist, dass das Kind später auch lernen muss, dass es Nomen gibt, mit denen nicht einfach gezeigt werden kann, weil diese zu abstrakt sind, oder weil diese Ideen bezeichnen), Verben auf Tätigkeiten und Vorgänge (und später auch auf die Abwesenheit von Vorgängen, wie zum Beispiel ruhen oder warten), Adjektive auf Eigenschaften, usw.
Schon vorher sprechen Kinder allerdings in ganzen Sätzen. Darauf aufbauend können die Funktionen von Wörtern in Sätzen gelernt werden. Diese sind dann schon wesentlich grammatikalisch. Grammatikalisch darf man hier im weitesten Sinne verstehen als analog zu einer Vorstellung, die ich mir von etwas Komplexen (einem Gefüge, einer Situation, einer Komposition) machen soll.
Sind zunächst die Wörter dazu da, um Sachverhalte zu benennen, können sie jetzt mehr und mehr Vorstellungen erzeugen oder Komplexe abbilden und zusammenfassen. Die ursprüngliche Funktion wird nicht aufgehoben, doch je nach Textmuster überwiegt die eine oder die andere Funktion.

Inklusion

Das Teilen eines gemeinsamen Gegenstandes oder Themas erzeugt Dialoge. Niklas Luhmann schlägt auf der Sachebene der Kommunikation die Differenz von Themen und Beiträgen vor (Soziale Systeme 213). Damit kann man sagen, dass das gemeinsame Thema eine wichtige Voraussetzung für den Dialog und damit für das gemeinsame Lernen ist. Luhmann weist allerdings auch darauf hin, dass Beiträge nicht einfach nur ein Teil eines Themas sind, sondern in wesentlich komplexere Bezüge eingebunden sind. So gibt es bei bestimmten Themen Thematisierungsschwellen, die bestimmte Beiträge als verletzend oder obszön ausschließen. Themen koordinieren also die Beiträge.
Eine der wesentlichen Aufgaben eines Pädagogen ist die Aufmerksamkeit für solche Thematisierungsschwellen. Es gibt Kinder, die solche Schwellen bewusst missachten, um sich über den Konflikt in den Mittelpunkt zu stellen. Und andere Kinder können zu solchen Themen wenig beitragen, weil es ihre Kenntnisse oder ihre Fähigkeiten übersteigt.
Inklusion bedeutet, Themen zu finden, die für einen Dialog günstig sind. Es gilt allerdings, gemeinsame Bedeutungskörper zu erkunden. Solche Bedeutungskörper wiederum konstruieren sich nur in einer Gemeinschaft. Insofern bestehen Inklusionen nur lokal und nur dort, wo Themen und Beiträge in ein spannungsreiches Spiel gebracht wird.

09.04.2015

Die aktive Interpretation der Welt

Ich bin immer noch von dem Gedanken sehr angetan, dass sensomotorische Muster sehr viel stärker interpretierend sind, als man bisher angenommen hat. Und dass es eine starke Verbindung zwischen motorischen Mustern und der Empathie gibt.
Doch ganz so neu ist diese Idee dann doch nicht. So schreibt Walter Benjamin in seinem frühen Aufsatz Der Moralunterricht:
Nebenbei sei bemerkt: die »spezifische Energie« des moralischen Sinnes, moralisches Einfühlungsvermögen wächst wohl nicht im Aufnehmen der Motivationen, des Stoffes, sondern nur in der Betätigung. Es besteht die Gefahr, dass der Stoff bei weitem die moralische Reizbarkeit übersteige und sie abstumpfe.
(Im übrigen ist dieser kurze, frühe Aufsatz durchaus sehr lesenswert. Er enthält noch weitere Gedanken, die die teilweise ungebremst harten moralischen Forderungen, die man heute lesen kann, in ein ganz anderes Licht rücken.)

Selbstverliebtheit und Empathie

Selbstverliebtheit, so lese ich gerade, breite sich geradezu epidemisch aus. Als Ursache wird angegeben, dass heute ein gesteigerter Erwartungsdruck auf den Kindern laste und dass Eltern gerade ihre eigenen Kinder für etwas ganz Besonderes hielten. (Und man höre hier, dass so etwas ähnliches an Montessori-Schulen propagiert wird, allerdings mit dem feinen, vielleicht entscheidenden Unterschied, dass zugleich der Wert des Zusammenseins betont wird.)

Narzissmus

Der Narzissmus, so der Artikel weiter, zeichne sich durch ›ein grandioses Verständnis der eigenen Wichtigkeit‹, ›Glaube an die eigene Einzigartigkeit‹, ›Anspruchsdenken‹, ›Arroganz‹ oder ›Mangel an Einfühlungsvermögen‹ aus.
Dies allerdings scheint mir selbst eine grandiose Überbewertung zu sein. Grandios und überbewertet deshalb, weil solche Phänomene zu psychisch gedacht werden. So kann man doch heute ältere Menschen belauschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, und die jetzt, am Ende ihres Lebens, kaum mehr als vor sich hin vegetieren können. Haben solche Menschen etwa nicht das Recht auf ein gewisses Anspruchsdenken?
Oder wenn zum Beispiel jemand hochtrabend seine Fähigkeiten anpreist, während man gleichzeitig sieht, dass dieser Mensch gar nicht so toll ist, wie er behauptet, eventuell sogar, dass er durch seine Behauptungen unbedarfte Menschen verwirrt; wenn man einen solchen Menschen zurecht weist, ist das schon Arroganz?

