20.09.2015

Schüchternheit

Eigentlich war es nur eine Notiz, gestern am späteren Nachmittag, etwas achtlos ins Mikrofon gesprochen. Einige meiner Schüler und Schülerinnen sind recht schüchtern. Vor allem in der 4. Klasse sitzen einige Kinder, die mit dem Klassenwechsel noch wenig zurechtkommen und still und leise mitarbeiten, so gut es eben geht. Vor allem ein Mädchen beschäftigt mich gerade, weil diese in meiner Gegenwart so gar kein Wort herausbringt (bei den anderen Lehrern aber auch nicht).

Sich selbst belehren

Meine erste Sorge in solchen Situationen ist, dass meine Wahrnehmung zu undifferenziert sein könnte. Ich begebe mich also, so oft es geht, auf die Reise in die Differenziertheit. Und so war es auch gestern Abend. Aus der kurzen Notiz ist ein kleiner Marsch durch die Literatur geworden, wenn auch ein noch sehr kurzer, denn ich bin an Marcuses Künstlerroman spätestens hängen geblieben und dort eigentlich auch an seiner Darstellung des Anton Reiser.
Mehr noch als früher bevorzuge ich seit meiner Lektüre von Tardes Gesetzen der Nachahmung die fragmentierte und vermischende Arbeitsweise, beides die zentralen Mechanismen, wie sich Neues in die Gesellschaft einschleicht. Die Fragmentierung zeigt immer nur einen Ausschnitt, lässt immer etwas weg, und erschafft dadurch neue Konstellationen, neue Gedanken, wenn auch oftmals erst später, wenn man mal wieder über seine eigenen Fragmente stolpert und sich des Zusammenhangs nicht mehr sicher ist.
Die Vermischung beruht dagegen auf bewussteren Entscheidungen. Auf der Suche nach den Zusammenhängen, nach den psychosozialen Funktionen der Schüchternheit, habe ich alle mögliche Literatur zusammengesucht, gerade so, wie es mir mein Zettelkasten zugeflüstert hat. Diese Literatur habe ich dann aber ganz bewusst durchdiskutiert.

Das soziale Erhabene

Tatsächlich wiederholen sich bei längerer Diskussion verschiedene Gedankengänge, drängen sich bestimmte Ideen immer wieder auf. So war gleich zu Beginn der Arbeit, als mein Zettelkasten mir eine ganze Menge Referenzen zum Wort "schüchtern" auswarf, der Komplementärbegriff "einschüchtern" dabei; er überwiegt sogar die Betrachtung der Schüchternheit selbst.
Was aber schüchtert ein?
Es ist seltsam: die Erhabenheit, die zunächst eine Funktion der Einbildungskraft ist, vielmehr der Widerstand gegen diese Einbildungskraft, wie Escoubas schreibt, wird von der Kultur wiederholt, von einer Vielstimmigkeit, die nicht mehr erfassbar ist, nicht mehr systematisierbar:
„Nun haben diese Disziplinen [Philosophie und Theologie] eine Flut von Literatur über die Funktion von Bildern in ihrem jeweiligen Gegenstandsbereich hervorgebracht und damit eine Situation geschaffen, die jeden einzuschüchtern geeignet ist, der sich einen Überblick über das Problem zu verschaffen sucht.“
Mitchell, W. J. T.: Was ist ein Bild? in: Bohn, Volker: Bildlichkeit. Frankfurt am Main 1990, S. 17-68, hier S. 21
Müsste man also eine dritte Art des Erhabenen postulieren, neben dem mathematisch Erhabenen und dem dynamisch Erhabenen: das sozial Erhabene? Dies wäre allerdings keine Naturgewalt, ihr liegt die Möglichkeit der Veränderung und Beeinflussung bei: damit entfällt die Unterscheidung, die Escoubas am Ende ihres Artikels zu Kant postuliert: die Einheit der Differenz des Heimlichen und Unheimlichen (Escoubas, S. 538). Stattdessen findet eine Entfremdung statt, ja, die Entfremdung könnte sogar als das postuliert werden, was diese Differenz unmöglich macht: das sozial Erhabene.
Die Kultur, folgt man diesem Gedankengang weiter, müsste nicht so komplex sein: Sie könnte viel einfacher sein. Aber sie ist es nicht. Viel zu viele Stimmen mischen sich ein. Das sozial Erhabene ist ein Zuviel von Meinungen, es ist ein Übermaß des Politischen.

