20.09.2015

Ignoranz

Ignorance is like a delicate exotic fruit; touch it and the bloom is gone.
Oscar Wilde: The importance of being earnest
Und hier ein schöner Essay von Zoe Beck: Toleranzgrenzen.

Nachtrag:
Ich hatte mir mal vorgenommen, keine plakativen Zitate mehr zu posten. Mehr und mehr nervt es mich, wenn man komplexe Sachverhalte durch zum Teil esoterische, vor allem aber viel zu kurze Sprüche meint begleiten zu können. Als Entschuldigung sei angeführt, dass ich hier auf einen längeren Artikel von Zoe Beck verweise.

Schüchternheit

Eigentlich war es nur eine Notiz, gestern am späteren Nachmittag, etwas achtlos ins Mikrofon gesprochen. Einige meiner Schüler und Schülerinnen sind recht schüchtern. Vor allem in der 4. Klasse sitzen einige Kinder, die mit dem Klassenwechsel noch wenig zurechtkommen und still und leise mitarbeiten, so gut es eben geht. Vor allem ein Mädchen beschäftigt mich gerade, weil diese in meiner Gegenwart so gar kein Wort herausbringt (bei den anderen Lehrern aber auch nicht).

Sich selbst belehren

Meine erste Sorge in solchen Situationen ist, dass meine Wahrnehmung zu undifferenziert sein könnte. Ich begebe mich also, so oft es geht, auf die Reise in die Differenziertheit. Und so war es auch gestern Abend. Aus der kurzen Notiz ist ein kleiner Marsch durch die Literatur geworden, wenn auch ein noch sehr kurzer, denn ich bin an Marcuses Künstlerroman spätestens hängen geblieben und dort eigentlich auch an seiner Darstellung des Anton Reiser.
Mehr noch als früher bevorzuge ich seit meiner Lektüre von Tardes Gesetzen der Nachahmung die fragmentierte und vermischende Arbeitsweise, beides die zentralen Mechanismen, wie sich Neues in die Gesellschaft einschleicht. Die Fragmentierung zeigt immer nur einen Ausschnitt, lässt immer etwas weg, und erschafft dadurch neue Konstellationen, neue Gedanken, wenn auch oftmals erst später, wenn man mal wieder über seine eigenen Fragmente stolpert und sich des Zusammenhangs nicht mehr sicher ist.
Die Vermischung beruht dagegen auf bewussteren Entscheidungen. Auf der Suche nach den Zusammenhängen, nach den psychosozialen Funktionen der Schüchternheit, habe ich alle mögliche Literatur zusammengesucht, gerade so, wie es mir mein Zettelkasten zugeflüstert hat. Diese Literatur habe ich dann aber ganz bewusst durchdiskutiert.

Das soziale Erhabene

Tatsächlich wiederholen sich bei längerer Diskussion verschiedene Gedankengänge, drängen sich bestimmte Ideen immer wieder auf. So war gleich zu Beginn der Arbeit, als mein Zettelkasten mir eine ganze Menge Referenzen zum Wort "schüchtern" auswarf, der Komplementärbegriff "einschüchtern" dabei; er überwiegt sogar die Betrachtung der Schüchternheit selbst.
Was aber schüchtert ein?
Es ist seltsam: die Erhabenheit, die zunächst eine Funktion der Einbildungskraft ist, vielmehr der Widerstand gegen diese Einbildungskraft, wie Escoubas schreibt, wird von der Kultur wiederholt, von einer Vielstimmigkeit, die nicht mehr erfassbar ist, nicht mehr systematisierbar:
„Nun haben diese Disziplinen [Philosophie und Theologie] eine Flut von Literatur über die Funktion von Bildern in ihrem jeweiligen Gegenstandsbereich hervorgebracht und damit eine Situation geschaffen, die jeden einzuschüchtern geeignet ist, der sich einen Überblick über das Problem zu verschaffen sucht.“
Mitchell, W. J. T.: Was ist ein Bild? in: Bohn, Volker: Bildlichkeit. Frankfurt am Main 1990, S. 17-68, hier S. 21
Müsste man also eine dritte Art des Erhabenen postulieren, neben dem mathematisch Erhabenen und dem dynamisch Erhabenen: das sozial Erhabene? Dies wäre allerdings keine Naturgewalt, ihr liegt die Möglichkeit der Veränderung und Beeinflussung bei: damit entfällt die Unterscheidung, die Escoubas am Ende ihres Artikels zu Kant postuliert: die Einheit der Differenz des Heimlichen und Unheimlichen (Escoubas, S. 538). Stattdessen findet eine Entfremdung statt, ja, die Entfremdung könnte sogar als das postuliert werden, was diese Differenz unmöglich macht: das sozial Erhabene.
Die Kultur, folgt man diesem Gedankengang weiter, müsste nicht so komplex sein: Sie könnte viel einfacher sein. Aber sie ist es nicht. Viel zu viele Stimmen mischen sich ein. Das sozial Erhabene ist ein Zuviel von Meinungen, es ist ein Übermaß des Politischen.

Marcuses Anton Reiser

Ausweg aus dem religiösen Subjektivismus

In seiner Doktorarbeit behandelt Marcuse den deutschen Künstlerroman von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (die zur Zeit, als Marcuse seine Doktorarbeit verfasst hat, tatsächlich Gegenwart gewesen ist). Dieses Werk ist voll und ganz von einer historisch-materialistischen Dialektik durchdrungen. Mir ist diese Vorgehensweise zu eindeutig. Trotzdem sind es faszinierende Beobachtungen, die Marcuse vorstellt.
So zeigt er gleich zu Beginn, wie sich in den Anton Reiser eine bestimmte, spannungsgeladene Konstellation einschreibt, aus der heraus sich eine tragische Bewegung entwickelt, ein Künstlerwerden des jungen Reiser.

Religiöse Metakognition

Mich hat folgende Passage also gestern Abend etwas länger beschäftigt:
„Eingehend ist zu Anfang des »Anton Reiser« geschildert, wie schon bei dem Knaben der Gefühlsüberschwang die religiöse Deutung und Bindung als ungenügend überstürmt und weitere Nahrung und Erfüllung sucht. Wohl ergeht Anton Reiser sich nach den Anweisungen der Madame Guyon in ausführlicher Innenschau, in Unterhaltungen mit Gott und dem Jesulein, im Forschen nach Sünden, im Ertöten der Begierden – aber dies Gebaren trägt nicht nur kindlich spielerischen Charakter; es zeigt auch schon ganz jene weltliche Freude am selbstständigen Ich, jenes egozentrische Lebensgefühl, das im Sturm und Drang den religiösen Subjektivismus der Pietisten in die Wirklichkeit hinaufreißt.“
Marcuse, Herbert: Der deutsche Künstlerroman. Springe 2004, S. 24
Metakognition ist ein jüngst recht umworbener Begriff: dieser besteht nach einer etwas klassischeren Definition, aus drei Teilaspekten: dem Wissen um die eigenen Denkvorgänge in Form von psychologischen Begriffen, der Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Denken und schließlich der Fähigkeit, dieses Denken zu steuern und sein Potential auszunutzen. Zum letzteren gehören dann eine ganze Reihe von Techniken, wie etwa das Arbeitsbuch, das epistemische Schreiben oder die Mindmap.
Gelegentlich habe ich meinen Vorbehalt gegen eine jubilierende Übernahme dieses Begriffs geäußert. Unkritisch angewendet trägt er zu einer Selbstdisziplinierung der Menschen bei, zu einem Abtöten von kreativem und innovativem Potential.

Eine strukturierende Ideologie

Wir finden also eine Parallele zwischen dem religiösen Subjektivismus, aus dem Anton Reiser laut Marcuse ausbricht, und den disziplinierenden Maßnahmen, die eine Ökonomisierung des Denkens durch die Metakognition begleiten. Während der religiöse Subjektivismus nach der Sünde forscht, jagt die moderne Management- und Karriereliteratur nach der Funktionalität des menschlichen Denkens. Beides sind strukturierende Ideologien, die dem Menschen angedient werden. In gewisser Weise beerbt sogar der Begriff der Karriere den Begriff der Sünde.
Tatsächlich scheint der Begriff der Metakognition ein sehr enges Verhältnis zu Ideologie zu besitzen; es gibt in den verschiedenen Ideologien immer gewisse Menschenbilder, also ein gewisses Wissen um das Funktionieren der menschlichen Psyche, ebenso wie eine starke Aufmerksamkeit für die Leistungen einzelner Menschen innerhalb der Gemeinschaft existiert (und sei es als Zensur, die dafür aufmerksam ist, was ein Mensch nicht sagen darf). Schließlich findet man in Ideologien bestimmte ritualisierte Praktiken, bestimmte Ordnungen, die auf Handlungen und Aufzeichnungssysteme bezogen sind. Mithin sind dies die drei Bestandteile der Metakognition.

Der heimliche Lehrplan

Auffällig an diesem Zitat von Marcuse ist, dass die Metakognition vor einem ausgereiften weltlichen Denken entsteht. Die strukturierenden und disziplinierenden Maßnahmen laufen parallel zur Entdeckung der Welt. Nun hatten wir in den siebziger Jahren eine Diskussion um den heimlichen Lehrplan. Hier haben Soziologen entdeckt, dass die Schule nicht nur das offizielle Weltwissen vermittelt, sondern zugleich auch äußerst charakterprägend sein kann. In der Angst, man könne hier wieder Menschen heran erziehen, die zu den Verbrechen des Nationalsozialismus fähig seien, hat man so genannte Sekundärtugenden (Fleiß, Ordnung am Arbeitsplatz, usw.) hinterfragt und zum Teil über Bord geworfen. Was dabei gerne übersehen wurde, war, dass der Mensch sich selbst über den Umgang mit der Welt ordnet, dass er sich fortlaufend selbst diszipliniert, dass eine der wichtigsten Bereiche, in denen er sich diszipliniert, die Gemeinschaft ist. Seitdem wurde die Pädagogik aufmerksam für die Verfehlungen einer laissez faire-Erziehung, ebenso wie für die emotional verwahrlosten Kinder, die aus Elternhäusern stammen, die Kinder mehr als eine idealistische Vollständigkeit benötigen, denn aus Lust an der Fürsorge und Liebe für ein heranwachsendes Wesen.
Und umgekehrt ist die sozialistische Pädagogik, obwohl sie die bürgerlichen Werte zum Teil massiv abgelehnt hat, keineswegs ohne metakognitive Techniken ausgekommen. Im Gegenteil war die Überwachung und Disziplinierung der Schüler in Schulen aus sozialistischen Staaten wesentlich höher, als man dies aus westlichen Staaten kennt.

Die Einbildungskraft ausdifferenzieren

Doch das ganze beruht auf einem Missverhältnis: die Strukturen der Welt existieren nur als Strukturen im Kopf. Jeder Mensch konstruiert sich seine Welt nach den eigenen Bewegungen des Denkens. Dieses Denken hält sich an den Kontrasten und Oppositionen fest, die ihm von den Sinnesorganen nahegelegt werden. Ohne eine solche Strukturierung würde sich überhaupt kein komplexes Weltbild bilden; und ohne eine Ordnung des eigenen Handelns würde kein Mensch jemals etwas über seine Wirksamkeit in der Wirklichkeit erfahren.
Natürlich ist die Metakognition eine disziplinierende Maßnahme. Aber wenn es die eine Form der Metakognition nicht ist, dann übernimmt eine andere Form. Die Metakognition muss gar nicht explizit beigebracht werden; in gewisser Weise existiert sie ganz „natürlich“ in unserer Natur.
Ihr Ziel ist, so möchte ich behaupten, nicht die Ökonomisierung des Denkens; so wird sie zwar häufig, aber nicht immer dargestellt. Ihr Ziel ist vielmehr die Ausdifferenzierung der Einbildungskraft. Alle Aufzeichnungen, alle Notizen, alle Skizzen, die kleinen Kommentare, die vertraulichen Gespräche mit guten Freunden über eigene Ängste, Sorgen oder Fehlleistungen, all dies gehört in gewisser Weise zur Aufbau einer metakognitiven Kompetenz. Und auf der anderen Seite wird damit die Einbildungskraft verfeinert und die Achtsamkeit gegenüber der Welt erhöht.

Anleitung durch ein Phantasma

Was die Passage zum Anton Reiser auch noch ausmacht, ist, dass Marcuse zeigt, dass die Metakognition durch ein Phantasma, nämlich die Sünde, angeleitet wird. Die Sünde ist ein Ding, das nicht existiert. Sie ist, um es mit Kant zu sagen, eine Idee, die nur durch Beispiele illustriert wird, und die sich nicht aus der Welt durch Abstraktion ableiten lässt.

Subjektivismus und Egozentrik

In diesem Zitat stellt Marcuse dem Subjektivismus die Egozentrik gegenüber. Die Bewegung, die vom Text nahegelegt wird, ist eine aufsteigende. Mehrfach taucht die Vorsilbe ›über‹ und ›unter‹ auf. Zu dieser Opposition parallelisiert sich die Opposition ›innen‹ und ›außen‹, sowie ›oben‹/›unten‹ (was bei der ersten Opposition natürlich naheliegt). Der Mensch, sofern er unterdrückt wird, geht nicht nur in sich hinein, sondern stellt sich unter die anderen, er unterwirft sich. Und insofern der Mensch nach außen geht, erhöht er sich auch. Diese beiden parallel geführten semantischen Oppositionen finden sich recht häufig in der Doktorarbeit.