Ein Totschlagargument

So gesehen ist der Vorwurf des Narzissmus' ein Totschlagargument, genauso wie der der Arroganz. Häufig gibt es von einem solchen Argument aus entweder die Unterwerfung, die einer Zustimmung des Argumentes gleichkommt, oder eines Widerspruchs, der aber dazu führen kann, dass der Vorwurf wiederholt wird und der Äußernde sich bestätigt fühlt.

Argumente

Und überhaupt die Argumente: die ganze Debatte um Kompetenzen hat doch dazu geführt, dass man das Maß für ihre soziale Entstehung und die Abhängigkeit solcher Kompetenzen (sie müssen beobachtet werden können) aus den Augen verloren hat. Ein ganz typischer Vorwurf ist zum Beispiel der der Erfahrung, den bestimmte Menschen hätten, weil sie lange in der Praxis gearbeitet haben. Meiner Ansicht nach ist das überhaupt kein Argument. Das Gegenargument lautet dann auch oft: betriebsblind. Unsere Gesellschaft leistet sich so verschiedenartige Argumente. Doch wie immer, wenn man auf diese semantischen Oppositionen trifft, kann man sich darauf verlassen, dass man einen dritten, prozesshaften Weg findet. Mindestens. Denn meist stehen hinter so klar entgegengesetzten Argumenten nicht nur einfache, ideologische Prozesse, sondern komplexe Zusammenhänge, die zahlreiche, teilweise nur kurzfristige Argumentationen zulassen.
So wenig das Wort objektiv noch eine Bedeutung hat, so wenig kann man sich mit dem Begriff der Praxisorientierung schmücken; und mit ein zentrales Problem der gender-Debatte ist nicht nur, dass angeblich die Männer genau wissen, was Frauen sind, sondern dass umgekehrt auch Frauen (zumindest bestimmte) wissen, was Männer sind. Dummheit und Blindheit kann man in diesem Fall wohl beiden Seiten vorwerfen.

Tunnelblick

Gehen wir davon aus, dass Stress einen Tunnelblick verursacht und dass mit dem Tunnelblick andere Menschen nur noch reduziert beobachtet werden, dann können wir von hier aus auf einen stärkeren Hang zur Verallgemeinerung schließen und damit auf einen Anschein einer stärkeren narzisstischen Persönlichkeit.
Mich hat gerade deshalb jener Artikel auch so verwundert, weil die Erforschung der Spiegelneuronen uns einen ganz anderen Menschen zeigt, als die psychologische Untersuchung, die im Tagesspiegel zitiert wird. Wie denn nun? will man wissen. Ich habe nun keine schöne Theorie zu bieten, die das Verhältnis zwischen Narzissmus und Empathie ausformuliert, schon gar nicht auf der Basis der Spiegelneuronen. Aber vielleicht sind die Menschen gar nicht schlecht bestellt. Vielleicht ist es insgesamt nur der Stress, der hier zeitweilig für eine solche Irritation sorgt.

Kryptisch

Höre sich alles sehr spannend an, auch sehr kenntnisreich, aber wenn man es genauer verstehen wolle, sei es doch schon sehr kryptisch. — So äußerte sich gerade eben ein Leser zu meinem Blog. Ich bin überhaupt fasziniert, dass ich immer noch zum Schreiben komme. Tatsächlich sind meine letzten Beiträge etwas eilig zusammengeschrieben worden. Ich komme nur noch wenig dazu, mir Notizen zu machen, wenn ich Bücher lese.
Eines jedoch kann ich gerade sagen: Meine Erfahrungen der vergangenen Jahre verknüpfen sich massiv mit neuen Erfahrungen. Dadurch konzentriere ich mich häufig auf wesentliche Spannungspunkte und logische Strukturen. So ist es kein Wunder, dass ich manche Dinge komprimiert darstelle; und da es eine berufliche Schweigepflicht gibt, kann ich natürlich auch nicht berichten, woher mir mancher Gedanke kommt.

08.04.2015

Devianz

Die Diskussionen, die ich, wenn noch weitestgehend zunächst mit mir selbst, zu den Unterschieden zwischen mathematisch-logischer, narrativer und ethisch-politischer Argumentation geführt habe, hat mich auch immer wieder auf das Thema der Devianz, also des abweichenden Verhaltens, zurückgewiesen. Selbstverständlich gehört der Begriff der Devianz ganz zentral zu meinem Studium mit dazu: in der Sonderpädagogik spricht man sowohl im medizinischen als auch im sozialen Bereich von Devianzen (wenn auch mit ganz unterschiedlichen Vorausbedingungen für den Gebrauch dieses Wortes), gelegentlich auch im psychischen Bereich.