Marcuses Anton Reiser

Ausweg aus dem religiösen Subjektivismus

In seiner Doktorarbeit behandelt Marcuse den deutschen Künstlerroman von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (die zur Zeit, als Marcuse seine Doktorarbeit verfasst hat, tatsächlich Gegenwart gewesen ist). Dieses Werk ist voll und ganz von einer historisch-materialistischen Dialektik durchdrungen. Mir ist diese Vorgehensweise zu eindeutig. Trotzdem sind es faszinierende Beobachtungen, die Marcuse vorstellt.
So zeigt er gleich zu Beginn, wie sich in den Anton Reiser eine bestimmte, spannungsgeladene Konstellation einschreibt, aus der heraus sich eine tragische Bewegung entwickelt, ein Künstlerwerden des jungen Reiser.

Religiöse Metakognition

Mich hat folgende Passage also gestern Abend etwas länger beschäftigt:
„Eingehend ist zu Anfang des »Anton Reiser« geschildert, wie schon bei dem Knaben der Gefühlsüberschwang die religiöse Deutung und Bindung als ungenügend überstürmt und weitere Nahrung und Erfüllung sucht. Wohl ergeht Anton Reiser sich nach den Anweisungen der Madame Guyon in ausführlicher Innenschau, in Unterhaltungen mit Gott und dem Jesulein, im Forschen nach Sünden, im Ertöten der Begierden – aber dies Gebaren trägt nicht nur kindlich spielerischen Charakter; es zeigt auch schon ganz jene weltliche Freude am selbstständigen Ich, jenes egozentrische Lebensgefühl, das im Sturm und Drang den religiösen Subjektivismus der Pietisten in die Wirklichkeit hinaufreißt.“
Marcuse, Herbert: Der deutsche Künstlerroman. Springe 2004, S. 24
Metakognition ist ein jüngst recht umworbener Begriff: dieser besteht nach einer etwas klassischeren Definition, aus drei Teilaspekten: dem Wissen um die eigenen Denkvorgänge in Form von psychologischen Begriffen, der Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Denken und schließlich der Fähigkeit, dieses Denken zu steuern und sein Potential auszunutzen. Zum letzteren gehören dann eine ganze Reihe von Techniken, wie etwa das Arbeitsbuch, das epistemische Schreiben oder die Mindmap.
Gelegentlich habe ich meinen Vorbehalt gegen eine jubilierende Übernahme dieses Begriffs geäußert. Unkritisch angewendet trägt er zu einer Selbstdisziplinierung der Menschen bei, zu einem Abtöten von kreativem und innovativem Potential.

Eine strukturierende Ideologie

Wir finden also eine Parallele zwischen dem religiösen Subjektivismus, aus dem Anton Reiser laut Marcuse ausbricht, und den disziplinierenden Maßnahmen, die eine Ökonomisierung des Denkens durch die Metakognition begleiten. Während der religiöse Subjektivismus nach der Sünde forscht, jagt die moderne Management- und Karriereliteratur nach der Funktionalität des menschlichen Denkens. Beides sind strukturierende Ideologien, die dem Menschen angedient werden. In gewisser Weise beerbt sogar der Begriff der Karriere den Begriff der Sünde.
Tatsächlich scheint der Begriff der Metakognition ein sehr enges Verhältnis zu Ideologie zu besitzen; es gibt in den verschiedenen Ideologien immer gewisse Menschenbilder, also ein gewisses Wissen um das Funktionieren der menschlichen Psyche, ebenso wie eine starke Aufmerksamkeit für die Leistungen einzelner Menschen innerhalb der Gemeinschaft existiert (und sei es als Zensur, die dafür aufmerksam ist, was ein Mensch nicht sagen darf). Schließlich findet man in Ideologien bestimmte ritualisierte Praktiken, bestimmte Ordnungen, die auf Handlungen und Aufzeichnungssysteme bezogen sind. Mithin sind dies die drei Bestandteile der Metakognition.