Die Emphase des Eingeengten

Die Außenwelt der Innenwelt der Außenwelt

Entlang dieser Opposition entfaltet Marcuse seine weitere Argumentation. Er wird darauf dann die große Opposition zwischen Wirklichkeit und »anderen Welten der Erfüllung« aufbauen (S. 25) und von dort aus zu einer ›erfüllenden‹ und ›nicht erfüllenden Wirklichkeit‹ übergehen. Doch zunächst unterstreicht er noch einmal emphatisch, wie die sozialen Umstände zu einer Dialektik des innen/außen führen:
„Doch wie sieht diese Wirklichkeit, nach der das Subjekt verlangt, aus? Ein Elternhaus, in dem Vater und Mutter ständig streiten und lärmen, in dem die Luft voll ist von Bußpredigten und Reue-Ermahnungen, wo Armut und Elend lasten. Die lieblos peinigende Behandlung macht in dem Knaben die Sehnsucht nach einer weiteren und schöneren Außenwelt, nach einer freien Entfaltung immer brennender: die kurzen Reisen nach dem nahen Pyrmont dünkten den Eingeengten schon eine Seligkeit. Ein inniges Bedürfnis nach Freundschaft und Gefährten verzehrt den Einsamen: aber misstrauisch und reizbar durch die Feindschaft im Elternhause, schüchtern und scheu in seiner zerrissenen Kleidung, findet er nirgends Gemeinschaft. So in der Wirklichkeit gehemmt und zurückgeschlagen, flüchtet sein reiches Gefühl in eine idealische Welt, in der es keine Enttäuschung zu fürchten hat und sich ganz entfalten kann: in die Welt der Bücher.“ (S. 24)
Innerhalb der Welt des jungen Anton existiert also bereits eine Art Außenwelt, wenn auch eine idealistische, keine pragmatische. Zwar kann man diese Unterscheidung anfechten, aber letzten Endes existiert trotzdem ein qualitativer Unterschied zwischen den verschiedenen Medien, eine ganz andere Form der Erreichbarkeit.
Der Unterschied zwischen der pragmatischen und der idealistischen Welt besteht darin, dass die idealistische Welt leicht erreichbar ist, und dass sie sich „beliebig“ gestalten lässt.

Schüchternheit

Anton Reiser muss sich als Kind entscheiden, entscheiden für eine Intensität des Denkens, für eine innere Reise, auch wenn diese innere Reise eng verflochten ist mit der äußeren Reise, wie sie in den Abenteuerromanen auftaucht, die das Kind verschlingt.
Schüchternheit ist demnach eine Verlagerung der Lebensintensität von außen nach innen. Das ist natürlich nur eine der möglichen Definitionen. Was bei Anton Reiser allerdings dazu kommt, ist eine zweite Art der Verdrehung von innen/außen: dies sind die Bußübungen und die Innenschau, also die religiöse Metakognition. Als Kind wird Anton Reiser vollständig in sich verdreht, werden innen und außen ständig vertauscht und immer wieder in Wechselwirkung gebracht.

Bußübungen und Abenteuerromane

Zwischen den Bußübungen und der Innenschau knüpft sich also ein Band der Kooperation. Es gibt verschiedene Schüchternheiten, solche, die durch Übungen gefördert und ausdifferenziert werden, die gleichsam von außen nach innen aufgenötigt werden, und die dann, weil es eine Gegenbewegung gibt („Freude am selbstständigen Ich“ (24), „wilden Hunger“ (25)), zu einer zweiten, weltlicheren Innenschau führt. Folgt man also Marcuse, dann ist die Schüchternheit ein Symptom für eine dialektische Bewegung, die auf einer feineren Ebene die Opposition innen/außen zunächst auf die eine, dann auf die entgegengesetzte Weise hierarchisiert, diese aber innerlich rekonstruiert, also innerlich bleibt, auch wenn sie von den Bußübungen zu den Abenteuerromanen geht.

Schluss

Obwohl Marcuse nur ein Teil der von mir diskutierten Literatur ausmacht, hat er doch die spannendsten Ergebnisse geliefert.
Schüchternheit ist demnach keineswegs eine Abwesenheit der Neugier, sondern eher eine Neugier, der der aktive Pol fehlt. Sicherlich: diese Antwort befriedigt mich nicht. Sie scheint verschiedene Formen zu haben, die sehr unterschiedlich betrachtet werden müssen. Soweit ich das bis jetzt überblicken kann, und dazu gehören Passagen von Nietzsche, Adorno, Barthes und Fromm, passiert bei der Schüchternheit etwas mit der Differenz innen/außen und zwar auf der Innenseite. Da Menschen sich sowieso innerlich rekonstruieren, sich ein Körperbild aufbauen und eine Theorie von dem eigenen Denken entwickeln, kann die Schüchternheit nicht auf eine Innerlichkeit der Äußerlichkeit reduziert werden. Hier muss noch etwas anderes passieren, damit ein Mensch als schüchtern wahrgenommen wird. Dies muss ich aber an anderer Stelle klären.
Insbesondere müsste ich aber den Passus zum sozial Erhabenen deutlicher einbinden. Ich denke, dass klar ist, warum ich diesen an den Beginn gesetzt habe. Eine explizite Diskussion wäre allerdings wünschenswert.

Mutter und Vater

In der neueren Philosophie gibt es eine Methode, die biologischen Begriffe strukturell zu betrachten. Zwar gab und gibt es den reinen Strukturalismus nicht wirklich, aber der Gedanke einer reinen Topologie hat über einige Jahrzehnte hinweg verschiedene (Kultur-)Wissenschaften beschäftigt.

Ferdinand de Saussure

"Vater" dieser Idee war der französische Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure. Dieser hat die Sprache als ein System definiert, in dem sich die Wörter gegenseitig in ihrer Bedeutung begrenzen und sich gegenseitig ihren Platz zuweisen. Damit ist die Bedeutung nicht mehr ein Inhalt, sondern eine Form; diese Form entsteht aber nicht durch Vernunft: sie ist keine Einheit, die von außen in die Sprache eindringt. Die Form entsteht als Differenz zu anderen Formen. Nicht die Einheit, sondern die Differenz "erzeugt" die Sprache in ihrer Differenziertheit.

Frau, laut Luce Irigaray

Wenn das Weibliche das Geschlecht ist, das nicht eins ist, dann bestimmt Luce Irigaray dieses als differentiell. Der Witz an der ganzen Angelegenheit ist, dass die Position des Weiblichen sich nicht aus einem Inhalt bestimmt. Es ist gleichsam ein leerer Platz, auf den alles Mögliche rücken kann, und insofern muss man diesen Platz so lesen, wie den Platz, auf den Thornhill in Der unsichtbare Dritte rückt. Zunächst existiert ein Phantom, ein Agent, der den gegnerischen Agenten, den Spionen, gefährlich werden könnte. Dieses Phantom ist aber ein Manöver, um von dem wahren Gegenspion, Eve Kendall (Eva Marie Saint) abzulenken. Nun bekommen die Spione einen Tipp, wo sie den Gegenspion finden könnten. Auch dieser Tipp ist natürlich von der Spionageabwehr platziert. Und hier rückt durch einen dummen Zufall Thornhill auf die Position des nicht existierenden Phantoms.
Das Weibliche bezeichnet also eine strukturelle Position, kein reales, sprich: biologisches Geschlecht. Es ist auch nicht nur von Frauen "gefüllt" und nicht jede Frau nimmt diesen Platz automatisch ein. Das Weibliche ist, sofern es topologisch bestimmt wird, biologisch geschlechtslos.

Funktionalisierung

Die Strategie dieser Argumentation besteht darin, nicht mehr das Wesen des Weiblichen zu bestimmen, sondern die Funktionalität zu analysieren. Luce Irigaray analysiert nicht die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts, sondern die monotone Funktionalisierung des Weiblichen. Dieser setzt sie die funktionale Äquivalenz entgegen (siehe dazu auch Luhmann: Soziale Systeme, Kap. I, 4). Die funktionale Äquivalenz beruht auf der Analogiebildung, und diese hat wiederum viel mit Kreativität und Humor zu tun. Irigarays Buch Speculum ist tatsächlich sehr ironisch geschrieben; ihre klugen Unterscheidungen führt sie durch Provokation von Alternativen ein.

Mutter

Dieselbe Strategie kann man auf andere Begriffe anwenden: die Mutter, der Vater, das Kind.
Von der Mutter gibt es eine Anzahl idealistischer Vorstellungen und eine Liste von "zutreffenden" Merkmalen. In einer pluralistischen Gesellschaft ist diese Merkmalsliste widersprüchlich. Sie kann dementsprechend sehr unterschiedlich funktionalisiert werden. Dass der Mutter dann der Zusatz "biologisch" verliehen wird, ist nur ein Kürzel dafür, dass nicht widersprochen werden darf.
Meine Professorin für Literaturwissenschaft definierte mal die Mutter "als die, die den Schrei des Kindes versteht". Der Schrei: das ist das unartikulierte Geräusch, der noch ungeformte Ausdruck eines Bedürfnisses.

Vater

Doch der wahrhafte Vater, der den Willen,
Den schüchternen, bemerkt, gab sprechend jetzt
Mir neuen Mut, des Sprechens Lust zu stillen.
Dante, 2. Buch (Fegefeuer), 18. Gesang, Vers 3
Wäre das nicht, rein strukturell, eine schöne Definition für den Vater: der, der den Mut gibt, des Sprechens Lust zu stillen?
Und, rein strukturell, ist die Position beliebig besetzbar: sie ist nicht biologisch.
Die Lust des Sprechens ist das Geräusch, das sich in die Sprache als rein strukturelle einschleicht: die Sprache ist keine reine Topologie: sie wird belebt und aktualisiert, wenn man Roland Barthes Glauben schenkt, von der Lust des Sprechens. Der Vater ist so für eine andere Art der Unartikuliertheit des Sprechens zuständig als die Mutter. Beide aber verstehen ein Sprechen jenseits der artikulierten Sprache.

19.09.2015

Warum Fundamentalismus langweilig ist

Und wie ich so gerade auf Twitter publik mache, dass ich die neue Version von Dragon NaturallySpeaking installiert habe, überraschen mich doch zahlreiche tweets zu einer Demonstration in Berlin. Offensichtlich haben sich hier Abtreibungsgegner, Polizei und „Feministinnen“ zu einem Stelldichein gefunden. Ist das interessant? Keineswegs! Ideologie ist, auf dieses Niveau heruntergebrochen, langweilig.

Ideologie

Ideologie sei, so konstatierten die Philosophen Deleuze und Guattari einmal, ein schmutziges Wort. Aber warum? In Kurzform könnte man das so erklären: jedes Denken ordnet sich entlang einer bestimmten Vorherrschaft und diese Vorherrschaft kann man zumeist als Idee bezeichnen. Das Denken ist nicht akzidentiell, sondern substantiell ideologisch. Dem Denken also ideologische Machart vorzuwerfen hieße dem Denken vorzuwerfen, dass es existiere. Nicht also die Ideologie an sich ist schmutzig, sondern der Vorwurf, der in diesem Wort steckt.

Pluralismus

Aus diesem Grunde ist auch der Pluralismus eine Ideologie, und, wie mir scheint, keineswegs eine gute. Sieht man sich zum Beispiel den Gebrauch des Begriffes »plural« bei Roland Barthes an, so meint er damit durchaus nicht ›alles‹, sondern lediglich ›einiges‹; zudem meint er damit, dass dieses ›einiges‹ nicht logisch aufeinander abgestimmt sein muss, um es nebeneinander zu verwenden.
Zweifellos aber muss mit solchen Brüchen vorsichtig umgegangen werden. Das Verbot von Brüchen, Rissen und Sprüngen in der Logik kann nicht einfach durch eine nahtlose Akzeptanz ersetzt werden. Beiden Positionen ist tendenziell die Unfähigkeit zum Konflikt und die fehlende Reflexion gemeinsam.
Und oftmals scheint mir dies auch mit dem Begriff Pluralismus gemeint zu sein. Zunächst werden die Konflikte abgewiegelt, um sie dann, meist allerdings an einer völlig falschen Stelle, wieder aufleben zu lassen. Dass ein ähnlicher Mechanismus bei all jenen Menschen zu finden ist, die auf eine kulturelle Einheit drängen, ist wohl mal als Tragik, mal als Komödie lesbar.

Abtreibungsgegner

Warum ist aber der Streit der Ideologien so langweilig? Weil er blind ist. Dabei sind allerdings die naiven Abtreibungsgegner sehr viel offensichtlicher ohne gescheite Argumente. Diese werfen zum Beispiel den Feministinnen vor, sie würden die Abtreibung befürworten. Das allerdings ist nicht die herrschende Idee, die schließlich zur Aufhebung der strafrechtlichen Verfolgung aus dem § 218 führte. Dominant war und ist die Idee der Selbstbestimmung. Wie und warum es dann doch keine Selbstbestimmung wäre, kann man aber nicht der Idee aufdrücken: dies muss man im Einzelfall entscheiden. So ist das Wort Abtreibungsbefürworter auch nur eine rhetorische Floskel.

Feminismus

Andererseits ist auch der Feminismus nur eine Idee; wer auch nur ein wenig die Debatten der letzten 30 Jahre verfolgt hat, fragt sich allerdings, wie gefräßig eine Idee sein darf. Die Idee der Gleichberechtigung der Frau in allen Lebensbereichen hat sich sowohl auf die Kindererziehung als auch auf die Karriere übergestülpt, als seien Kindererziehung und Karriere mit all ihren Problemen damit gelöst. Zwar ist die gegenteilige Behauptung, Kinder brauchten unbedingt Väter, genauso ideologisch; oder der Vorwurf, es gäbe immer noch Männerseilschaften, die den Frauen den Zutritt in gehobene Positionen erschwerten, als sei dies das Alleinstellungsmerkmal von Männern in Karrieren: mittlerweile kann man doch tagtäglich ähnliche Beobachtungen bei Frauen machen.