Antigone

Judith Butler verdeutlicht die moralisch-rechtliche Devianz anhand der Figur der Antigone. Allerdings zeigt sie auch, dass diese Devianz nicht vollständig außerhalb der ethischen und politischen Normen liegt, sondern auf vielfältige Bezüge mit diesen beruht. Es ist, verfolgt man diese Argumentation genauer, nämlich ein Irrtum zu glauben, dass der Widerstand gegen den Staat ein einfacher, leicht zu handhabender Widerstand wäre; tatsächlich bedeutet ein solcher Widerstand, und ich denke, dass das Beispiel zum Beispiel der RAF dies sehr deutlich gemacht hat, dass von den Widerständigen die Bedeutung des Widerstands keineswegs beherrscht wird und er den größeren Diskursen innerhalb einer Gesellschaft automatisch unterworfen bleibt. Die Tragik der RAF, so könnte man sagen, war, dass sie das Gegenteil von dem erreicht haben, was sie erreichen wollten. Statt den Staat überflüssig zu machen, haben sie seine Notwendigkeit unterstrichen.
Judith Butler schreibt also:
Antigone befindet sich nur teilweise außerhalb des Gesetzes, und so könnte man schließen, dass weder das Gesetz der Verwandtschaft noch das Gesetz des Staates die ihnen unterworfenen Individuen tatsächlich beherrscht. Gilt Antigones Devianz jedoch als Veranschaulichung der Unerbittlichkeit des Gesetzes und als Verdeutlichung der dialektischen Opposition, dann steht ihr Widerstand im Dienst des Gesetzes, dessen Unausweichlichkeit er belegt.

Objektivierende Kognition und subjektivierende Normierung

Hinter dem Problem der Devianz findet sich ein ganz anderes Problem, welches die Argumentationsweisen betrifft. Insofern man versucht, die Devianz wissenschaftlich zu untersuchen und sie objektiv darzustellen, objektiviert man auch die Menschen, die an einem solchen devianten Prozess teilhaben. Damit aber verleugnet man geradezu ihren Status als politische Akteure. Sie dienen ausschließlich der Veranschaulichung. Egal wie berechtigt oder unberechtigt die Forderungen und Bedürfnisse dieser Menschen im Allgemeinen oder im Besonderen sind: als Objekte fallen sie aus der politischen Argumentation heraus und werden lediglich zu Voraussetzungen für solche.
Dreht man allerdings die Argumentation vollständig um und argumentiert politisch, so kann man gar nicht anders als von einer Normierung ausgehen, die den eigenen Standpunkt innerhalb einer Gesellschaft von Bürgern deutlich macht. Indem man das Gegenüber als Subjekt anerkennt, argumentiert man ihm gegenüber auch normativ. Denn, wie Hannah Arendt gezeigt hat, die politische Sphäre geht nicht von objektiven Verhältnissen zwischen Menschen aus, sondern von subjektiven, bzw. intersubjektiven. Es sind Verhältnisse der Macht.
Wenn Butler also von der Unausweichlichkeit spricht, dann lässt sich das auch als die Unausweichlichkeit des anderen Subjekts lesen, ebenso wie der Unausweichlichkeit des normierenden Verhältnisses zwischen den beiden politischen Akteuren, handelte es sich nun um zwei Menschen oder um einen Menschen und einen Staatsapparat.
Und ebenso lässt sich daraus schlussfolgern, dass es eine objektivierende Normierung nicht gibt. Tatsächlich ahnt man, wenn man sich Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ansieht, dass eine objektivierende Normierung ebenso wie eine subjektivierende Kognition den Bereich des Politischen vernichten und eben eine solche totale Herrschaft etablieren.

Devianz als logische Form

Vielleicht ist das Unangenehme der Devianz nicht so sehr in ihren materiellen Wirkungen zu suchen, als in ihrer logischen Form. Sie scheint die leichtgängigen Logiken, in denen sich eine Kultur definiert und objektiviert, durcheinanderzubringen. Als logische Form bildet sie ein Zwischenreich zwischen Subjekt/Objekt und Kognition/Normierung, so dass sie weder der einen noch der anderen Seite wirklich zugehört und trotzdem an beiden teilhat.

07.04.2015

Empathiezonen

Nimmt man den Vorschlag von Breithaupt ernst, nämlich dass Empathie zunächst nur eine übersteigerte Annahme von Ähnlichkeit sei, also das, was man in der Entwicklungspsychologie eine Übergeneralisierung nennt, und weiterhin, dass Empathie sich dann bewährt, wenn darin Vorsichtsmaßnahmen, Grenzen und praktische Regulierungen eingebaut sind, dann kann man daraus eine ganze Reihe spekulativer Schlussfolgerungen ziehen.

Vygotskij: Ursprünge im Dialog

Zunächst kann man aus Breithaupts Behauptung schließen, dass Empathie eine höhere kognitive Funktion ist. Ihre Wurzel beruht auf dem primitiven Mechanismus, ein bekanntes Merkmal auf ein unbekanntes Objekt zu übertragen, also zum Beispiel die eigenen Gedanken auf einen fremden Menschen. Der Witz an der ganzen Geschichte ist dann, dass hier, aufgrund der Fähigkeiten der Spiegelneuronen, unterhalb des Bewusstseins eine interpretative und zugleich motorische Regelung aufbaut, die zugleich die Fähigkeiten der Spiegelneuronen wieder einschränkt.
Diesen Lerneffekt kann man mit einer der zentralen Aussagen des russischen Psychologen und Neurophysiologen Lev Vygotskij erklären:
Ursprünglich war jede höhere [kognitive] Funktion von […] zwei Menschen geteilt, sie war ein gemeinsamer psychologischer Prozess.
Vygotskij: Ausgewählte Schriften. Bd. I, S. 329.
Dies müsste dann auch für die Empathie gelten. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass die Empathie bereits fix und fertig im Gehirn vorliege. Die Spiegelneuronen liefern nur die Basis für diesen Prozess, der ohne eine soziale Förderung vermutlich nicht zufriedenstellend ablaufen würde.

