14.09.2015

Wochenfragen. Ver-siegen ...

Es ist mal wieder spät am Abend. Die zweite „Ladung“ mit Wochenfragen liegt korrigiert neben dem Schreibtisch. Dank meiner intensiveren Beschäftigung mit der Deutschdidaktik, allerdings auch dank einer immer differenzierteren Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft, habe ich noch mal einen ganz anderen Blick auf die Kindertexte gewonnen. Zudem helfen mir meine Erfahrungen aus meinem ersten Jahr an der Schule und meine ganzen Notizen. Anstrengend war das, aber lohnenswert.

Aus der Schule hinaustragen

Worüber ich mir in den letzten Tagen sehr viele Gedanken gemacht habe, war ein pädagogisches Prinzip, welches mir während meines Referendariats besonders bewusst geworden ist. Dort hatte ich einen Schüler in der Klasse, der am Ende der dritten Klasse kaum die Buchstaben zu den Lauten zuordnen konnte. Selbst einfache Wörter konnte er deshalb nicht lesen. In der folgenden Zeit habe ich mit vielen Materialien und kleinen Übungen die Phonem-Graphem-Zuordnung gefestigt.
Ich glaube, dass es vor allem unserer guten Beziehung geschuldet war, dass er sich nun intensiver mit den Buchstaben auseinandergesetzt hat. So hat der Schüler häufiger im Klassenzimmer gestanden und gefragt, welche Buchstaben wie ausgesprochen werden (wir hatten eine Anlaut-Tabelle rundherum im Klassenraum hängen). Irgendwann kam er an und meinte, er habe einen neuen Buchstaben entdeckt. Es handele sich um ein A, allerdings hätte dieses Pünktchen oben drüber. Ausgesprochen werde es aber wie ein E. Ich fragte ihn, woher er das wisse. Daraufhin erzählte er, dass er an einem Laden vorbeigekommen sei, in dem es Brot zu kaufen gäbe. Dort nun hätte er den neuen Buchstaben in einem Wort entdeckt. Daraufhin sei er in die Bäckerei gegangen und habe gefragt, was das für ein Buchstabe sei. Die Verkäuferin habe ihm das dann erklärt.
Ich habe den Schüler dann aufgefordert, den Buchstaben im Klassenraum zu entdecken. Und er hat ihn dann tatsächlich auf der Anlaut-Tabelle gefunden.
Kurz vorher hatte ich den Schüler darauf aufmerksam gemacht, wo er überall Buchstaben in seiner Umwelt finden könne, zum Beispiel auf Straßenschildern. Diese Verbindung hatte der Junge bis dahin scheinbar nicht vollzogen.
Dies waren, so scheint mir, zwei prägende Situationen, warum sich der Junge dann selbstständig mit der Schrift weiter befasst hat, und bis Mitte des vierten Schuljahres einigermaßen einfache Wörter lesen konnte.

Wöchentliches Schreiben

Das regelmäßige Schreiben ist zwar den Schülern auch gelegentlich lästig, prägt aber insgesamt die Qualität ihrer Texte enorm. Ein wichtiger Aspekt dabei scheint mir, dass die meisten Schüler an der gleichen Frage arbeiten. Dadurch entsteht ein reger Austausch. Im Moment ist ein gewisses Problem noch, dass die Schüler, die sich im Schreiben wenig zutrauen, gerne von einem Nachbarn abschreiben. Diese Entlastung lasse ich allerdings. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nach wenigen Texten bei den Schülern der Wunsch auftaucht, nun auch eigene Texte zu verfassen. Darin liegt auch ein gewisser gesunder Stolz.

Selbst-Qualifizierung

Eine der vordringlichsten Herausforderungen des Deutschunterrichts ist der Umgang mit impliziten Regeln und Sprachnormen. Schüler, die in die Schule kommen, haben bereits oftmals sehr elaborierte Satz- und Textmuster. Bevor sie also wirklich schreiben können, beherrschen sie bereits wichtige Werkzeuge des Schreibens. Anders als in der Fremdsprachen-Didaktik muss die Sprache nicht von Grund auf gelehrt werden. Vielmehr müssen die Schüler lernen, ihre sprachlichen Kompetenzen in den Schriftsprach-Bereich zu übertragen. Diese Verbindung muss mit einiger Geduld und viel Ermutigung aufgebaut werden. Erst nach und nach können dann weitere Normen und insbesondere eine Schriftsprachlichkeit unterrichtet werden.
Zunächst kann man aber den ersten und allerwichtigsten Schritt darüber erreichen, dass man den Schülern die Freude am Schreiben und den Sinn des Schreibens vermittelt.

Weitere Entwicklungen

Positiv überrascht war ich dann doch, dass sich einige Schüler, die zu Beginn meiner Lehrtätigkeit an meiner Schule als recht schwache Schreiber gezeigt haben, ihre gute Entwicklung über die Schulferien hinaus in das neue Schuljahr weiter getragen haben. So hatte ich zu Beginn ein Mädchen mit einer recht schweren LRS. Sie hat bis zum Ende des Schuljahres Bücher immer nur angefangen zu lesen. Die LRS hat sich bis zum Ende des Schuljahres mäßig gebessert. Ihre neuen Texte sind mit deutlich weniger Fehlern behaftet. Zudem hat sie in den Sommerferien drei Bücher gelesen. Auch ein Junge mit einer deutlichen LRS schreibt, allerdings in Bezug auf Ausdruck und Inhalt, deutlich bessere Texte als vor den Sommerferien. Die Rechtschreibung ist gelegentlich noch recht abenteuerlich. Doch die Texte selbst sind ganz wundervoll, zum Teil auch auf sehr dezente Weise ironisch. Und das ist eine Kunst, die viele erwachsene Autoren nicht beherrschen.