Dogmatismus

Wir haben es also mit zwei verschiedenen Arten der Ideologie zu tun. Auf der einen Seite finden wir die Ideologie als ein Denken, welches sich entlang einer Idee ordnet; und auf der anderen Seite finden wir eine Ideologie, der man vorwirft, entlang einer Idee die Gesellschaft zu bevormunden. Dies heißt aber eigentlich Dogmatismus.

Nicht aufzulösen

Mittlerweile plädiere ich dafür, den Widerstreit zwischen den Ideen nicht mehr aufzulösen, auch nicht die Dominanz bestimmter Ideen. Ich kann durchaus verstehen, dass viele Menschen beunruhigt sind, wenn sie hören, dass im nächsten Jahr 1 Millionen Flüchtlinge zu uns kommen sollen. Und gerade bei Menschen, die sowieso in unserer Kultur wenig Gutes erfahren haben, obwohl sie zu dieser gehören, verstehe ich auch die Verbitterung ob der Aufmerksamkeit, die Flüchtlinge bekommen, auch ob des Geldes, welches jetzt so scheinbar einfach in die Versorgung dieser Menschen gesteckt wird, wo doch ein Hartz IV-Empfänger oftmals unter massiven Geldsorgen leidet.
Nur kann die Ideen des Asyls nicht gegen die Idee des Wohlstands aufgewogen werden. Betrachtet man sich diese beiden etwas länger, gibt es keine eindeutige Dominanz, nicht einmal eine uneindeutige. Genauso wenig lässt sich sagen, dass der Schutz des ungeborenen Lebens und das Recht auf körperliche Selbstbestimmung durch eine klare Grenze zu scheiden sind. Wenn es dazu ein Recht gibt, wie etwa die derzeitige Praxis zum § 218, dann nicht, weil damit die Gerechtigkeit besonders gut verwirklicht wäre, sondern weil es ein handhabbares Verfahren geben muss, das auf einem großen gesellschaftlichen Konsens und auf der Berücksichtigung des Individualwillens aufruht.

Fundamentalismus

Der Fundamentalismus pickt sich willkürlich eine Idee heraus und verabsolutiert diese. Würde man einem solchen Vorgehen auf breiter Basis folgen, gäbe es nichts mehr zu diskutieren, nichts mehr zu entscheiden. Fundamentalismus ist nicht einfach nur ein Ärgernis, sondern vor allem eine Denkfaulheit, geradezu eine Unfähigkeit zu denken; auch eine Entscheidungsfaulheit, ja eine Unfähigkeit zu entscheiden. Am Ärgerlichsten allerdings ist der Fundamentalismus, der auf eine Quasi-Person aufgebaut ist, auf einen Gott, auf eine Nation. Das ist oftmals nicht mal mehr eine Idee, denn keine Person und keine Nation kann sich nur auf einer Idee gründen; häufig ist dies nur noch ein diffuses Sammelsurium aus Halb- und Viertelwahrheiten.

Tugendlehre

Die Ideologie scheint im Zeitalter der Aufklärung das abzulösen, was bei Aristoteles die Tugendlehre war. Die Tugend dient zunächst der Anerkennung seiner selbst: sie ist eng mit der Lust verknüpft, sie ist ein Ich-habe-Lust-an-mir-selbst. Dann aber ist sie wertvoll, weil sie die Glückseligkeit einer Gemeinschaft mehrt. Glückseligkeit ist die Einheit und Eindeutigkeit von Handeln und Denken gemäß einer selbstbestimmten Tugend. Und, so kann man dies paraphrasieren, wenn auch sicher nicht vor einem Aristoteles-Kenner, unter tugendhaften Menschen wird der Mensch tugendhaft. Dass die Tugend in gewisser Weise durch die Idee abgelöst worden ist, scheint mir allerdings nicht allzu viel zu bedeuten; es sind, aber wen sollte das wundern, Tugenden hinzugekommen, die sich stark auf den schriftsprachlichen Bereich stützen, wie zum Beispiel die Wissenschaftlichkeit oder die Dichtkunst oder die Erfindungskraft. Doch auch dort gilt: handle so, wie du denkst, und denke so, wie du handelst.
Schließlich sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Tugend immer eine Tugend-für-sich ist, nie eine Tugend für andere. Es gibt, sofern ich Aristoteles verstehe, keine gemeinsame, geteilte Tugend. Die Tugend teilt sich nicht als Tugend mit, sondern als das je verschiedene, das sie bewirkt, als Wohltat, als Vergnügen, als Schutz; sie teilt sich auf der anderen Seite durch ihre Vorbildlichkeit mit und dadurch, dass sie die Glückseligkeit in der Gemeinschaft vermehrt.

Dragon Professional Individual

Schon vor ein paar Tagen habe ich mir die neue Version von Dragon NaturallySpeaking gekauft, allerdings als Vorab-Version, da diese wesentlich günstiger war. Und natürlich als Upgrade. Was ist neu an der neuen Version?
Ehrlich gesagt: so anders als die vorherige ist sie nicht. Der Unterschied der Version 12 auf 13 war gravierender; vor allem die Spracherkennung war noch einmal deutlich verbessert worden.

Vorteile der neuen Version

Zunächst muss ich lobend erwähnen, dass erstellte Sprachprofile in die neue Version importiert werden können, so dass ich nicht wieder alle zusätzlichen Wörter, die ich seit anderthalb Jahren nach und nach Programm beigebracht habe, erneut trainieren muss.
Die Installation dauert ungewöhnlich lang. Eineinhalb Stunden habe ich gebraucht, um das Programm zum Laufen zu bekommen. Und dabei habe ich überhaupt keine Fehler suchen müssen und war mir keineswegs unklar, wie ich die Installation vorzunehmen habe: dies macht das Programm ganz von alleine. Es scheint also im Hintergrund eine gewaltige Rechenarbeit zu sein, die für die umfangreiche Zeit sorgt. Der Import des Profils selber hat dagegen nur wenige Minuten gedauert.
Insgesamt scheint die Erkennungsleistung aber doch verbessert worden zu sein. Auch wenn die Version 13 kaum noch Fehler gemacht hat, gab es doch immer mal wieder Verwechslungen zwischen Dativ- und Akkusativendungen, also zum Beispiel zwischen ›dem‹ und ›den‹. Trotzdem scheint mir mein Programm jetzt sicherer zu sein, welches Wort ich gesprochen habe.
Trainiert man neue Wörter an, dauert es weniger Zeit, bis das Programm diese in das Wörterbuch eingerechnet hat.
Verbessert worden ist auch die Zusammenarbeit typischen Programmen, wie zum Beispiel verschiedenen Browsern. Hier fand ich die Vorversion gelegentlich etwas orientierungslos: es gab allzu häufig Fehler, wenn man statt mit der Maustaste mit dem Spracherkennungsprogramm eine Funktion im Browser aufrufen wollte.

Nachteile

Mit fast 400 € im Vorverkauf hat man einen stolzen Preis zu zahlen. Der Vorgänger hat über 200 € weniger gekostet. Auch das Upgrade ist mit 250 € recht teuer geworden; hätte ich nicht in der Vorversion ein Angebot über 170 € bekommen, hätte ich es mir zweimal überlegt.
Die Zusammenarbeit mit verschiedenen Programmen ist zwar insgesamt verbessert worden, aber längst noch nicht so, dass man ganz ohne Tastatur oder Maus auskommen könnte. Insbesondere wünsche ich mir seit zwei Jahren eine sprachliche Bedienung von OneNote. Gerade weil man in Word so toll per Stimme bedienen kann, sollte es doch möglich sein, dies auch bei einem dazugehörigen Produkt wie dem Zettelkasten von Microsoft eine solch einfache Handhabung mitzugeben. Dies ist allerdings nicht geschehen. Bei kleineren Programmen, wie dem Zettelkasten von Daniel Lüdecke, kann man solche Verbesserungen nicht erwarten.

Fazit

Insgesamt lohnt sich der Kauf des Spracherkennungsprogramms Dragon NaturallySpeaking sehr. Fraglich bleibt, ob man sich die neueste Version sofort zulegen muss. In ihrer Grundfunktion, der Spracherkennung, scheint sie insgesamt nur geringe Verbesserungen aufzuweisen. Ganz genau kann ich dies aber nicht sagen: dadurch, dass mir mein altes Profil importiert wurde, kann es auch sein, dass mein Programm schon zu gut meine Vorlieben kennt und auf diese fehlerfrei reagiert.

14.09.2015

Wochenfragen. Ver-siegen ...

Es ist mal wieder spät am Abend. Die zweite „Ladung“ mit Wochenfragen liegt korrigiert neben dem Schreibtisch. Dank meiner intensiveren Beschäftigung mit der Deutschdidaktik, allerdings auch dank einer immer differenzierteren Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft, habe ich noch mal einen ganz anderen Blick auf die Kindertexte gewonnen. Zudem helfen mir meine Erfahrungen aus meinem ersten Jahr an der Schule und meine ganzen Notizen. Anstrengend war das, aber lohnenswert.

Aus der Schule hinaustragen

Worüber ich mir in den letzten Tagen sehr viele Gedanken gemacht habe, war ein pädagogisches Prinzip, welches mir während meines Referendariats besonders bewusst geworden ist. Dort hatte ich einen Schüler in der Klasse, der am Ende der dritten Klasse kaum die Buchstaben zu den Lauten zuordnen konnte. Selbst einfache Wörter konnte er deshalb nicht lesen. In der folgenden Zeit habe ich mit vielen Materialien und kleinen Übungen die Phonem-Graphem-Zuordnung gefestigt.
Ich glaube, dass es vor allem unserer guten Beziehung geschuldet war, dass er sich nun intensiver mit den Buchstaben auseinandergesetzt hat. So hat der Schüler häufiger im Klassenzimmer gestanden und gefragt, welche Buchstaben wie ausgesprochen werden (wir hatten eine Anlaut-Tabelle rundherum im Klassenraum hängen). Irgendwann kam er an und meinte, er habe einen neuen Buchstaben entdeckt. Es handele sich um ein A, allerdings hätte dieses Pünktchen oben drüber. Ausgesprochen werde es aber wie ein E. Ich fragte ihn, woher er das wisse. Daraufhin erzählte er, dass er an einem Laden vorbeigekommen sei, in dem es Brot zu kaufen gäbe. Dort nun hätte er den neuen Buchstaben in einem Wort entdeckt. Daraufhin sei er in die Bäckerei gegangen und habe gefragt, was das für ein Buchstabe sei. Die Verkäuferin habe ihm das dann erklärt.
Ich habe den Schüler dann aufgefordert, den Buchstaben im Klassenraum zu entdecken. Und er hat ihn dann tatsächlich auf der Anlaut-Tabelle gefunden.
Kurz vorher hatte ich den Schüler darauf aufmerksam gemacht, wo er überall Buchstaben in seiner Umwelt finden könne, zum Beispiel auf Straßenschildern. Diese Verbindung hatte der Junge bis dahin scheinbar nicht vollzogen.
Dies waren, so scheint mir, zwei prägende Situationen, warum sich der Junge dann selbstständig mit der Schrift weiter befasst hat, und bis Mitte des vierten Schuljahres einigermaßen einfache Wörter lesen konnte.

Wöchentliches Schreiben

Das regelmäßige Schreiben ist zwar den Schülern auch gelegentlich lästig, prägt aber insgesamt die Qualität ihrer Texte enorm. Ein wichtiger Aspekt dabei scheint mir, dass die meisten Schüler an der gleichen Frage arbeiten. Dadurch entsteht ein reger Austausch. Im Moment ist ein gewisses Problem noch, dass die Schüler, die sich im Schreiben wenig zutrauen, gerne von einem Nachbarn abschreiben. Diese Entlastung lasse ich allerdings. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nach wenigen Texten bei den Schülern der Wunsch auftaucht, nun auch eigene Texte zu verfassen. Darin liegt auch ein gewisser gesunder Stolz.

Selbst-Qualifizierung

Eine der vordringlichsten Herausforderungen des Deutschunterrichts ist der Umgang mit impliziten Regeln und Sprachnormen. Schüler, die in die Schule kommen, haben bereits oftmals sehr elaborierte Satz- und Textmuster. Bevor sie also wirklich schreiben können, beherrschen sie bereits wichtige Werkzeuge des Schreibens. Anders als in der Fremdsprachen-Didaktik muss die Sprache nicht von Grund auf gelehrt werden. Vielmehr müssen die Schüler lernen, ihre sprachlichen Kompetenzen in den Schriftsprach-Bereich zu übertragen. Diese Verbindung muss mit einiger Geduld und viel Ermutigung aufgebaut werden. Erst nach und nach können dann weitere Normen und insbesondere eine Schriftsprachlichkeit unterrichtet werden.
Zunächst kann man aber den ersten und allerwichtigsten Schritt darüber erreichen, dass man den Schülern die Freude am Schreiben und den Sinn des Schreibens vermittelt.

Weitere Entwicklungen

Positiv überrascht war ich dann doch, dass sich einige Schüler, die zu Beginn meiner Lehrtätigkeit an meiner Schule als recht schwache Schreiber gezeigt haben, ihre gute Entwicklung über die Schulferien hinaus in das neue Schuljahr weiter getragen haben. So hatte ich zu Beginn ein Mädchen mit einer recht schweren LRS. Sie hat bis zum Ende des Schuljahres Bücher immer nur angefangen zu lesen. Die LRS hat sich bis zum Ende des Schuljahres mäßig gebessert. Ihre neuen Texte sind mit deutlich weniger Fehlern behaftet. Zudem hat sie in den Sommerferien drei Bücher gelesen. Auch ein Junge mit einer deutlichen LRS schreibt, allerdings in Bezug auf Ausdruck und Inhalt, deutlich bessere Texte als vor den Sommerferien. Die Rechtschreibung ist gelegentlich noch recht abenteuerlich. Doch die Texte selbst sind ganz wundervoll, zum Teil auch auf sehr dezente Weise ironisch. Und das ist eine Kunst, die viele erwachsene Autoren nicht beherrschen.