Bateson: Regelkreise

Man kann hier von mehr als nur Dialogen ausgehen. Dialoge entwickeln sich. Sie sind in Regelkreise eingebaut oder funktionieren nur aufgrund von Regelkreisen. Bateson schildert solche Regelkreise als Prozesse, die bestimmte Ausgangsinformationen weiterverarbeiten und dann in den Prozess wieder einführen, so dass sich solche Regelkreise (zum Teil) ihre eigenen Voraussetzungen erschaffen.
Dies wäre einfach, wenn es sich nur um einen einfachen Regelkreis handeln würde, bei dem die Elemente unkomplex auseinander hervorgehen. Typischerweise wird dies an iterativen Gleichungen vorgeführt, also zum Beispiel der Gleichung x = f (x) und hier f (x) = x2 definiert. Setzt man nun den Anfangswert x = 1.01, so erhält man bereits nach der zwölften Wiederholung für x einen Wert über 100. Wählt man dagegen den Anfangswert zwischen 0 und 1, konvergiert die Wiederholung gegen 0.
Doch solche mathematischen Rechenspiele zeigen nur, dass der Ausgangswert einen entscheidenden Einfluss auf die laufende Operation besitzen kann, ob es dann aber tatsächlich in einem komplexen Regelkreis so abläuft, davon gibt das mathematische Beispiel keinen Beweis.

Verinnerlichung und Rekonstruktion

Sollten solche Regelkreise tatsächlich im Dialog ablaufen, dann kann man bei lernenden Systemen davon ausgehen, dass sie diese Dialoge oder dialogischen Prozesse verinnerlichen. Hier muss man weiter vermuten, dass der Teil des dialogischen Prozesses, der nicht von dem Lernenden ausgeführt wird, von diesem nur rekonstruiert werden kann, so dass die Verinnerlichung zugleich eine Rekonstruktion darstellt. Die Rekonstruktion wird gegebenenfalls von der Umwelt korrigiert.

Probleme mit Regelkreisen

Abgesehen davon, dass man solche Funktionen nur schlecht beobachten kann (ihre Rekonstruktion ist aufwendig), wäre auch ein konkreter Regelkreis noch zu abstrakt, um Lernprozesse zu beschreiben. Meist greifen mehrere dialogische Prozesse ineinander und regulieren sich zusätzlich untereinander, so dass man hier insgesamt von einer hochkomplexen Struktur ausgehen kann. Regelkreise bieten dafür nur einfache Modelle an, die weniger eine wissenschaftliche Erklärung leisten, als dass sie ein Problem im Vorhinein begrenzen und dadurch lösbar machen. Sie sind also nichts anderes als wissenschaftliche Modelle und bieten genau die gleichen Leistungen wie andere Modelle; dies ist vor allem die Kanalisierung der Aufmerksamkeit und die Beschränkung der Fragestellung. Die objektive Wahrheit dagegen ist ihre Sache nicht.

Empathie und Dialog

Für die Empathie lässt sich zudem noch beobachten, dass sie nicht unabhängig von dialogischen Prozessen wirksam werden kann, in ihr also keine wirkliche Verinnerlichung möglich ist. Sie ist so etwas wie eine dialogische Metakompetenz. Man kann daraus schließen, dass Empathie keine rein psychische Funktion ist, sondern auch dann, wenn ein Mensch besonders empathisch ist, im Zustand der Kooperation und des Dialogs verbleibt.

Rückkehr in die Übergeneralisierung

Von hier aus lässt sich auch erklären, warum Empathie nicht „an sich“ funktionieren kann. Wenn sie nicht beständig korrigiert wird, gleitet sie in den Zustand der Übergeneralisierung zurück, die sich weniger als Förderung, denn als Zumutung bemerkbar macht.
Es muss also so etwas wie eine Art Meta-Empathie geben, die die Empathie überwacht und auf ihre blinden Flecken hinweist.

Oder doch keine Empathie?

Damit stellt sich die Frage, was von der Empathie übrig bleibt. Sie ist zunächst dialogisch; ihre Funktion muss beständig korrigiert werden. Doch genau dann könnte man auch die Empathie einfach als Fähigkeit bezeichnen, Dialoge zu führen, die darauf beruhen, bestimmte Ähnlichkeiten überzubewerten, diese Überbewertung aber prozesshaft einzusetzen und sie gegebenenfalls zu korrigieren.
Das alles hört sich kompliziert an. Ist es wohl auch. Der Dialog und dessen offene Begrenzung durch eine Art Bescheidenheit und eine wachsame Selbstkorrektur bilden im Abstrakten bereits ein kompliziertes Geflecht.