Der heimliche Lehrplan

Auffällig an diesem Zitat von Marcuse ist, dass die Metakognition vor einem ausgereiften weltlichen Denken entsteht. Die strukturierenden und disziplinierenden Maßnahmen laufen parallel zur Entdeckung der Welt. Nun hatten wir in den siebziger Jahren eine Diskussion um den heimlichen Lehrplan. Hier haben Soziologen entdeckt, dass die Schule nicht nur das offizielle Weltwissen vermittelt, sondern zugleich auch äußerst charakterprägend sein kann. In der Angst, man könne hier wieder Menschen heran erziehen, die zu den Verbrechen des Nationalsozialismus fähig seien, hat man so genannte Sekundärtugenden (Fleiß, Ordnung am Arbeitsplatz, usw.) hinterfragt und zum Teil über Bord geworfen. Was dabei gerne übersehen wurde, war, dass der Mensch sich selbst über den Umgang mit der Welt ordnet, dass er sich fortlaufend selbst diszipliniert, dass eine der wichtigsten Bereiche, in denen er sich diszipliniert, die Gemeinschaft ist. Seitdem wurde die Pädagogik aufmerksam für die Verfehlungen einer laissez faire-Erziehung, ebenso wie für die emotional verwahrlosten Kinder, die aus Elternhäusern stammen, die Kinder mehr als eine idealistische Vollständigkeit benötigen, denn aus Lust an der Fürsorge und Liebe für ein heranwachsendes Wesen.
Und umgekehrt ist die sozialistische Pädagogik, obwohl sie die bürgerlichen Werte zum Teil massiv abgelehnt hat, keineswegs ohne metakognitive Techniken ausgekommen. Im Gegenteil war die Überwachung und Disziplinierung der Schüler in Schulen aus sozialistischen Staaten wesentlich höher, als man dies aus westlichen Staaten kennt.

Die Einbildungskraft ausdifferenzieren

Doch das ganze beruht auf einem Missverhältnis: die Strukturen der Welt existieren nur als Strukturen im Kopf. Jeder Mensch konstruiert sich seine Welt nach den eigenen Bewegungen des Denkens. Dieses Denken hält sich an den Kontrasten und Oppositionen fest, die ihm von den Sinnesorganen nahegelegt werden. Ohne eine solche Strukturierung würde sich überhaupt kein komplexes Weltbild bilden; und ohne eine Ordnung des eigenen Handelns würde kein Mensch jemals etwas über seine Wirksamkeit in der Wirklichkeit erfahren.
Natürlich ist die Metakognition eine disziplinierende Maßnahme. Aber wenn es die eine Form der Metakognition nicht ist, dann übernimmt eine andere Form. Die Metakognition muss gar nicht explizit beigebracht werden; in gewisser Weise existiert sie ganz „natürlich“ in unserer Natur.
Ihr Ziel ist, so möchte ich behaupten, nicht die Ökonomisierung des Denkens; so wird sie zwar häufig, aber nicht immer dargestellt. Ihr Ziel ist vielmehr die Ausdifferenzierung der Einbildungskraft. Alle Aufzeichnungen, alle Notizen, alle Skizzen, die kleinen Kommentare, die vertraulichen Gespräche mit guten Freunden über eigene Ängste, Sorgen oder Fehlleistungen, all dies gehört in gewisser Weise zur Aufbau einer metakognitiven Kompetenz. Und auf der anderen Seite wird damit die Einbildungskraft verfeinert und die Achtsamkeit gegenüber der Welt erhöht.

Anleitung durch ein Phantasma

Was die Passage zum Anton Reiser auch noch ausmacht, ist, dass Marcuse zeigt, dass die Metakognition durch ein Phantasma, nämlich die Sünde, angeleitet wird. Die Sünde ist ein Ding, das nicht existiert. Sie ist, um es mit Kant zu sagen, eine Idee, die nur durch Beispiele illustriert wird, und die sich nicht aus der Welt durch Abstraktion ableiten lässt.

Subjektivismus und Egozentrik

In diesem Zitat stellt Marcuse dem Subjektivismus die Egozentrik gegenüber. Die Bewegung, die vom Text nahegelegt wird, ist eine aufsteigende. Mehrfach taucht die Vorsilbe ›über‹ und ›unter‹ auf. Zu dieser Opposition parallelisiert sich die Opposition ›innen‹ und ›außen‹, sowie ›oben‹/›unten‹ (was bei der ersten Opposition natürlich naheliegt). Der Mensch, sofern er unterdrückt wird, geht nicht nur in sich hinein, sondern stellt sich unter die anderen, er unterwirft sich. Und insofern der Mensch nach außen geht, erhöht er sich auch. Diese beiden parallel geführten semantischen Oppositionen finden sich recht häufig in der Doktorarbeit.