Begründungen

Natürlich war ich heiß darauf, diese Erfolge zu begründen. Die Methode der Wochenfrage ist ja nicht auf meinem Mist gewachsen. Meine Vorgängerin in dieser Klasse hat sie mir vererbt. Wir hatten leider viel zu wenig Zeit, über einzelne Aspekte zu sprechen, so dass ich mir viele Fragen selbst stellen und beantworten musste; und dies natürlich während des laufenden Schulbetriebs.
Erst in den Sommerferien konnte ich mich intensiver damit beschäftigen.
Ehrlich gesagt habe ich keine wirklichen Begründungen gefunden. Es gibt zwar Begründungen, doch scheinen mir diese zu kausal zu sein. Gerade in Bezug auf komplexe Systeme versuche ich Kausalitäten zu vermeiden. Dies ist ein Erbe, welches ich aus der Systemtheorie mit herumtrage.
Auch wenn man sich darauf einlässt, einem „Wirkungsfaden“ zu folgen, zerfasert dieser immer mehr und versiegt schließlich vollständig. Und schließlich muss man sich eingestehen, dass es keine wirkliche Ursache für die Verbesserung der Kinder in ihrer Textqualität gibt, auch wenn ich mir dies in narzisstischen Momenten gerne einzureden versuche und mich als Urheber imaginiere.

Ver-siegen

Von der wissenschaftlichen Seite aus gesehen ist dies ein schönes Hindernis. Mir wäre es ja lieb, hier genauere Angaben machen zu können, und sei es nur für mich, einfach, damit ich besser in die schriftsprachliche Entwicklung der Kinder eingreifen kann.
Diese Unfähigkeit (die ich mir keineswegs anlaste) hat mich an einen schönen Aufsatz erinnert: Les juifs font des interprétations errantes; Die Juden erstellen herumirrende Interpretationen. An genaue Inhalte erinnere ich mich nicht mehr. Es ist 20 Jahre her, dass ich diesen Aufsatz gelesen, eigentlich gründlichst studiert habe. Aber ein Kerngedanke ist mir hängen geblieben: zunächst erscheinen die Thora-Interpretationen wie eine frei flottierende, wenig auf Gründlichkeit bedachte Masse an Aussagen. Doch diesem Anschein widerspricht der Autor dann, indem er nachweist, dass eine kausale Interpretation nur scheinbar funktioniert und selbst genauso irrig ist, wie die Interpretationen, die gleich mit der Kausalität brechen. Und daraus schließt der Autor dann, dass die Thora und damit eigentlich jeder Text unendlich interpretierbar ist.
An einer Stelle habe ich in einer privaten Übersetzung das Wort ver-siegen benutzt. Zunächst habe ich dies ohne den Bindestrich geschrieben. Ich hatte auch keinerlei Hintergedanken dabei. Dann aber ist mir aufgefallen, dass es tatsächlich triumphale, scheinbar siegreiche Interpretationen von Texten gibt, der abgewiesene und abgewertete Interpretationen gegenüberstehen. Wenn es aber bei der Interpretation keinen Sieg gibt, ist das Wort versiegen als ver-siegen in seiner Doppeldeutigkeit äußerst sinnhaft.

Operationalisieren

Bei den Schülertexten ist mir aufgefallen, dass die Kinder besonders dann ermutigt werden, wenn man den geschriebenen Text als ein Teilstück eines Dialogs auffasst. Natürlich liefern die Kinder auch ein Produkt, auch den Endpunkt eines Prozesses. Meine Aufgabe ist es nun, diesen Endpunkt aufzugreifen und selber ein Produkt abzuliefern, möglichst eines, an das der Schüler wieder anschließen kann: zum Beispiel in Form einer schriftliche Rückmeldung. Dies hat viel mit der Operationsweise des Gehirns zu tun: es gibt, wenn das Gehirn einen Reiz verarbeitet, keinen wirklichen Endpunkt, keinen Speicher, kein Lager, wo man diesen Reiz dann in welch auch immer verarbeiteter Form finden kann. Bei der Arbeitsweise des Gehirns kommt es darauf an, dass der Reiz, indem er verarbeitet wird, zugleich das Gehirn verändert. Damit ist die Reizverarbeitung im Gehirn rein operativ. Und ähnlich ist es dann auch mit den Texten: die Themen kommen und gehen; aber im Hintergrund verändert sich die Schreibweise, die Haltung gegenüber den Texten. Schreibweise/Haltung bilden damit eine Art Äquivalent zum Gehirn.
Hier schließt sich der Kreis zu meinem anfänglichen Thema, dass der Pädagoge nämlich darauf zu achten hat, dass die schulischen Inhalte aus der Schule herausgetragen werden, damit die Schüler dort weitere Erfahrungen mit den Lerninhalten machen können. Genauso dürfen die Texte nicht als psychische Äußerungen der Schüler verstanden werden, sondern als Wegmarken in einer Vielzahl von Dialogen, die man „überall hintragen“ kann.

12.09.2015

Barbarischer Geschmack

Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der Reize und Berührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft § 13 [B 38, A 38]
Das Seltsame bei Kant ist, dass das ästhetische Urteil ohne die ästhetische Empfindung auszukommen scheint, ja, dass das ästhetische Urteil, sofern es noch eine ästhetische Empfindung enthält, „barbarisch“ ist. Das ist nun eine äußerst seltsame Behauptung, möchte man meinen. (Aber ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich Kant hier richtig lese.)

Bastardisierte Axiome

Tautologische Wesenheit

Bei Kant findet man immer wieder kleine Bosheiten, wie etwa, dass der Geschmack etwas Barbarisches habe, sofern man die Reize zum Maßstabe des Beifalls macht.
Schon vor den drei Kritiken trennt Kant die sinnliche Erkenntnis vom Intellektuellen:
Alle Methode der Metaphysik in Bezug auf das Sinnliche und das Intellektuelle geht vorzüglich auf diese Vorschrift zurück: man müsse sich ängstlich hüten, dass die einheimischen Grundsätze der sinnlichen Erkenntnis nicht ihre Grenzen überschreiten und das Intellektuelle affizieren. Denn weil das Prädikat in einem jeden Urteil, das intellektuell ausgesagt wird, die Bedingung ist, von der behauptet wird, dass sich das Subjekt ohne sie nicht denken lasse, und weil das Prädikat demzufolge Erkenntnisgrund sein dürfte: so wird es, wenn es ein sinnlicher Begriff ist, nur die Bedingung einer möglichen sinnlichen Erkenntnis sein; folglich wird es sich vortrefflich zu dem Subjekt eines Urteils schicken, dessen Begriff gleichfalls sinnlich ist.
Kant, Immanuel: Von der Methode im Felde der Metaphysik, Bd. V, S. 85 (Suhrkamp)
Was Kant also den sinnlichen Begriffen „vorwirft“, ist ihre tautologische „Wesenheit“: eine Rose, die als »diese« Rose gedacht wird, als die Rose, die man sinnlich wahrgenommen hat, führt weder zu analytischen, noch zu synthetischen Urteilen. Es ist eine schlichte Setzung des Sinnlichen im Begriff. Die Rose ist dann deshalb rot, weil ich sie als rote wahrgenommen habe, und weil ich sie als rot wahrgenommen habe, ist sie rot. Deshalb kann man einem solchen ästhetischen Urteil auch nicht widersprechen: denn das Definierte (das Subjekt) wird vollständig durch das Definierende (das Prädikat) erschaffen. Weder wird das Definierte zergliedert (analysiert), noch wird es ergänzt (synthetisiert).

Subjektive Gültigkeit

Ganz so einfach macht Kant es sich allerdings nicht. Er verbietet nicht einfach solche Begriffe, sondern behauptet, dass diese Art der Urteile, die eben zu solchen sinnlichen Begriffen führen, subjektive Gültigkeit hätten. Es seien aber keine Verstandesbegriffe.
Diese Art der Urteile sei notwendig, weil sie die Bedingung für die sinnliche Erkenntnis eines gegebenen Begriffs bildeten.
Auch das ist eine seltsame Behauptung: zunächst sei das sinnliche Urteil, mit seiner tautologischen Wesenheit, die Bedingung für die sinnliche Erkenntnis, woraus man ja schließen könnte, dass die ganze sinnliche Erkenntnis tautologisch sei.
Tatsächlich bezeichnet Deleuze (trotz aller Verschiebungen, die Deleuze an der klassischen Philosophie vornimmt) solche Urteile als unerbittlich. Gerade weil sie keinen erkennbaren Grund haben, ist ihnen eine Gewalt eigen, gegen die man sich nicht wehren kann.
Subjektive Gültigkeit erlangen diese Begriffe durch ein »es ist so, wie es ist«, durch eine Tautologie.

Ein barbarischer Ausdruck

Der Witz, der uns zu dem Begriff des Barbarischen zurückbringen wird, ist nun, dass die Verwechslung von Verstandesbegriff und Sinnesbegriff und damit von objektiver und subjektiver Gültigkeit nur mit einem „barbarischen Ausdruck“ bezeichnet werden kann.
Kant schreibt:
Weil man aber die Blendwerke des Verstandes durch Vorspiegelung eines sinnlichen Begriffs als eines Verstandesmerkmals einen Fehler der Erschleichung nennen kann (nach Analogie der überkommenen Bedeutung), wird die Vertauschung des Intellektuellen und Sinnlichen der metaphysische Fehler der Erschleichung sein (ein intellektuiertes phaenomenon, wenn der barbarische Ausdruck erlaubt ist), …
Kant, Immanuel: Von der Methode im Felde der Metaphysik, S. 85 ff.
Das Blendwerk des Verstandes wird durch einen Chiasmus gebildet, der sich aber nicht als Chiasmus zu erkennen gibt. Das Sinnliche anstelle des Intellektuellen bildet so eine Metapher, so dass die Rose, sofern sie sinnlich ist, die Metapher der Rose bildet, sofern diese intellektuell ist. Die rhetorische Figur, die diesen Zustand am Treffendsten bezeichnet, ist das Oxymoron, der „barbarische Ausdruck“, als „bastardisiertes Axiom“.

Die Grenzen des Geschmacks

Kant bestimmt hier eine ganz andere Grenze des Geschmacks als die des „Sittlichen“ oder Moralischen. Die Grenzen des Geschmacks sind vielmehr rhetorischer Natur, und es ist bezeichnend, dass diese beiden Figuren, obwohl sie sich logisch gegensätzlich verhalten, zugleich auftreten. Die eine Figur, die Tautologie, besagt nichts. Sie ist reine Setzung, reine Performativität. Die andere Figur, der Chiasmus, bzw. die darunter auftauchende logische Figur des Paradoxon, ist ein reiner Widerspruch, ohne ihr Geworden-sein, reine A-Performativität.
Allerdings muss man dabei bedenken, dass sich das Paradoxon nicht direkt als Paradoxon zeigt, sondern in Form einer metaphorischen Verdrängung der einen Seite und damit einer Verdrängung des Widerspruchs.
Wenn ich hier weiter argumentiere, dann womöglich allzurasch. Jedoch ist auffällig, dass die blanke Behauptung, ebenso wie die Verdrängung des Widerspruchs und damit des Anderen beide einer „logischen“ Gewalt zugehören, einer „Logik der Gewalt“ (und auch dies mag in gewisser Weise als ein Oxymoron gehört werden: Gewalt, so möchte man meinen, entsteht doch zu aller erst dadurch, dass sie unvernünftig und unlogisch ist).
Die ästhetische Empfindung setzt sich und verdrängt die Gegenseite. Der Geschmack, insofern ihm die „Beimischung von Reizen und Berührungen“ eigen ist, ist gewaltsam und barbarisch.

Schluss

Von hier aus lassen sich einige Verbindungslinien ziehen, so zum Beispiel in das Werk Wittgensteins, bei dem die Tautologie und die Paradoxie eine exponierte Rolle spielen. Ferner gibt es Verknüpfungspunkte zu der Einteilung der Diskurse von Roland Barthes, und hier insbesondere zu der Definition des despotischen und des terroristischen Diskurses; dies wiederum würde nahelegen, dass der faschistische Diskurs die Welt als eine aus sinnlichen Begriffen bestehende interpretiert, also subjektiv.
Die ganze Geschichte ist allerdings nicht einfach. Sie ist auch deshalb nicht einfach, weil solche Interpretationen, wie ich sie hier gebe, weder auf dem Weg zur Wahrheit, noch auf dem Weg zur Wissenschaftlichkeit sind, sondern zunächst Muster aufbauen, die eine bestimmte Idee oder einen bestimmten Leitfaden vernetzen und gelegentlich auch zerfasern. Die Erkenntnis besteht weniger in einer direkten Benennung, als in einer Differenzierung.

08.09.2015

Die drei Synthesen der Einbildungskraft

Wenn man die Einbildungskraft als das grundlegende Prinzip annimmt, um das sich die Deutschdidaktik zu kümmern hat, wenn das Ziel des Deutschunterrichts die Ausdifferenzierung der Einbildungskraft ist, und wenn das grundlegende Mittel dazu die anschauliche Transmedialisierung ist, kann man darauf die drei Synthesen der Einbildungskraft, wie Kant sie formuliert hat, anwenden.