Empathiezonen

Es gibt noch eine weitere Vermutung, die ich hier zum Besten geben möchte, und die sich mehr aus der Beobachtung von Menschen denn aus psychologischen Modellen ableitet. Empathie gilt nicht überall und für alle Menschen, sondern nur in bestimmten kulturellen Zonen, so dass derselbe Mensch in einem bestimmten Kulturkreis (mit dem er kooperiert) empathisch sein kann, mit anderen Kulturkreisen allerdings nicht.
Typischerweise kann man dies zum Beispiel (auch wenn's klischeehaft ist) bei Männern und Frauen in einem Kollegium beobachten. Hier bilden sich gelegentlich Gruppierungen, die einander unterstützen, viel voneinander wissen und sich gegenseitig Vorteile zuschanzen. Damit werden zum Teil über oberflächliche Merkmale, über Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten Empathiezonen etabliert, die eher darauf hinauslaufen, bei wem die Empathie im Dialog beständig überwacht und korrigiert werden muss und bei wem nicht. Wenn der Grundansatz der Empathie Übergeneralisierung ist, dann ist es kein Wunder, dass sich hier für die Gruppe, bei der diese Selbstüberwachung empathischer Prozesse nicht greift, rasch Vorurteile bilden.

06.04.2015

Aberglaube, Nachahmung

Der Aberglaube überwintert in unseren Begriffen.
So schreibt Joachim Schulte auf Seite 53 in Chor und Gesetz.

Statt mich in Urlaub zu begeben war ich am Samstag shoppen. Ich habe einen Atlas zur Weltgeschichte erstanden, der hoffentlich meine Schüler interessieren wird. Außerdem habe ich, auf einem Ramschtisch, die Chroniken der Unterwelt, alle drei Bücher, von Cassandra Clare gekauft. Im selben Laden gab es ein tolles Mikroskop samt Zubehör und eine kleine Trickfilmwerkstatt. All das habe ich mitgehen lassen. Für noch nicht einmal 100 €.

Fast fertig gelesen habe ich mittlerweile das Buch von André Zimpel Einander helfen. Nein, nur gelesen, sondern auch in gewisser Weise gründlich durchkommentiert habe ich es. Zum einen konnte ich daran noch einmal die Beziehung zwischen den beiden Arten des Problemlösens (Mittel-Ziel-Analyse, Analogiebildung) und den Unterschieden zwischen naturwissenschaftlicher und ethisch-politischer Argumentation durcharbeiten, zum anderen das Verhältnis von Inklusion, Hegemonie, Konflikt und Willensbildung.
Meine Kritik an dem Buch vermehrt sich, verfeinert sich aber auch; und wenn ich hier von Kritik spreche, dann ist damit durchaus mitgedacht, dass sich eine Kritik irgendwann umwendet und den Kritiker zur Einsicht nötigt.

Angefangen zu lesen habe ich auch Kulturen der Empathie von Fritz Breithaupt. Alleine die Kernthese, bzw. vielmehr das Überdenken der Kernthese macht dieses Buch fruchtbar. Breithaupt geht davon aus, dass nicht die Ähnlichkeit zur Empathie führe, sondern die Überschätzung der Ähnlichkeit. Weiter untersucht er Mechanismen, wie diese Überschätzung kanalisiert, begrenzt und blockiert wird.
Dies alles steht bereits auf Seite 15. Und hab mich zum Beispiel auf Gabriel Tarde Die Gesetze der Nachahmung gebracht, aber eben auch auf das Buch von Zimpel, bei dem sowohl Nachahmungslernen als auch Emulationslernen Bedingungen der Inklusion diskutiert werden.

Ein wenig habe ich mich auch wieder an Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung I versucht. Dies wollte ich sowieso in diesem Jahr lesen. Doch auch hier bin ich noch nicht sonderlich weit gekommen. Schon auf der ersten Seite musste ich einen längeren Umweg über Lacan nehmen. Und dann hatte ich eigentlich keine Zeit mehr, um weiterzulesen.

Den neuen Rahmenlehrpläne, die LRS-Überprüfung, Fördermaterialien. Heute Nachmittag war ich (seit Jahren mal wieder) beim Inder Lamm essen. Das Restaurant war etwas klinisch, aber das Gericht sehr lecker.

04.04.2015

Sprachen lernen

Letzte Woche habe ich zum Emulationslernen geschrieben. Dies ist eine Form des Lernens, die in gewisser Weise den Imitationslernen gegenübersteht, aber diese ergänzt. Ganz zufällig bin ich über ein Interview gestolpert, in dem sich ein gutes Beispiel zum Emulationslernen findet. Dabei handelt es sich um einen Text, der das Erlernen von Sprachen thematisiert. Die Interviewte Judith Meyer hat sich zahlreiche Sprachen selbst beigebracht. Das Interview zeigt aber wesentlich mehr Aspekte eines guten Lernens auf als nur das Emulationslernen.

Handlungskontexte

Dekontextualisierung

Eines der wichtigen Aspekte beim Lernen von Sprachen ist die Dekontextualisierung. Damit ist die Anwendung von bestimmten Sprachmustern, bzw. bestimmten Sprachspielen in unterschiedlichen Kontexten gemeint. Judith Meyer kritisiert:
Allein mit einem Kurs kann man keine Sprache lernen. Erst recht nicht, wenn der Kurs nur einmal in der Woche stattfindet. Pädagogische und neurologische Studien zeigen, dass Lernen nur durch kontinuierliche Wiederholung funktioniert. Etwas, das sich nur einmal in der Woche sehen, kommt nicht im Langzeitgedächtnis an. Bei vielen Kursen in Unternehmen ist zudem das Problem, dass sie immer am gleichen Tag stattfinden. So gewöhnt sich das Gehirn daran, dass immer dienstagmorgens in einem bestimmten Raum Spanisch gesprochen wird. Außerhalb dieses Kontextes lässt sich das Gelernte dann nur schwer abrufen. Sonntagnachmittags im Café Spanisch sprechen, geht dann nicht.