Die Emphase des Eingeengten

Die Außenwelt der Innenwelt der Außenwelt

Entlang dieser Opposition entfaltet Marcuse seine weitere Argumentation. Er wird darauf dann die große Opposition zwischen Wirklichkeit und »anderen Welten der Erfüllung« aufbauen (S. 25) und von dort aus zu einer ›erfüllenden‹ und ›nicht erfüllenden Wirklichkeit‹ übergehen. Doch zunächst unterstreicht er noch einmal emphatisch, wie die sozialen Umstände zu einer Dialektik des innen/außen führen:
„Doch wie sieht diese Wirklichkeit, nach der das Subjekt verlangt, aus? Ein Elternhaus, in dem Vater und Mutter ständig streiten und lärmen, in dem die Luft voll ist von Bußpredigten und Reue-Ermahnungen, wo Armut und Elend lasten. Die lieblos peinigende Behandlung macht in dem Knaben die Sehnsucht nach einer weiteren und schöneren Außenwelt, nach einer freien Entfaltung immer brennender: die kurzen Reisen nach dem nahen Pyrmont dünkten den Eingeengten schon eine Seligkeit. Ein inniges Bedürfnis nach Freundschaft und Gefährten verzehrt den Einsamen: aber misstrauisch und reizbar durch die Feindschaft im Elternhause, schüchtern und scheu in seiner zerrissenen Kleidung, findet er nirgends Gemeinschaft. So in der Wirklichkeit gehemmt und zurückgeschlagen, flüchtet sein reiches Gefühl in eine idealische Welt, in der es keine Enttäuschung zu fürchten hat und sich ganz entfalten kann: in die Welt der Bücher.“ (S. 24)
Innerhalb der Welt des jungen Anton existiert also bereits eine Art Außenwelt, wenn auch eine idealistische, keine pragmatische. Zwar kann man diese Unterscheidung anfechten, aber letzten Endes existiert trotzdem ein qualitativer Unterschied zwischen den verschiedenen Medien, eine ganz andere Form der Erreichbarkeit.
Der Unterschied zwischen der pragmatischen und der idealistischen Welt besteht darin, dass die idealistische Welt leicht erreichbar ist, und dass sie sich „beliebig“ gestalten lässt.

Schüchternheit

Anton Reiser muss sich als Kind entscheiden, entscheiden für eine Intensität des Denkens, für eine innere Reise, auch wenn diese innere Reise eng verflochten ist mit der äußeren Reise, wie sie in den Abenteuerromanen auftaucht, die das Kind verschlingt.
Schüchternheit ist demnach eine Verlagerung der Lebensintensität von außen nach innen. Das ist natürlich nur eine der möglichen Definitionen. Was bei Anton Reiser allerdings dazu kommt, ist eine zweite Art der Verdrehung von innen/außen: dies sind die Bußübungen und die Innenschau, also die religiöse Metakognition. Als Kind wird Anton Reiser vollständig in sich verdreht, werden innen und außen ständig vertauscht und immer wieder in Wechselwirkung gebracht.

Bußübungen und Abenteuerromane

Zwischen den Bußübungen und der Innenschau knüpft sich also ein Band der Kooperation. Es gibt verschiedene Schüchternheiten, solche, die durch Übungen gefördert und ausdifferenziert werden, die gleichsam von außen nach innen aufgenötigt werden, und die dann, weil es eine Gegenbewegung gibt („Freude am selbstständigen Ich“ (24), „wilden Hunger“ (25)), zu einer zweiten, weltlicheren Innenschau führt. Folgt man also Marcuse, dann ist die Schüchternheit ein Symptom für eine dialektische Bewegung, die auf einer feineren Ebene die Opposition innen/außen zunächst auf die eine, dann auf die entgegengesetzte Weise hierarchisiert, diese aber innerlich rekonstruiert, also innerlich bleibt, auch wenn sie von den Bußübungen zu den Abenteuerromanen geht.

Schluss

Obwohl Marcuse nur ein Teil der von mir diskutierten Literatur ausmacht, hat er doch die spannendsten Ergebnisse geliefert.
Schüchternheit ist demnach keineswegs eine Abwesenheit der Neugier, sondern eher eine Neugier, der der aktive Pol fehlt. Sicherlich: diese Antwort befriedigt mich nicht. Sie scheint verschiedene Formen zu haben, die sehr unterschiedlich betrachtet werden müssen. Soweit ich das bis jetzt überblicken kann, und dazu gehören Passagen von Nietzsche, Adorno, Barthes und Fromm, passiert bei der Schüchternheit etwas mit der Differenz innen/außen und zwar auf der Innenseite. Da Menschen sich sowieso innerlich rekonstruieren, sich ein Körperbild aufbauen und eine Theorie von dem eigenen Denken entwickeln, kann die Schüchternheit nicht auf eine Innerlichkeit der Äußerlichkeit reduziert werden. Hier muss noch etwas anderes passieren, damit ein Mensch als schüchtern wahrgenommen wird. Dies muss ich aber an anderer Stelle klären.
Insbesondere müsste ich aber den Passus zum sozial Erhabenen deutlicher einbinden. Ich denke, dass klar ist, warum ich diesen an den Beginn gesetzt habe. Eine explizite Diskussion wäre allerdings wünschenswert.

Keine Kommentare :