Transmedialisieren

Obwohl der Begriff der Transmedialisierung in meinem Blog seit langer Zeit immer wieder benutzt wird, mag ich ihn hier noch einmal erklären. Hier wird aus einem Medium in ein anderes Medium übersetzt. Das Medium verstehe ich etwas präziser als einen Code, also als eine Zeichenmenge, die auf eine bestimmte Art und Weise benutzt wird, für die es also Regeln des Gebrauchs gibt, also eine Grammatik. Grammatik, das ist das wichtige Wort.
Eine Grammatik kann zum Beispiel auch nur einen bestimmten Teil eines anderen Codes umfassen. Ein Fachwortschatz zum Beispiel hat Anteil an der ganz normalen Sprache, unterliegt aber besonderen Beschränkungen und einem besonderen Reglement. Und dadurch trennt sich der Fachwortschatz von dem allgemeinen Wortschatz.
Die Beschreibung eines Gegenstandes ist ebenso eine Transmedialisierung. Hier wird ein visuelles Objekt in einen geordneten Text übersetzt. Die Nacherzählung bildet eine Form davon, und im Prinzip ist jede handelnde Bearbeitung darin enthalten. Der Begriff bietet also Platz für alle möglichen Aufgaben.

Die erste Synthese

Grundlegender aber sind die Synthesen, wie Kant postuliert. Diese bilden unterhalb der Transmedialisierung Elemente; die Transmedialisierung ist eine Kombination verschiedener solcher Elemente.
Die erste Synthese ist die Apprehension oder Auffassung. In ihr wird eine sinnliche Mannigfaltigkeit (eckig, braun, fest, usw.) in einer Reihenfolge erfasst und dann zu einem »Jetzt« versammelt. Sie ist also eine zeitliche Synthese, die aus einer Serie, aus einzelnen, hintereinander erfassten Merkmalen eine Einheit.
Unschwer lässt sich hier das Prinzip der Assoziation erkennen. Merkmale werden aneinandergefügt und bilden zusammen ein enges oder locker gefasstes Gewebe.

Die zweite Synthese

Die Reproduktion des Abbildes, also die Kopie, ist durch die zweite Synthese bezeichnet. Seltsamerweise bezeichnet Kant hier eine Art Wiederholung; geht man der Arbeit der Einbildungskraft aber etwas genauer nach, so hat dieser auch die Aufgabe der Abstraktion, lässt also Merkmale weg, so dass nur eine unvollständige Kopie entstehen könnte. Und auf der anderen Seite fügt diese Synthese auch verschiedene Wiederholungen zusammen, insofern sich diese ähnlich sind. Und wenn ich es richtig verstanden habe, wird die Ähnlichkeit umso großzügiger gehandhabt, je näher das Abbild der Erhabenheit ist, so dass sich im Zustand der Erhabenheit jedes Abbild mit jedem anderen ähneln würde.
Insofern ist die zweite Synthese keineswegs auf eine bloße Reproduktion angelegt, sondern enthält zum einen die Unvollständigkeit der Reproduktion durch die Abstraktion, und zum anderen die Vermischung von Reproduktionen in der Nähe der Erhabenheit. Dies sind, seltsamerweise, die beiden Formen der Kreativität, die Gabriel Tarde in seinem Buch Die Gesetze der Nachahmung beschreibt.

Die dritte Synthese

Am merkwürdigsten aber ist die dritte Synthese. Dies ist die Synthese der Rekognition. Auf der einen Seite erfasst sie die Einheit eines Schemas, aber auf der anderen Seite erfasst sie diese Einheit nur, indem sie diese im Inneren des Schemas verteilt. Sie ist die Einheit einer Zerstreuung oder Verteilung.
Zu solchen Synthesen gehören wohl alle flächig angeordneten Modelle, aber auch die meisten Begriffe.

Die drei Synthesen im Unterricht

Was wären Beispiele für die drei Synthesen im Unterricht?
Nehmen wir die Mindmap. Durch das assoziative Verfahren wird hier natürlich die erste Synthese verwendet. Durch die flächige Aufteilung dann aber auch die dritte. Und dadurch, dass man mit der Mindmap ein Vorwissen umsetzt, einiges vergisst, anderes noch hinzufügt, nutzt sie auch die zweite Synthese.
Ich hatte oben geschrieben, dass die drei Synthesen so etwas wie die Elemente von den Transmedialisierungen bilden. Hier haben wir ein Beispiel dafür, dass eine so einfache Aufgabe wie die Mindmap tatsächlich alle drei Synthesen zu einem größeren Zusammenhang anordnet.

Tausend Plateaus

Es wird dem einen oder anderen meiner Leser vielleicht aufgefallen sein, dass ich schon einmal, vor Jahren, etwas Ähnliches geschrieben habe, diesmal aber zu der Logik im Werk von Gilles Deleuze. Tatsächlich handelt es sich bei einem seiner mit Félix Guattari zusammen geschriebenen Hauptwerke Tausend Plateaus um eine Reformulierung der drei Synthesen Kants. Nicht nur, denn das Werk umfasst ästhetische und politische Aspekte, die weit über die Synthesen und weit über Kant hinausgehen, aber eben auch.

07.09.2015

Kutschera und das Krebsgeschwür

Ich liege fiebrig zu Hause: die Grippe hat mich voll erwischt. Meine Schuld! Hätte ich mal nicht am Wochenende versucht, den Jahresplan für Deutsch, die Wochenfragen, die Meldung zur LRS-Überprüfung und für meine Ko-Pädagogin einiges zur Erläuterung gleichzeitig zu schreiben. Funktioniert irgendwie nicht. Aber Jammern ist verboten. Und nicht das angekündigte Thema. Das ist folgendes:

Kutschera

Ulrich Kutschera ist Evolutionsbiologe, übrigens ein feiner Mensch, sein Buch Evolutionsbiologie ist empfehlenswert.
Kutschera mischt sich in die gender-Debatte ein. Seine Argumente halte ich allerdings für zu kurz gefasst. Evolution ist natürlich eine wichtige Sache und ich wäre der letzte, diese Tatsache zu leugnen. In den letzten Jahren habe ich häufiger zu dem Verhältnis von Evolutionstheorie und gender-Theorie geschrieben. Ich habe immer wieder beklagt, dass die gender-Theorie zu wenig Ahnung von der Evolutionstheorie habe. Dies aber wäre dringend nötig, da die Evolution ein wichtiges Prinzip, eigentlich das wichtige Prinzip für die Entwicklung des Lebens, damit auch der Menschen, damit auch der Männer und Frauen ist.

Dumme Rhetorik

Ich muss noch etwas Salz in die Wunden streuen. Einiges, was im sogenannten gender-Mainstreaming geäußert wird, ist tatsächlich dumme Rhetorik (obwohl ich beim neuerlichen Googeln eigentlich nur Erfreuliches gefunden habe, z. B. den schönen Artikel: Gender Mainstreaming in Kindertageseinrichtungen). Ich habe dazu in den vergangenen Jahren ebenfalls einiges geschrieben. Meine Kritik trifft aber nicht die gender-Theorie direkt. Ich finde das theoretische Anliegen von Judith Butler, Shoshana Felman, Luce Irigaray, oder auch Alice Schwarzer im Kern als richtig. Und meine Kritik zielt auch weniger auf diese Protagonistinnen, als auf bestimmte Inszenierungen des gender-Mainstreaming, weil sie am Kern des politischen Denkens vorbeizielen.

gender gap-Zeichen

Dumm finde ich z. B. das gender gap-Zeichen: ein Wort bezeichnet doch nur etwas, wenn ich das Wort etwas bezeichnen lassen will. Ich kann zu meinem Bäcker gehen, obwohl es eine Bäckerin ist, und finde das nicht eine Sekunde lang diskriminierend. Ich muss auch nicht Bäcker_In sagen, nur weil es möglicherweise transsexuelle Bäcker gibt. Mir erschließt sich der Sinn dieser Maßnahme nicht. Ich quäle meine Dogmatiker (und Dogmatiker_Innen) doch lieber mit einer scharfen Argumentation als mit einem unlesbaren Text. (Abgesehen davon, dass der Link auf eine Seite führt, auf der alle möglichen Ismen in einen Topf geworfen werden: die Frauendiskriminierung und die Exklusion behinderter Menschen. Beides existiert, beides muss bekämpft werden, aber ob dies der rechte Weg ist, wage ich zu bezweifeln.)

Firmware Gottes, queer und Porno

Andererseits: dass Männer auf Frauen mit runden Brüsten und langen Haaren stehen, ist weder evolutionär notwendig, und schon gar nicht gehört es zur Firmware Gottes (es sei denn, ich wäre Teufelswerk). Was religiöse Fundamentalisten bei der Ablehnung einer Sache, dem gender gap-Zeichen, gleich hinterherschieben müssen.
Und erneut andersherum: Die Pornobranche habe entdeckt, dass queere Sexualität sexy sei, so aranca; quatsch: die machen vor allem eines damit: Geld. Das ist kein gender gap, sondern eine media gap. Pornoindustrie ist nach wie vor eines: Ausbeutung.

Maskulinismus

Eine stellenweise hervorragende Analyse mit leider viel zu vielen Verallgemeinerungen: Gender mainstreaming auf Maskulinismus für Anfänger. Sorry, das müsste ich jetzt weiter erläutern. Schreibe, wegen Grippe, gerade Stückwerk. Wir treffen uns dort, wo ich dem gender mainstreaming eine schleichende Rebiologisierung des sozialen Geschlechts vorwerfe; dies geht auch damit einher, dass sich der Einzelwille nie nur nach sexuellen/biologischen Aspekten beurteilen lässt. "Gender mainstreaming", so schreibt der Autor, sei "ausgesprochen heteronormativ". Ja, genau, teilweise. Kommt drauf an, wer's in die Hände und den Mund nimmt. Umfassend gut ist auf dem Blog folgende Analyse: Wer braucht Feminismus.

Grenzziehungen

Wo aber ziehe ich die Grenze, wenn man zunächst scheinbar zwei entgegengesetzte Lager vorfindet, wenn scheinbar die Evolutionstheorie und das gender-Mainstreaming so gar nicht zusammenzufügen sind?
Der Scheidepunkt liegt darin, dass Menschen (aber auch Tiere, Pflanzen, sogar die Erde) ein Gedächtnis haben, während die Evolution nur ein Prinzip bezeichnet, wie sich ein solches Gedächtnis bildet. Der Knackpunkt an der ganzen Sache ist in etwa folgender: die Evolution will nichts (sofern man Darwin, bzw. den Neo-Darwinisten folgt), Menschen wollen schon etwas. Und um das Problem präziser zu formulieren: wie bringt man die "Gesetze" der Evolution mit dem politischen Individualwillen zusammen?

Ökologie

Neulich habe ich gestanden, und ich wiederhole hier dieses Geständnis, dass ich (noch) zu wenig Ahnung von politischer Philosophie habe. Ich denke, dass ich mich in die Evolutionsbiologie gut genug eingearbeitet habe, um mit ihr argumentieren zu können. Wenn ich von der Biologie ausgehe, dann ist für mich der Anwärter, um den Evolutionismus in Bezug auf die gender-Theorie auszuhebeln, die Ökologie.
Nun stellt uns die Ökologie ebenfalls vor einige Probleme, gerade wenn es um den Menschen geht.
Als erstes müssen wir bedenken, dass das einigende Band zwischen Ökologie und Evolution in den Begriffen des Milieus und der Population zu finden ist: im Milieu variiert eine Population, in einem Milieu selegieren Zufälle und Bedingungen die Population, in einem Milieu restabilisiert sich eine Population. Von den Prinzipien der Evolution aus verknüpfen sich Population und Milieu durch den Dreiklang der Variation, Selektion und Restabilisierung. Diese bilden dann auch die abstrakten Bedingungen der ökologischen Entwicklung.

Zufälle

Ist es aber nicht seltsam, dass diese ehernen Gesetze den Zufall so massiv ins Spiel bringen (wie Kutschera ja selbst immer wieder schreibt)? Hier müssen wir uns zunächst anschauen, was das für "Gesetze" sind, die die Evolution proklamiert. Es sind eben keine Kausalitäten, worunter einige naive Evolutionisten die Evolution tatsächlich verstehen (und damit den Neo-Darwinismus aufgeben). Eher zeigen Variation, Selektion und Restabilisierung auf bestimmte Typen von Kausalität, sind also eher Einteilungen von konkret im Milieu vorliegenden Wirkungen. Dass in der Geschichte des Lebens Zufälle eine starke Rolle gespielt haben (die Dinosaurier haben sich keine Asteroiden erwünscht), wird von der Evolutionstheorie berücksichtigt, aber nicht erklärt. Um den Einschlag eines Asteroiden auf die Erde zu erklären, ist die Evolutionstheorie denkbar unbrauchbar. Das gehört in das Reich der Astrophysiker. Der Evolutionstheoretiker kann aber an den Folgen dieses Zufalls sehen (sofern die Theorie des Dinosauriersterbens haltbar ist), dass die Selektion durch ein verändertes Milieu passiert.

Der Individualwille

Die Evolution will nichts. Sie geschieht. Ich kann das nicht häufig genug betonen. Wenn Kutschera sich dahingehend äußert, dass "eine andere, quasi-religiöse Strömung unter der Tarnkappe des Gender Mainstreaming Fuß fasst und immer mehr, gleich einem Krebsgeschwür, sämtliche Fachgebiete erobern möchte" (siehe hier), dann nicht aus der Sicht der Evolution. Weder will die Evolution die gender-Theorie, noch will sie sie nicht. Der Evolution selbst ist das, entschuldigt bitte, gerade mal scheißegal. Wie ihr Blauwale und Quastenflossler, Kakerlaken und Archeopteryxe scheißegal sind.
Kutschera kritisiert, was genau eben den Menschen ausmacht, auch ihn selbst. Menschen, einzelne Menschen, z. B. Professoren der Evolutionsbiologie, wollen etwas. Eventuell ist es lästig, wenn man in seinem Fachgebiet plötzlich auf Menschen stößt, die etwas anderes wollen, als sich mit der Evolution von Pflanzen zu befassen. Dazu könnte gelegentlich eine Frau gehören, die mal nicht kochen will.