Tiefengrammatik

Das ganze lässt sich auch durch eine Erklärung Wittgensteins stützen. In seinem Spätwerk schreibt Wittgenstein den Wörtern Bedeutungskörper zu (GW VII, 75). Diese entstehen durch Regeln, grammatische Regeln genauer gesagt, wobei eine grammatische Regel nicht durch eine offizielle Normierung entsteht, sondern durch den häufigen Gebrauch. Gelegentlich nennt Wittgenstein dies Tiefengrammatik, im Gegensatz zu der Oberflächengrammatik, die aus den typischen Normen besteht, die in der Schule gelehrt werden. (Dass Wittgenstein damit versucht, die Brücke zwischen Grammatik und Semantik, zwischen formaler und inhaltlicher Betrachtung von Sprachstrukturen zu überwinden, ist gerade auch für die Schule bedeutsam: eine formale Sprachbetrachtung ist nur insofern praktisch, als sie sich in besonderen Situationen als günstig erweist; und diese besonderen Situationen bestehen darin, über Grammatik zu reflektieren, was im Leben von Menschen eher selten vorkommen dürfte.)

Kreativität und der Bedeutungskörper

Wenn man also Wörter nur in bestimmten Kontexten anwendet, dann funktionieren diese wie die Gegenstände in einer wohl geordneten Wohnung: Duschgel benutzt man nur in der Dusche, Gemüsemesser nur auf dem Schneidebrett in der Küche, Messer und Gabel nur am Esstisch. Eine weiterführende, „kreative“ Verwendung findet nicht statt. Damit allerdings wird auch klar, wo das Problem von Sprachkursen liegt: Sie mögen Teilnehmer zu einem formal richtigen Sprechen anleiten, aber noch lange nicht zu einem inhaltsreichen.
Zugegebenermaßen ist der Bedeutungskörper von Wörtern im Gebrauch durch eine Kultur schwer fasslich. Man kann sich ihm nur annähern. Aber wenn man den Wortgebrauch an bestimmte Orte bindet (zum Beispiel Schulklassen), kommt man nicht zu der Möglichkeit, diesen Wörtern eine eigenständige Gedächtniseinheit zu reservieren. Sie bleiben immer lokal gebunden.

Schwerfällige Kreativität

Die räumliche Bindung von Wörtern funktioniert, so zumindest kann man das analogisieren, über das Verhältnis von Ober- und Unterbegriffen. Für das Gedächtnis ist es einfacher, sich bestimmte Mengen in Formen von Oberbegriffen zu merken. Psychologisch nennt man solche Bündel chunks. Sie sind ein typischer Trick und eine Empfehlung in der Mnemotechnik, um sich große Mengen von Elementen besser zu behalten.
Ein Nachteil dieser chunks ist, dass sie sich aus ihrer Gruppe kaum noch herauslösen lassen. Sie bleiben fest daran gebunden. Damit misslingt eine kreative Anwendung, also eine Anwendung, die in anderen Kontexten stattfindet.

Mangas zeichnen

Dasselbe kann man bei Kindern beobachten, die immer wieder die gleiche Figur aus einem Manga-Zeichnen-Lernbuch abzeichnen. Zwar kommen sie nach und nach zu einer Perfektion, die dem Original in nichts nach steht. Aber eine freiere Anwendung, ein eigenständiges Zeichnen gelingt ihnen dadurch noch nicht. Wenn man sie dazu ermutigt, geraten die Bilder wieder aus den Fugen. Zwar können die Kinder einzelne Elemente der Zeichnung benennen, aber ein leichtfertiges Zusammenfügen zu neuen Bildern funktioniert nicht.
Nachdem die Kinder eine Kontextualisierung von Elementen erlernt haben, müssen sie nun eine Dekontextualisierung einüben, also etwas, was man auch Transfer nennt.

Einüben

Man darf hier die Bedeutung der Analyse nicht zu gering schätzen. Das vielfältige Üben ermöglicht Kindern, aber auch Erwachsenen, einen motorisch vielfältigen Gebrauch zu erlernen. Dies habe ich zum Beispiel immer wieder beim Schneiden von Papier beobachtet. Solange dieses in einem bestimmten Kontext stattfindet, kommen die Kinder zu guten Ergebnissen. Verlässt man in einem Unterricht aber diesen Kontext, sind die Kinder verunsichert oder scheinen geradezu inkompetent, eine Schere zu halten.