Begründungen

Natürlich war ich heiß darauf, diese Erfolge zu begründen. Die Methode der Wochenfrage ist ja nicht auf meinem Mist gewachsen. Meine Vorgängerin in dieser Klasse hat sie mir vererbt. Wir hatten leider viel zu wenig Zeit, über einzelne Aspekte zu sprechen, so dass ich mir viele Fragen selbst stellen und beantworten musste; und dies natürlich während des laufenden Schulbetriebs.
Erst in den Sommerferien konnte ich mich intensiver damit beschäftigen.
Ehrlich gesagt habe ich keine wirklichen Begründungen gefunden. Es gibt zwar Begründungen, doch scheinen mir diese zu kausal zu sein. Gerade in Bezug auf komplexe Systeme versuche ich Kausalitäten zu vermeiden. Dies ist ein Erbe, welches ich aus der Systemtheorie mit herumtrage.
Auch wenn man sich darauf einlässt, einem „Wirkungsfaden“ zu folgen, zerfasert dieser immer mehr und versiegt schließlich vollständig. Und schließlich muss man sich eingestehen, dass es keine wirkliche Ursache für die Verbesserung der Kinder in ihrer Textqualität gibt, auch wenn ich mir dies in narzisstischen Momenten gerne einzureden versuche und mich als Urheber imaginiere.

Ver-siegen

Von der wissenschaftlichen Seite aus gesehen ist dies ein schönes Hindernis. Mir wäre es ja lieb, hier genauere Angaben machen zu können, und sei es nur für mich, einfach, damit ich besser in die schriftsprachliche Entwicklung der Kinder eingreifen kann.
Diese Unfähigkeit (die ich mir keineswegs anlaste) hat mich an einen schönen Aufsatz erinnert: Les juifs font des interprétations errantes; Die Juden erstellen herumirrende Interpretationen. An genaue Inhalte erinnere ich mich nicht mehr. Es ist 20 Jahre her, dass ich diesen Aufsatz gelesen, eigentlich gründlichst studiert habe. Aber ein Kerngedanke ist mir hängen geblieben: zunächst erscheinen die Thora-Interpretationen wie eine frei flottierende, wenig auf Gründlichkeit bedachte Masse an Aussagen. Doch diesem Anschein widerspricht der Autor dann, indem er nachweist, dass eine kausale Interpretation nur scheinbar funktioniert und selbst genauso irrig ist, wie die Interpretationen, die gleich mit der Kausalität brechen. Und daraus schließt der Autor dann, dass die Thora und damit eigentlich jeder Text unendlich interpretierbar ist.
An einer Stelle habe ich in einer privaten Übersetzung das Wort ver-siegen benutzt. Zunächst habe ich dies ohne den Bindestrich geschrieben. Ich hatte auch keinerlei Hintergedanken dabei. Dann aber ist mir aufgefallen, dass es tatsächlich triumphale, scheinbar siegreiche Interpretationen von Texten gibt, der abgewiesene und abgewertete Interpretationen gegenüberstehen. Wenn es aber bei der Interpretation keinen Sieg gibt, ist das Wort versiegen als ver-siegen in seiner Doppeldeutigkeit äußerst sinnhaft.

Operationalisieren

Bei den Schülertexten ist mir aufgefallen, dass die Kinder besonders dann ermutigt werden, wenn man den geschriebenen Text als ein Teilstück eines Dialogs auffasst. Natürlich liefern die Kinder auch ein Produkt, auch den Endpunkt eines Prozesses. Meine Aufgabe ist es nun, diesen Endpunkt aufzugreifen und selber ein Produkt abzuliefern, möglichst eines, an das der Schüler wieder anschließen kann: zum Beispiel in Form einer schriftliche Rückmeldung. Dies hat viel mit der Operationsweise des Gehirns zu tun: es gibt, wenn das Gehirn einen Reiz verarbeitet, keinen wirklichen Endpunkt, keinen Speicher, kein Lager, wo man diesen Reiz dann in welch auch immer verarbeiteter Form finden kann. Bei der Arbeitsweise des Gehirns kommt es darauf an, dass der Reiz, indem er verarbeitet wird, zugleich das Gehirn verändert. Damit ist die Reizverarbeitung im Gehirn rein operativ. Und ähnlich ist es dann auch mit den Texten: die Themen kommen und gehen; aber im Hintergrund verändert sich die Schreibweise, die Haltung gegenüber den Texten. Schreibweise/Haltung bilden damit eine Art Äquivalent zum Gehirn.
Hier schließt sich der Kreis zu meinem anfänglichen Thema, dass der Pädagoge nämlich darauf zu achten hat, dass die schulischen Inhalte aus der Schule herausgetragen werden, damit die Schüler dort weitere Erfahrungen mit den Lerninhalten machen können. Genauso dürfen die Texte nicht als psychische Äußerungen der Schüler verstanden werden, sondern als Wegmarken in einer Vielzahl von Dialogen, die man „überall hintragen“ kann.

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