Kochen

Und überhaupt: kochen. "Gut kochen muss sie können", die Frau, behauptet Kutschera. Rein biologisch ist der Mensch aber kein kochendes Tier. Wir leben, und da hat Kutschera ja durchaus Recht, immer noch in der Steinzeit, gentechnisch gesehen. Nudelauflauf stand da noch nicht auf dem Speiseplan, auch keine Ratatouille oder so etwas. Wenn eine Frau nun gerade so etwas kocht, verstößt sie dann gegen die Evolution? Könnte man ja vielleicht meinen.
Folgte man also der Behauptung von Kutschera, dass die Evolution den Männern vorgibt, welche Frauen sie zu wählen haben, dann dürften kochende Frauen ganz weit unten im Ranking stehen. Tun sie nur nicht.
Hier verpasst Kutschera einige wichtige anthropologische Bedingungen. Der Mensch ist, durch seine neurophysiologische Ausstattung (also seinem Gehirn) ein extrem anpassungsfähiges Tier. Nur so sind die enormen Variationen des Menschseins erklärbar. Nur so ist die kulturelle Evolution erklärbar. Autos, Ratatouille, Bibeln und Evolutionsbücher sind von der Evolution nicht gewollt, sondern durch Selektionen im Milieu entstanden. Kreationisten wollen keine Evolution, aber ihr Dasein lässt sich durch die Evolution erklären. Sie sind etwas, was man mit Stephen Jay Gould als "dumme Evolution" bezeichnen könnte, oder, mit Stephen King, als Tommyknockers. Zur dummen Evolution gehören eventuell auch Evolutionsbiologen oder Hobby-Blogger oder Ratatouille-kochende Frauen. Wer weiß das schon?

Krebsgeschwüre

Ich kann leider immer noch nicht aufzeigen, wo die Evolutionstheorie aufhört und wo die Politik des Individualwillens anfängt. Zumindest aber sollte jetzt deutlich sein, dass die Evolutionstheorie zwar inhaltlich den Kreationisten oder eventuell auch der gender-Theorie widerspricht, dass aber genau dieselbe Evolutionstheorie das Erscheinen von Kreationisten und gender-Theorie erklären kann. Die Evolutionstheoretiker müssten sogar ihr eigenes Dasein evolutionstheoretisch begründen können.
Nur fangen Menschen wie Kutschera keineswegs an, Quastenflossler oder Pfeilschwanzkrebse von der Erde zu verbannen, nur weil diese Überbleibsel aus der Steinzeit sind. Evolutionstheoretiker konstatieren die Selektion. Sie betreiben sie nicht: wollten sie die Evolution betreiben, dann müssten sie zuallererst -: nichts wollen. Wenn Kutschera sich in die öffentliche Willensbildung einmischt (was er darf), dann nicht, weil es die Evolution so will, sondern weil er es will. Was daraus folgt, kann evolutionär erklärt werden, ebenso, wie es dazu kam. Aber es ist doch irgendwie nicht wirklich notwendig, oder?
Den Fehler, den Kutschera also begeht, ist folgender: aus der Notwendigkeit der Evolution schließt er auf die Notwendigkeit der Evolutionstheorie. Aber kein Mensch braucht, um zu leben, die Evolutionstheorie. Übrigens auch nicht die gender-Theorie. Warum wir beides haben (und warum ich beides für sinnvoll halte), muss also anders erklärt werden. Aber daran arbeite ich noch.

Vielen Dank.

(Und ich mache jetzt etwas ganz Evolutionsgemäßes und lege mich wieder ins Bett, weil ich zwischendrin beim Arzt war, etwas geschlafen habe, dann weitergeschrieben habe, dann gefrühstückt habe, dann ... naja, lassen wir das, ... ist ja eh alles nur Evolution.)

06.09.2015

Wochenfrage, Didaktisches und Methodisches

Neben vielen anderen Sachen habe ich heute zum ersten Mal wieder Wochenfragen „korrigiert“. Wer noch nicht weiß, was das ist: hier ist eine Erklärung.

Die Wochenfrage

Jede Woche bekommen meine Schüler (4.-6. Klasse) eine Wochenfrage, die sie schriftlich beantworten. Dafür gibt es einige Regeln, zum Beispiel einen formalen Aufbau, wie man ihn üblicherweise aus der Schule kennt. Ganz oben auf dem Blatt steht das Datum, die Wochenfrage wird selbstverständlich abgeschrieben. Zwischen der Frage und der Antwort muss eine Zeile freigelassen werden.
Die Antwort soll als vollständiger Fließtext verfasst werden. Das ist die erste Bedingung. Als Fließtext ist eine Norm gemeint, die schwer zu beschreiben ist: wichtig ist hierbei der Textzusammenhang und ein relativ einheitliches Thema, zu dem ein Beginn und ein Abschluss (sobald sich die Schreibfähigkeit der Kinder etwas gefestigt hat, erkläre ich das so: es muss einen Satz geben, mit dem du den Leser deines Textes willkommen heißt, und einen Satz, mit dem du ihn verabschiedest; und dann dürfen sich die Kinder verschiedene Texte mal anschauen und vergleichen, Nachrichtentexte, Kurzgeschichten, Märchen, usw.: meist fällt den Kindern dann von selbst etwas ein, was sie als Einstieg und als Abschluss nehmen können).
Mir ist es wichtiger, dass die Kinder ein Gefühl für gute Texte bekommen, deshalb bin ich beim Fließtext relativ großzügig; kleinere und größere Probleme bespreche ich mit den Kindern persönlich. Auch das Wort vollständig ist nur vage beschreibbar. Hier schaue ich vor allem darauf, was die Kinder bereits an Textmustern mitbringen und gebe ihnen Hilfestellungen, wie sie diese differenzieren und ausbauen können.
Meine Wochenfrage der letzten Woche war:
Was war dein schönstes Ferienerlebnis?

Schreibplanung

Mindmap

Eine wichtige Sache bei der Wochenfrage ist die Schreibplanung. Hier führe ich eine Ideensammlung in Form einer Mindmap ein. Im Mittelpunkt steht das Thema, welches durch die Wochenfrage vorgegeben ist. Sobald diese Mindmap genügend beherrscht wird, werden am Schluss die wichtigen Einfälle durchnummeriert und dazu entsteht dann der Reihenfolge nach ein Text. Zu Beginn bin ich auch da mit den Kindern sehr großzügig. Einige haben doch recht große Probleme, zunächst ihre Gedanken frei fließen zu lassen. Hier helfe ich dann bei der Auswahl und gebe gelegentlich auch selber Ideen dazu (was man ja sonst bei einer Mindmap nicht tun sollte); die Kinder dürfen dabei aber auch einander helfen.
Dieser Arbeitsschritt, die Mindmap, ist für mich sehr wichtig, damit die Kinder sich vorher eine Idee davon machen, was sie schreiben wollen.

Nutzen der Mindmap

Hier ist die Mindmap auch sehr viel mehr, als einfach nur eine Kreativtechnik. Im Erstellen einer Mindmap liegen sämtliche Möglichkeiten, Probleme zu lösen (und wenn man sich damit auskennt, erkennt man, welche Strategien das Kind nutzt und kann diese gelegentlich erweitern, indem man Vorschläge macht); man übt mit ihr aber auch die Gliederung eines Themas, die Einteilung in Beispiele, Themenkomplexe oder die Aufteilung von Ober- und Unterbegriffe. Schließlich wird damit die Einbildungskraft strukturiert und ein Thema übersichtlich gemacht.

Schreibplanung unterrichten

Zu Beginn lasse ich die Kinder ganz ohne Planung schreiben. Das ist nicht einfach nur eine Bequemlichkeit, oder um den Stoff zu reduzieren, sondern auch, weil ich zu Beginn die Texte gerne in Rohform diagnostiziere: ich möchte wissen, was die Kinder an Mustern, Satzbaumustern, Textmuster, Wortfeldern, usw. mit sich bringen.
Meist reicht dazu ein Text, um einen ersten, guten Eindruck von den Fertigkeiten der Kinder zu bekommen.
Dann, nach der ersten Woche, erstelle zu Beginn einer Schreibstunde mit den Kindern zusammen eine Mindmap an der Tafel. Die stärkeren Schreiber nutzen diese Mindmap als Anregung, die schwächeren als Vorgabe. Die schwächeren Kinder ermutige ich aber immer dazu, auch ihre eigenen Ideen noch dazu zu schreiben.
In der letzten Klasse haben sich dann die Lernwege sehr unterschiedlich gestaltet. Einige der Kinder haben sich eine Idee von der Mindmap genommen und dazu geschrieben, anderen konnte ich den Trick mit der Nummerierung zeigen. Hier kam es immer darauf an, ob die Kinder gerne geschrieben haben.

Bewertung

Rückmeldung

Viel wichtiger als die Noten finde ich die Rückmeldung in schriftlicher Form. Hierbei rede ich das Kind direkt an, in Form eines kleinen Briefs. Ich zeige dem Kind einige Stärken und einige Schwächen seines Textes; so kann ich das Kind ermutigen, aber auch herausfordern. Gelegentlich gebe ich etwas umfassendere Tipps, wie man einen Text schöner gestalten kann. Heute habe ich einer Schülerin etwas länger erklärt, wie man eine Beschreibung poetischer machen kann und habe ihr einige zusammengesetzte Adjektive und einige schöne Vergleiche als Beispiele aufgeschrieben.
Die Rückmeldung ist mir auch noch aus einem anderen Grund wichtig. Manche Kinder lesen recht wenig, andere haben einen sehr einfachen Satzbau und wieder andere machen bestimmte Fehler recht häufig. Mit der Rückmeldung bringe ich die Kinder zum Lesen, weil sie die Rückmeldung lesen wollen (hier vertraue ich auf den Gruppenzwang: viele Kinder sind "heiß" auf diese Rückmeldung, also laufen die anderen Kinder mit); ich zeige ihnen aber auch andere Möglichkeiten, Sätze zu formulieren, gleichsam als "Vorbild"; schließlich zeige ich ihnen aber auch, wie bestimmte Wörter oder grammatische Phänomene richtig geschrieben, bzw. richtig verwendet werden. Diese „Korrektur“ mache ich nicht deutlich; sie geschieht implizit.

Noten

Ich gebe viele Noten, gelegentlich bis zu 16 Noten pro Text. Damit kann ich den Kindern eine Art Profil bieten und ihnen zeigen, woran sie arbeiten müssen und was sie schon gut können.
Dabei bin ich allerdings gerne strategisch. Wenn ich denke, dass ein Kind einen bestimmten Aspekt seines Schreibens erst mal zurückstellen sollte, weil es ihm sonst zu viel wird, was er beachten muss, dann bewerte ich das einfach einige Zeit nicht, bis sich bestimmte Fähigkeiten gut verbessert haben. Dazu gehört dann auch, dass Kinder, die überhaupt nicht schreiben mögen, gelegentlich nur zwei Noten bekommen, und dass dies immer sehr gute Noten sind.
Ich lenke die Kinder also mit den Noten relativ stark in eine bestimmte Richtung.

Gespräche

Ein drittes Standbein der Bewertung sind die Gespräche, die ich zum Teil im Klassenverband, zum Teil unter vier Augen führe. Einzelgespräche führe ich dann, wenn ich die Kinder nicht beschämen möchte, oder wenn ein Kind bereits eine so individuelle Ausdrucksweise hat, dass dies für die meisten anderen Kinder zu komplex werden würde (und ich habe tatsächlich einige Kinder dabei, die in der fünften und sechsten Klasse ganz hervorragende, geradezu erwachsene Texte schreiben können).
Die Klassengespräche nutze ich zu verschiedenen Zwecken, mal, um auf ein besonderes Textmuster hinzuweisen, wie zum Beispiel ein besonders gelungener Eingangssatz, ein besonders schön formuliertes Beispiel, oder eine Rechtschreibschwierigkeit, manchmal aber einfach auch, um einem Kind ein besonderes Lob zu erteilen, weil der Text insgesamt besonders schön geworden ist, manchmal aber auch, um zu verdeutlichen, dass man mal einen guten, mal einen schlechten Text schreibt, und dass schlechte Texte kein Hals- und Beinbruch sind, vor allem nicht in der Grundschule.

Weitere Themen

Weitere Themen im Unterrichtsgespräch sind zum Beispiel Eigensinnigkeiten in Texten, zum Beispiel bestimmte rhetorische Figuren oder parodierende Einfälle. So hat zum Beispiel ein Mädchen ein Märchen von Grünhäppchen geschrieben. Dort hat Rotkäppchen ihr eigenes Märchen gelesen, und damit sie auf dem Weg zu ihrer Großmutter nicht vom Wolf gefressen wird, hat sie sich einfach grün angezogen und umbenannt. Natürlich ist sie dann auch prompt dem Wolf begegnet, der aber Grünes nicht isst. Problematisch ist es dann geworden, als Grünhäppchen zum Hasen kam. Was weiter passiert ist, dürft ihr euch ausmalen. Der Jäger hat auf jeden Fall einiges zu tun bekommen. Und die Klasse hat sich beim Vorlesen vor Vergnügen auf dem Boden gekugelt.