Motorische Analyse

Durch das vielfältige Üben können kompakte Weltfragmente aufgebrochen werden. Rizzolatti, der „Entdecker“ der Spiegelneuronen, spricht von der Interpretationsleistung des motorischen Systems. Zu handeln bedeutet demnach zu analysieren. Und ebenso geht Wittgenstein von einer pragmatischen Form des Bedeutungskörpers aus. Die Grenze des Bedeutungskörpers eines Wortes entsteht durch den Übergang zu einem anderen Zeichen, wodurch der Bedeutungskörper nie alleine, sondern immer nur in der Vielfalt anderer Bedeutungskörper, in mannigfaltigen Übergängen zu finden ist. (Vgl. Rizzolatti, Giacomo: Empathie und Spiegelneuronen. Frankfurt am Main 2008, S. 24-27)

Steigerung der Analyse

Insofern ist jegliche Analyse eine Analyse des Gebrauchs und damit eine Reflexion über die Praxis und deren Ordnung. Insofern die Reflexion zu einer neuen, übersichtlicheren Ordnung führt, ist sie zugleich pragmatisch. So lassen sich weder Theorie und Praxis, noch Analyse und Synthese trennen. Vielmehr erweist sich die theoretische Analyse als Steigerung der praktischen, während die Synthese gleichzeitig und immer am Rande der Analyse mitläuft, so dass jemand, der analysiert, zugleich synthetisiert; hier stellt sich dann eher die Frage, warum man einen Analytiker so beobachten kann, dass man zu dem Schluss kommt, dass er analysiert, und nicht, dass er es synthetisiert.

Zusammenfassung

Zunächst muss man sich also an den Gedanken gewöhnen, dass Handeln kein Gegensatz zur theoretischen Betrachtung ist, sondern geradezu deren Vorbedingung. Dies muss man allerdings den meisten „Intellektuellen“ nicht sagen, sondern eher all denen, die die Theorie als unpraktisch ablehnen. Meist steckt hinter einer solchen Ablehnung keine Orientierung an der Praxis, sondern zunächst nur ein Dogmatismus. Der Dogmatismus hat in Bezug auf die Praxis den Vorteil, dass das eigene Handeln kaum hinterfragt werden muss; insofern sind Dogmen sehr praktisch und sehr praxisorientiert.
Dies sind Vorbedingungen, um zu verstehen, warum eine Sprache nicht nur vielfältig, sondern in unterschiedlichen praktischen Kontexten geübt werden muss und warum eine rein formale Sprachbetrachtung erst spät erfolgen darf, wenn bereits eine gewisse Komplexität im Umgang mit der Sprache aufgebaut worden ist. Zunächst stellt uns das motorische System zugleich komplexe semantische Interpretationen zur Verfügung, so dass man sagen kann: gebrauchen heißt analysieren. Die formale Betrachtung, also das Erlernen der „richtigen“ Grammatik (oder: Schulgrammatik), gehört in den Bereich der Metakognition, mithin dem Denken des Denkens und kann natürlich erst dann geschehen, wenn man bereits etwas gedacht hat.
Theorie ist also nur dann unfruchtbar, wenn sie sich nicht auf eine Praxis stützt. Die Strukturen der Praxis dagegen bleiben unbegriffen, wenn sie nicht in eine Theorie übergehen. (Dass diese Theorie wiederum eine Praxis ist, zeigt, dass auch Wissenschaftstheorie und Logik notwendige Disziplinen sind.)

Sprachgebrauch

Ein weiterer, wichtiger Punkt, den ich mir zu diesem Interview aufgeschrieben habe, ist der Sprachgebrauch in konkreten Kontexten. Diesen habe ich allerdings bereits oben erläutert. Meyer dazu folgenden Tipp:
Dafür [um Sprachen sprechen zu können] muss man die Sprachen immer wieder anwenden [Sprachgebrauch erlernt man also nur durch Sprachgebrauch]. Mein wichtigstes Werkzeug ist deswegen das Internet. Dort gibt es alles, was man zum Sprachenlernen braucht — und zwar kostenlos. Um eine chinesische Zeitung zu lesen, hätte ich sie mir früher teuer per Post schicken lassen müssen. Heute kann ich sie am Computer lesen und dabei auch Wörter schnell in einem online-Wörterbuch nachschlagen. Auch ausländische Kinofilme und Fernsehserien gibt es im Internet, oft sogar mit Untertiteln. So kann man Sprachen überall in sein Leben einbauen: mal einen Film auf Französisch schauen oder einen englischen podcast im Auto hören.

Emulatives Lernen

Klare Ziele

Damit kommen wir zu dem oben versprochenen Emulationslernen. Im Prinzip funktioniert dieses Lernen ganz einfach: man nimmt sich ein konkretes Produkt vor, das man herstellen möchte und probiert dann aus, wie weit man mit seinen bisherigen Fertigkeiten und Fähigkeiten kommt. Man setzt sich also ganz konkrete Ziele, die man innerhalb einer bestimmten Zeit erreichen möchte und plant genügend Zeit dafür ein, dass man diese dann auch tatsächlich erreichen kann.
Das aller erste, was man machen muss, ist also, sich ein ganz konkretes Ziel zu setzen. Menschen, die in hektischen Situationen leben, tun gut daran, sich diese Ziele aufzuschreiben. Generell aber ist das Aufschreiben hilfreich für die Motivation. Man hat dabei eben nicht nur etwas gedacht, sondern bereits einen Schritt getan.
Bei Meyer hört sich das ganze dann so an:
Ich sage nicht: Ich lerne jetzt Spanisch. Sondern: In drei Wochen möchte ich meinen spanischen Kollegen begrüßen und mit ihm über das Wetter reden können. Dann suche ich mir die dafür notwendigen Vokabeln, Sätze und Grammatikregeln heraus und übe die Aussprache.

Lernen durch Nachbilden

Affen, so liest man es immer wieder, sind keineswegs Meister des Nachäffens. Im Gegenteil: Selbst wenn man Affen, sogar Menschenaffen, den richtigen Lösungsweg vormacht, begeben sie sich wieder eigenständig auf die Suche nach einer guten Situation. Dabei wird das Ergebnis durchaus als positiv erkannt.
Bei dieser Art des Lernens, das man im Prinzip überall durchführen kann, handelt man sich zunächst einen großen Nachteil ein: es ist langsam und zeitaufwendig. Auf der anderen Seite aber trainiert es genau jene Form des Problemlösens, die für Innovation, Humor und Kreativität notwendig ist: die Analogiebildung. Ich hatte schon mehrfach in den letzten Jahren dazu geschrieben, unter anderem auch, dass diese Form des Problemlösens in unserer Gesellschaft wenig bedacht und im Unterricht wenig gefördert wird.

Individuelle Innovation

Dabei muss man zunächst einen Mythos zerstören, der die Innovation betrifft. Innovation wird meist in Form von großen Neuerungen und überragenden Erfindungen gedacht. Tatsächlich ist Innovation aber immer relativ zu einer Person und ihrer Kultur. Manche kulturellen Errungenschaften müssen nicht nur einmal, sondern vielfach erfunden werden. Das beste Beispiel dafür bieten kleine Kinder, die die ganze Motorik des Sprechens und Gehens ohne eine konkrete Anleitung entdecken müssen.
Genau dasselbe kann man beim Schreiben von Romanen oder Diplomarbeiten beobachten. Zwar gibt es in gewisser Weise Schablonen, denen man folgen kann, doch insgesamt bildet man mehr ein bereits erkanntes Ergebnis nach, indem man sich ohne entsprechende Werkzeuge auf den Weg dorthin macht. So jedenfalls ist es bei vielen selfpublisher. Die Ergebnisse sind in ihrer Qualität zwar zum Teil gruselig; aber gelegentlich finden sich darunter auch richtige Perlen.

Experimentelle Kultur

Mit der fehlenden Not, der Zielorientiertheit und der Coaching-Mentalität der Gesellschaft scheint das analogische Denken auszusterben. Und selbst dieses wird dann in Lehrgängen mühsam vermittelt, wobei zum Beispiel Kreativlehrgänge das Problem haben, dass sie häufig zweckgebunden eingesetzt werden. Kreativität wird dadurch eingeschränkt, dass am Ende ein verwertbares Produkt entstehen muss. Es soll etwas vorgezeigt, dargestellt, verkauft werden. Bedenkt man aber, dass viele kreative Prozesse abgebrochen oder neu begonnen werden, dann ist eine Festlegung auf ein Endprodukt nur bedingt tauglich.
Trotzdem zeigt das emulative Lernen, dass zwischen einem reinen Herumbasteln und einem Nachbilden ein Unterschied besteht.

Fehlerfreundlichkeit

Ein anderer bedeutsamer Missstand ist der Glaube an die Perfektion. Während man bestimmte Vorgänge durch eine gute Mittel-Ziel-Analyse in eine nahezu perfekte Anleitung umwandeln kann, gibt es andere Gebiete, bei denen das nicht gelingt. Vermittelt man den Schülern in der Schule nur einzelne Lernschritte aufbereitete Vorgänge, verhindert man jegliche andere Art des Problemlösens.
Die andere Seite dieser Münze ist das Starren auf Fehler. Immer wieder hebt man Fehler heraus und bewertet die womöglich auch noch. Dadurch automatisiert sich das Streben nach Perfektion, ohne dass in irgendeiner Weise überdacht wird, wo Perfektion wirklich nützlich, und wo sie eher schädlich ist. Auch das ist eine Sache, die viele Menschen nicht können. Fehler werden einfach nicht akzeptiert.
Und ich denke hierbei an meine nicht ganz so werte Exfrau, die zwei Arten hatte, mit Fehlern in unserer Beziehung umzugehen: meine eigenen Fehler wurden immer gleich als ein Totalversagen hingestellt und ihre Fehler waren, obwohl sie existierten, nicht existent.
Tatsächlich aber ist der Umgang mit Fehlern nicht ganz so einfach. Wichtig dabei ist der Dialog, vor allem dann, beide Seiten nicht genau wissen, wohin der Weg führen soll. Dies ist eigentlich immer dann der Fall, wenn das Ergebnis nicht korrekt beschrieben werden kann, wie dies zum Beispiel bei Erzählungen der Fall ist.

Versuch

Manchmal wird mir vorgeworfen, zu systematisch, zu rational zu sein, manchmal aber auch genau das Gegenteil: Ich würde an einem Punkt beginnen und an einem ganz anderen Punkt enden. Vermutlich schaffe ich beides. Und dies, je nachdem, wie weit meine Gedanken zu einem bestimmten Thema gediehen sind. Mein Anspruch allerdings ist es auch nicht, endgültige Ergebnisse zu präsentieren. Nach einer etwas verworrenen Anfangsphase hat dieser Blog immer wieder den Charakter des Experimentellen gehabt; es ist ein Blog für Zwischenergebnisse, Anregungen, Ideen, Versuchen. Gelegentlich rechtfertige ich mich explizit oder implizit selbst, wie ich dies einmal anhand des Begriffs der Bastelei getan habe, wie ich es diesmal tue.