Auswahl der Wochenfrage

Die großen Textsorten

Wer meinen Blog kennt, weiß, dass ich mit den Begriffen, mit denen Texte eingeteilt werden, relativ unzufrieden bin. Als Text verstehe ich all das, was „für sich alleine steht“ und nicht ein einzelnes Wort ist. Bei einem Text ist also „irgendwie“ eine Grammatik „anwesend“. Ein Text wäre auch zum Beispiel eine Leuchtreklame an einem bestimmten Haus, wobei die Leuchtreklame durchaus aus einem einzelnen Wort bestehen kann. Der Text selbst bestimmt sich aus architektonischen Zeichen und der dazugehörigen Grammatik (und wer mir das jetzt nicht glauben will, der lese bitte von Umberto Eco: Einführung in die Semiotik).
Texte können aus einzelnen Sätzen bestehen: Maximen, Sinnsprüche, Haikus, usw. sind solche Texte. Manchmal können Wörter auf eine andere Art und Weise angeordnet werden, als durch die Grammatik, die wir in der Schule als Grammatik kennenlernen. Typisch dafür sind Listen, wie zum Beispiel Einkaufslisten (auch hier verweise ich auf ein Buch von Eco: Die unendliche Liste), aber auch Sammlungen (schön zu lesen dazu: Walter Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus).
Und ihr seht schon, dass ich noch nicht einmal angefangen habe, die typischen Textmuster zu benennen.

Textmuster

Textmuster enthalten manchmal verschiedene Textmuster (haha! etwas enthält sich selbst? was ist denn das für eine Logik?). Wenn man zum Beispiel den Wilhelm Tell von Friedrich Schiller liest, dann hat man ein Schauspiel gelesen; das Schauspiel ist natürlich eines der großen, bekannten Textmuster. Allerdings hat Heinrich Keller recht, wenn er sagt, wenn man den Wilhelm Tell in seine einzelnen Sätze zerschneidet, habe man 1000 Phrasen für den Kneipenabend (ich zitiere hier etwas frei). Eine bierselige Phrase ist natürlich auch eine Art Textmuster.

Pragmatische Textmuster

Allerdings gibt es in der Deutschdidaktik tatsächlich eine gewisse grundlegende, sinnvolle Einteilung der Textmuster, die erzählenden, die beschreibenden und die erörternden Textmuster. Bei den erzählenden Textmustern steht eine Handlungsabfolge im Vordergrund, bei den beschreibenden ein Sachverhalt, gelegentlich allerdings auch ein Ereignis (typisch in der Schule ist zum Beispiel die Schilderung eines Unfalls oder das Protokoll eines Experimentes), bei den erörternden ein Konflikt oder Problem oder Gegensatz. Es ist nicht ganz so einfach, denn diese drei groben Einteilungen können noch weiter differenziert werden nach bestimmten zentralen Aspekten, die im Schreibprozess beachtet werden. Dieses Modell der Aspekte des Schreibprozesses stammt von dem amerikanischen Psychologen Bereiter. Das möchte ich an dieser Stelle aber nicht erklären. (Wer jetzt gleich etwas Genaueres wissen möchte, sei auf das Buch Texte schreiben lernen von Jasmin Merz-Grötsch verwiesen.)

Abwechslung in den Wochenfragen

Bei der Auswahl der Wochenfragen versuche ich nun, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen diesen drei Textmustern zu erreichen; ausgewogen heißt hier, dass dies den Kompetenzen der Kinder entspricht. So nehme ich relativ selten Fragen zum erörternden Textmuster, und diese dann meist infolge eines Vorfalls oder eines Themas, das die Klasse besonders interessiert. Besonders wichtig sind die erzählenden Textmuster. Meine Wochenfrage von letzter Woche zielt auf ein solches Textmuster ab. Meine nächste Wochenfrage ist allerdings tatsächlich auf eine „gewisse“ Erörterung aus:
Was möchtest du im nächsten Schuljahr besser machen?

Zusätzliche Fragen

Ich habe einige sehr sehr starke Schreiber in der Klasse; ich erwähnte das bereits. Für diese halte ich zusätzliche Aufgaben bereit, die sie anstelle der üblichen Wochenfrage nehmen können. Die Wahl ist freiwillig. Hier lasse ich die Kinder zum Beispiel zu einem historischen Ereignis Stellung nehmen, oder ich gebe ihnen ein Bild, zu dem sie etwas erzählen können, oder das sie zu analysieren haben. Es gibt philosophische Fragmente, die sie in eigene Worte umschreiben oder mit Beispielen verdeutlichen können. Solche Sachen eben. Ich probiere dabei relativ viel aus.
Gelegentlich entstehen ganz hervorragende Texte. Manchmal merke ich aber auch, dass ich mit dem Schwierigkeitsgrad weit über das Ziel hinaus geschossen bin und die Kinder ganz andere Ideen im Kopf hatten und die Frage ganz anders beantwortet haben, als ich das wollte.
Die Kinder schreiben gerne zu Bildern. Auch dazu biete ich zusätzliche Aufgaben an, gelegentlich, wenn mir ein schönes Bild über den Weg läuft. Dies ist eine Aufgabe, die auch schwächere Schreiber gerne mal anstelle der üblichen Wochenfrage nutzen.

Aufgabe der Eltern

Gelegentlich hört man die Lehrer über die Eltern schimpfen. Ich habe keinen Grund zur Klage. Häufig besuchen mich Eltern in meinem Klassenraum, um über den einen oder anderen Text ihrer Kinder zu reden. Und das ist auch eine der Aufgaben der Eltern zu Hause, mit dem Kind über seinen Text zu reden, und sich zum Beispiel erzählen zu lassen, warum es das eine oder andere so geschrieben hat. Verboten sind allerdings Gespräche über ausschließlich formale Aspekte des Textes, mit Ausnahme des Satzbaus. Rechtschreibung, Zeichensetzung, Grammatik: das sind alles zweitrangige Sachen. Zunächst möchte ich, dass das Kind sich ausdrücken lernt.

Einbildungskraft und Schriftlichkeit

Dies hat einen sehr präzisen Grund. Auch in der höheren Grundschule neigen viele Kinder dazu, Texte zunächst rein inhaltlich zu lesen und zu schreiben. Die Reflexion auf das korrekte Schreiben muss nach und nach aufgebaut werden. Wenn man hier zu viel auf einmal macht, verwirrt und frustriert man die Kinder. Kinder schreiben Texte, um etwas mitzuteilen, und auch da kann schon einiges durcheinandergeraten, gerade wenn die Kinder aus bereits frustrierenden Schreiberfahrungen kommen, oder wenn sie es noch nicht so gewohnt sind, sich einen Text durchzuplanen: dann kann auch ein kurzer Text wie ein steiler Berg aussehen.
Die erste Aufgabe ist also, eine sichere Verbindung zwischen der Einbildungskraft und dem Schreiben zu schaffen. Gelegentlich sind Eltern da etwas zu eifrig und verlangen zu viel von ihren Kindern. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man dabei sehr geduldig sein darf. Nach und nach gehen die Kinder fast von selbst auf immer mehr Aspekte ihres Schreibens ein, mit den gelegentlichen Hinweisen, die ich während der Gespräche oder in der Rückmeldung gebe.

Regelmäßigkeit

Auf eine Sache jedoch dringe ich: dass Schreiben regelmäßig geschehe. Jedes Kind hat jede Woche eine Wochenfrage zu schreiben; absolute Pflicht! Dies ermöglicht mir auch, hier einen fortlaufenden Dialog mit jedem einzelnen Kind zu führen.

Rechtschreibung

Wem bisher die Rechtschreibung zu kurz gekommen ist: Auch hier gibt es eine wichtige, allerdings an das Schreiben angehängte Methode: falsch geschriebene Wörter, gelegentlich auch falsche Satzkonstruktionen, schreibe ich im Anhang an die Rückmeldung und die Benotung unter den Text. Diese Wörter schreiben die Kinder zweimal ab; die korrekte Satzkonstruktion wird einmal abgeschrieben. Hat ein Kind seine Lieblingsfehler, bekommt es von mir eine Eselsbrücke gebaut.
Diese Methode funktioniert hervorragend. Ich habe, ohne großartig weiteres Rechtschreibtraining in meinen Klassen zu machen, tolle Fortschritte bei den Kindern auch in der Rechtschreibung erlebt. Ein Schüler, der noch im letzten Dezember zahlreiche Rechtschreibfehler begangen hat, ich glaube, es waren einmal in drei einfachen Sätzen 14 Stück (was ja irgendwie auch eine Kunst ist!), hat mir in der letzten Woche einen Text mit sechs Sätzen geschrieben und nur noch sieben Rechtschreibfehler. Dabei sind die Rechtschreibfehler mittlerweile regelhaft, wodurch man sie gut abtrainieren kann, zum Beispiel durch Eselsbrücken oder einleuchtende Erklärungen. Ein anderer Schüler, dessen Texte man zu Beginn kaum lesen konnte, schreibt jetzt zumindest lesbare Texte.

Gruppenarbeit, Fehlerfreundlichkeit

Allerdings muss ich dabei sagen, dass ein wichtiger Aspekt beim Rechtschreibtraining auch das gemeinsame Arbeiten in kleineren Projekten ist, und dass ich hier dulde, wenn sich die Schüler gelegentlich in der Weise helfen, dass ein stärkeres Kind einem schwächeren seine Texte aufschreibt, und dass das schwächere Kind diese Texte dann abschreibt.
Und ein letzter Aspekt ist mir besonders wichtig: ich sage meinen Kindern immer, dass ein schöner Text sehr viel mehr wert ist, als ein richtig geschriebener Text. Einen Text richtig zu schreiben, das kann man hinterher immer noch, aber ihn schön zu schreiben, das muss man aus dem Gefühl heraus im Moment machen. Hintergrund dieser Aussage ist natürlich auch, den Schülern die Angst zu nehmen, sie zunächst auf das Schreiben zu fokussieren und die Verknüpfung von Einbildungskraft und Schriftlichkeit zu fördern, wie ich bereits oben geschrieben habe.

Gabriele meint … (Xavier Naidoo abrupt)

Gabriele, eine liebe Kollegin, meint, mein Text über gender-Macht höre zu abrupt auf.
Ich schrieb zurück:
Ja, stimmt: ich habe gemerkt, dass mich dieses Thema immer noch drängt, aber ich hatte es eigentlich beiseite gelegt, weil ich ein paar politische Philosophien lesen wollte, bevor ich weiter darüber schreibe. Ich habe zwar fleißig Werke gekauft, aber die wenigsten bis heute gelesen. Ich hatte einfach keine Zeit. Wie auch immer: als ich zu Xavier Naidoo kam, ergriff mich die Unlust. Zu solchen Menschen würde ich gerne anders schreiben können, drängender, intensiver, boshafter.
Ich gestehe, dass ich mich bisher wenig mit der politischen Philosophie auseinandergesetzt habe. Es gab da mal ein wenig Sartre, aber zum Beispiel Foucault habe ich vor allem von der sprachwissenschaftlichen Seite aus gelesen, andere, wie Rousseau, waren eher Untersuchungsobjekte, als direkte Ideenlieferanten und Vorbilder.

Letztes Jahr hat es mich dann wirklich gepackt. Nein, eigentlich schon im vorletzten: neben den gesammelten Werken von Hannah Arendt kamen die Gefängnisbriefe von Antonio Gramsci, die gesammelten Werke von Machiavelli, einiges von Zizek, Ernesto Laclau, Jean-Luc Nancy und Chantal Mouffe dazu. Wenn ich mir allerdings überlege, wie ich bisher meine Philosophen gelesen habe, auch die Soziologen, dann eigentlich recht explizit unter dem Stern der Erkenntnistheorie, weniger der Politik. Dazu gehören auch Zizek und Nancy.

Ausschlaggebend für den Wandel war, dass ich nach vielen rhetorischen Analysen von Politiker-Reden gemerkt habe, dass mir eine reine Betrachtung der Redestruktur nicht mehr genügte. Natürlich habe ich mich auch vorher zur Politik geäußert. Das war aber mehr aus einem Alltagsverständnis heraus. Eine andere Sache, die mich an der politischen Philosophie interessiert hat, war ihre zentrale Kategorie: der Wille. Den Willen habe ich bis dahin ausschließlich von der Entwicklungspsychologie aus betrachtet. Ich denke aber, dass man sich viel von der Möglichkeit zur Reflexion nimmt, wenn man den Willen nicht auch politisch untersucht, denn schließlich ist der Individualwille womöglich der vergesellschafteteste Aspekt des menschlichen Bewusstseins.

05.09.2015

Kultivierte Einbildungskraft

Einbildungskraft, so hatte ich geschrieben, scheint die zentrale Kompetenz (so übersetze ich mal den Begriff des Vermögens, wie ihn Immanuel Kant benutzt) zu sein, die im Deutschunterricht gefördert werden muss. Einbildungskraft ist dabei ein recht alter Begriff; neuerdings heißt dies wohl Vorstellungsvermögen. Und angesichts der Schlampigkeit bei der Begriffsbildung sollte man hinzufügen, dass je nach Buch und Autor auch solche Begriffe wie Fantasie, Weltwissen, Imagination, und Ähnliches dazu gehören.

Der Sprung in die Grammatik

Grammatik in verallgemeinerter Form

Einbildungskraft ist nicht die eigentliche Sorge, denn diese hat ein jeder Mensch. Sie kann im Unterricht weder gefördert noch weggenommen werden. Ziel des Deutschunterrichts (und allgemeines Ziel der Bildung) ist das Ausdifferenzieren der Einbildungskraft; ausdifferenzieren heißt, dass man Strukturen bildet, einteilende, nicht notwendigerweise ausgrenzende Strukturen. Dies kann man dann als Grammatik bezeichnen, sofern man unter Grammatik die Regelhaftigkeit im Gebrauch von Zeichenmengen versteht, also zum Beispiel die Zeichenmengen, die in einem Comic auftauchen, ebenso solche in einem Film, aber auch sehr spezielle, wie zum Beispiel die, die in etwa das Genre des Krimis ausmachen, oder etwa typischen Zeichen, die einen Restaurantbesuch beschreiben, usw.

Produktive Grammatik

In der Deutschdidaktik wird diskutiert, ob die Grammatik eine Disziplinierungsmaßnahme sei. Das ist sie. Die Grammatik, die ein Kind in seiner Umgebung vorfindet, ist nicht von diesem gemacht. Es muss sich darin einüben, sich ihr unterwerfen.
Lehne ich also die Grammatik ab? Keineswegs. Man müsste sich eben die Gegenseite ansehen, wenn es keine Grammatik gäbe, unter die sich die Kinder zu unterwerfen haben: es wäre eine Einbildungskraft ohne Unterscheidungen (im schlimmsten Fall), also eine chaotische Masse, ein wirres, flüchtiges Aufblitzen von Sinnesdaten.
Natürlich ist die Grammatik auch repressiv, zugleich aber eben produktiv.

Sexuierte Körper

Vielleicht überrascht der Sprung von der Grammatik zur Kritik an den Geschlechtsverhältnissen. Formal gesehen ist die Argumentationsweise aber durchaus übertragbar. Butler zeigt, übrigens viel allgemeiner als nur in Bezug auf das gender, wie der kulturelle Körper konstruiert wird, indem diesem Handlungsfähigkeit zu- oder abgesprochen wird.
Und wenn Handlungsvermögen vorhanden ist, dann ist dieses paradoxerweise in den Möglichkeiten zu finden, die in der und durch diese unfreie Aneignung des regulierenden Gesetzes eröffnet werden, durch die Materialisierung dieses Gesetzes, die zwangsweise Aneignung und Identifizierung mit jenen normativen Forderungen. Das Formieren, Verfertigen, Ertragen, die Zirkulation und Signifikationen jenes sexuierten Körpers wird nicht in einer Reihe von Handlungen bestehen, die in Befolgung des Gesetzes ausgeführt wird; sondern es sind Handlungen, die von dem Gesetz mobilisiert werden, dass zitatförmige Akkumulieren und Verschleiern des Gesetzes, das materielle Wirkungen erzeugt, die gelebte Notwendigkeit jener Wirkungen ebenso wie die gelebte Anfechtung dieser Notwendigkeit.
Butler, Judith: Körper von Gewicht, S. 36

Die Vertreibung aus dem Paradies

Was Butler hier beschreibt, könnte man als eine Vertreibung aus dem Paradies bezeichnen. Hat man sich einmal auf den Körper und auf die kulturelle Regulation von Körperlichkeit eingelassen, ist eine Rückkehr schlechterdings unmöglich. Selbst der Protest gegen bestimmte Formen des Körperlichen ist erst möglich, wenn man implizit die Symbolisierung und Konstruktion des Körpers anerkannt hat. Genauso wenig ist aber ein Protest gegen die Grammatik möglich, ohne eine gewisse Abfolge strukturierter Wörter von sich zu geben. Der Protest selbst ist erst durch die Grammatik möglich.
Heinrich von Kleist hat dieses Dilemma ganz wundervoll in seinem Text „Über das Marionettentheater“ ausgedrückt:
Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?
Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe Bd. 2, S. 345
Der Baum der Erkenntnis, so muss man hinzufügen, steht im Paradies; dort war der Mensch unschuldig. Daraus ist er vertrieben worden; ein zweites Mal ist der Baum der Erkenntnis für ihn nicht erreichbar.

Zirkuläre Argumentationsweisen

Absichten

Klassische Logiken schließen zirkuläre Argumentationen aus: was vorausgesetzt wurde, darf nicht durch die Ableitung bewiesen werden, und was bewiesen werden soll, darf nicht vorausgesetzt werden. Diese Art der Argumentation ist im 19. Jahrhundert allerdings empfindlich gestört worden, nicht im rein naturwissenschaftlichen Gebiet, aber überall dort, wo man es mit Intentionen zu tun bekommt. Nicht alle diese Intentionen sind Intentionen von Bewusstseinen. Man kann, wenn man mit dem Begriff großzügiger arbeitet, auch im Gliederbau und der Anordnung der Gewebeschichten von Tieren Intentionen entdecken. So, wie der Wal beabsichtigt, im Meer zu leben, so beabsichtigt die Kuh Gras zu fressen. Es stehen wenig Alternativen zur Verfügung: durch die Evolution und durch die körperlichen Bedürfnisse haben sich bestimmte Vorlieben ausgeprägt und materialisiert.

Relationaler Zufall

Gerade aber die Evolutionstheorie sagt uns auch, dass solche Systeme zufallsempfindlich sind. Die zufällige Verstädterung Mitteleuropas erzwingt in gewisser Weise, dass Meisen und Füchse Kulturfolger werden. Zufällig soll heißen, dass weder Meisen noch Füchse die Verstädterung beabsichtigt haben (die Menschen allerdings schon: für diese ist die Verstädterung kein Zufall).

Verwirrungen der Zeit

Durch die Evolutionstheorie, aber auch durch den Marxismus, konnte nicht mehr abgewiesen werden, dass der Zufall für die Logik ein wichtiges Element bildet. Da sich aber der Zufall immer nur relativ zu Absichten definieren lässt, da solche Absichten Vorgriffe in die Zeit darstellen, wird die chronologische Zeit verwirrt, und jenes Vorher/Nachher rein physikalischer Ereignisse durcheinander gebracht. Die Vase zerbricht, wenn ein Ball gegen sie fliegt. Aber sie zerbricht auch, wenn jemand absichtlich einen Ball gegen sie wirft. So entsteht, über die Absicht, die Möglichkeit einer zirkuläre Argumentation.

Grammatik und Absicht

In diesem Sinne ist Grammatik ein wunderbares Instrument, um Absichten zu bilden und mitzuteilen. Sicherlich verhält sie sich repressiv in dem Sinne, dass sie zugleich bestimmte Erkenntnisse unterbindet und bestimmte Absichten ausschließt. Aber von der Grammatik ganz weg zu gehen hieße, auf Sprache zu verzichten, und allgemeiner auf die Welt zu verzichten.
So ist Einbildungskraft nur wirksam, wenn es eine (verallgemeinerte) Grammatik gibt. Gäbe es sie nicht, dann wäre die Einbildungskraft nutzlos, da sie nichts hätte, worauf einzuwirken es sich lohnen würde.

Kritischer Nachsatz

In letzter Zeit habe ich relativ wenig auf meinem Blog veröffentlicht. Mit ein Grund dafür ist, dass ich mich gerade mit Sachen auseinandersetze, über die ich noch nicht gut genug schreiben kann. Nun ist mein Blog keineswegs „wissenschaftlich“ oder sogar dogmatisch angelegt. Ich verstehe ihn als Anregung (und zu der Zeit, als ich noch selbstständig war, war er für mich natürlich auch die Möglichkeit einer Werbung), als offenes und kritisierenswertes Denken.
Ich möchte auf einige große Unsicherheiten hinweisen, die meine Argumentation betreffen. Alle Unsicherheiten betreffen derzeit Kant. Die erste Unsicherheit ist, dass die Synthese in der reinen Vernunft eine zeitliche Synthese ist; es werden also nicht einfach irgendwelche nebeneinanderliegenden Sinnesdaten zusammengefasst, sondern die Abfolge von Sinnesdaten: was dies allerdings bedeutet, kann ich im Moment nicht einschätzen. Eine zweite Unsicherheit betrifft die (berühmte) Erhabenheit. Diese bildet eine Art Grenze der Einbildungskraft. Nun habe ich in diesem und im vorhergehenden Artikel ständig von Grenzen gesprochen; im vorhergehenden Artikel sogar von einer absoluten Grenze. Inwiefern diese Grenzen miteinander zusammenhängen, inwiefern sie eventuell sogar gleich sind, habe ich mir noch nicht erarbeiten können. Zum letzteren fiel mir aber ein, dass die Idee einer radikal individualisierten Sexualität, oder, besser ausgedrückt, einer radikal individualisierten Körperlichkeit sich in Form der Erhabenheit ausdrücken müsste, also gerade nicht in einer Form, da die Erhabenheit unförmig ist.

Gender-Macht

Dummerweise bleibe ich mal wieder an anderen Sachen hängen, als denen, die ich dringend machen müsste. Die Woche über habe ich versucht, das Verhältnis von Einbildungskraft und Grammatik stärker zu beleuchten. Dabei bin ich, mal wieder, über meine Notizen zu Judith Butler gestolpert.
Wenn man sich, ich sage es noch einmal, die deutsche Diskussion zum gender-Mainstreaming ansieht, so bleibt diese undeutlich, halbherzig, mit einer in sich zerbrochenen Logik. Folgte man der einen Logik, müsste man von einer radikalen Vereinzelung des kulturellen Geschlechts ausgehen, was aber im Prinzip den Gedanken des Geschlechts vollkommen absorbieren würde: die gender-Theorie würde sich damit selbst auslöschen. Folgte man dagegen der anderen Logik, müsste man die Unterordnung unter Kategorien konsequent durchdenken, und würde damit wieder zu der Einteilung in Mann und Frau zurückkehren. Damit allerdings wäre das Ziel des gender-Mainstreaming in einen völligen Unsinn verkehrt.

Begrenzungen

Nun schreibt Judith Butler noch von einer anderen Grenze, die bei einer Ausarbeitung der gender-Theorie unbedingt beachtet werden sollte. Gelegentlich zitiere ich sehr gerne aus dem letzten Kapitel von »Das Unbehagen der Geschlechter«, in dem sie davor warnt, im Feminismus ein »phantasmatisches Wir« aufzubauen; ich habe auch darauf hingewiesen, dass dieses »phantasmatische Wir« sich mit der Beschreibung der weiblichen Geschlechterehre von Schopenhauer stark überschneidet, ein Witz übrigens, da Schopenhauer dem Feminismus lange Zeit als Feind galt.
Eine weitere Grenze, an der sich die gender-Theorie zu stoßen hat, ist die Analogie von Machtverhältnissen. Butler warnt davor, ungebremst überall die gleichen Mechanismen der Macht anzunehmen und damit zu glauben, man würde gleichzeitig gegen patriarchale, rassistische und kapitalistische Verhältnisse vorgehen, wenn man nur gegen die „Heteronormativität“ rebellieren würde. Butler schreibt:
Das Erfordernis, die heutige Macht in ihrer Vielschichtigkeit und in ihren wechselseitigen Artikulationen zu denken, bleibt selbst in seiner Unmöglichkeit fraglos wichtig. Und doch wäre es ein Fehler, dieselben Kriterien allen Kulturprodukten aufzuerlegen, denn es kann gerade die Parteilichkeit eines Textes sein, die den radikalen Charakter seiner Einsichten bedingt. Sich dafür zu entscheiden, die heterosexuelle Matrix bzw. die heterosexuelle Hegemonie zum Ausgangspunkt zu nehmen, birgt die Gefahr der Verengung – aber diese Gefahr wird eingegangen, damit diese letztlich ihre augenscheinliche Priorität und Autonomie als eine Form der Macht einbüßt.
Butler, Judith: Körper von Gewicht, S. 44

Radikale Grenze der gender-Theorie

Wie viele Passagen bei Butler ist auch diese von einer großen Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Angesichts bestimmter Butler-Fans, angesichts bestimmter Butler-Gegner, erscheint deren Anliegen als ein schlechter Scherz und genau als die Praxis, die Butler nie etablieren wollte. Butler betont ausdrücklich (und dies ist nicht die einzige Stelle), dass es unmöglich sei, die vielschichtigen Machtverhältnisse zur Gänze zu denken. Sieht man sich dagegen die Eindeutigkeiten an, die von bestimmten Feministinnen, aber auch von Politikern geäußert wird, dann wird hier gegen die Einsicht Butlers komplett verstoßen. Ich kann durchaus verstehen, dass sich viele Menschen gegen die Zumutungen des herrschenden Diskurses wehren: er ist platt und unintelligibel. Ob man dies dann allerdings in einem genauso plärrenden und greinenden Ton machen muss, bleibt dahingestellt. Ich jedenfalls bin mir für eine solch krude Gegenmeinung eindeutig zu schade.

Unintelligible Proteste

Genauso aber bleiben die Proteste unintelligibel, und die Ursache benennt Butler sehr präzise: der Protest gegen die „Heteronormativität“ (und ich bitte all jene, die mit der gender-Theorie nicht zurecht kommen, und sie eventuell sogar für unsinnig halten, zu beachten, dass ich dieses Wort in Anführungsstriche setze, es also als „uneigentlich“ benutze: es ist, angesichts der laufenden Debatte, kein Wort der Theorie, sondern ein Machtwort, oder, wie man im Volksmund sagt, ein Totschlagargument); ich beginne erneut: der Protest gegen die „Heteronormativität“ ist nicht zugleich ein Protest gegen den Rassismus. Dies wird alleine schon an dem sehr berechtigten Einwand deutlich, dass in vielen nicht-europäischen Völkern die Unterdrückung der Frau sehr viel offensichtlicher verläuft, als in Europa selbst. Der Kampf gegen den Rassismus wird daran nichts ändern. Auch dies kann man leicht nachvollziehen, wenn man beachtet, dass ein „Volk“ nicht gegen sich selbst rassistisch sein kann, aber trotzdem die Rolle der Frau normieren und homogenisieren kann.
Man kann das auch an einer Symbolfigur festmachen, nehmen wir zum Beispiel Xavier Naidoo. Eine dämlichere Verknüpfung von fundamentalistischem Christentum, pseudomarxistischer Protesthaltung und Anbiederung an rechtsradikale Positionen kann es doch eigentlich gar nicht geben. Eine solche Verknüpfung von undurchdachter Allparteilichkeit erscheint eigentlich nur noch psychotisch.

Was das ganze nun mit der Einbildungskraft zu tun hat und warum ich gerade auf Judith Butler gestoßen bin, mag ich in einem gesonderten Artikel erklären, da es hier nicht um die gender-Theorie geht, sondern um ein Thema aus der Deutschdidaktik.