31.10.2015

Einstellungsgespräch I (Stephen King: Shining)

Gerade lese ich parallel Shining und Doctor Sleep, wobei Shining zu den ganz frühen, Doctor Sleep zu den ganz neuen Werken von Stephen King gehört. Es gab irgendwo vor Es eine Veränderung in Kings Schreiben, und dann noch mal eine, die man auf den Zeitpunkt datieren könnte, als er Das Bild und Insomnia geschrieben hat. Die allerneuesten Bücher von ihm kenne ich noch gar nicht. Es gibt auch noch andere Bücher, die ich parallel dazu lese, wie das immer bei mir ist. Zu einem Buch, einem Physik-Buch übrigens, welches mir Nico geschenkt hat, schreibe ich vielleicht heute auch noch etwas. An solchen populärwissenschaftlichen Büchern finde ich die Darstellung und die Verwendung rhetorischer Mittel immer sehr interessant, interessanter als in vielen Romanen.

Gleitende Erzählsituation

Ich hatte gestern Nacht geschrieben, dass bei Stephen King die Erzählsituation eigentlich nie auf ein Textmuster beschränkt wird. Um hier gleich einem Missverständnis vorzubeugen: das ist keineswegs ein Vorwurf und auch keine Abwertung der literarischen Qualität seiner Bücher. Tatsächlich findet man dies recht häufig bei allen moderneren Schriftstellern, deren Schwerpunkt auf dem Erzählen liegt, so zum Beispiel bei Vladimir Nabokov, Nadine Gordimer oder Joyce Carol Oates. Dies unterscheidet, so möchte ich behaupten, generell viele Romane des 20. Jahrhunderts von denen des 19. Jahrhunderts. Der Erzähler wird vielstimmig.
Schauen wir uns das an einem Beispiel an.

Seite 8

(1) Schmieriger kleiner Scheißkerl, dachte Jack Torrance.
(2) Er maß ein Meter sechzig und bewegte sich mit der (3) eilfertigen Gewandtheit, die offenbar allen kurzen Dicken eigen ist. Sein Haar war exakt gescheitelt, und sein dunkler Anzug wirkte nüchtern, aber irgendwie tröstlich. (4) Ich bin der Mann, zu dem du mit deinen Problemen kommen kannst, verriet dieser Anzug dem zahlenden Kunden. Den kleinen Angestellten sagte er etwas ganz anderes: Entweder ihr spurt, oder … In seinem Aufschlag steckte eine rote Nelke, vielleicht, damit niemand Stuart Ullman auf der Straße mit dem örtlichen Beerdigungsunternehmer verwechseln konnte.
(5) Während er Ullman zuhörte, gestand Jack sich ein, dass er unter diesen Umständen niemanden gut gefunden hätte, der ihm gegenüber am Schreibtisch saß.
Ullman hatte etwas gefragt, was ihm entgangen war. Das war schlimm; Ullman war genau der Typ, der sich solche Fehler merkte, sie im Gedächtnis behielt und später wieder gegen seinen Kontrahenten ausspielte.
(6) »Wie bitte?«
»Ich fragte, ob Ihre Frau weiß, auf was Sie sich hier einlassen. Und dann ist da noch Ihr Sohn.« Er sah auf das Antragsformular, das vor ihm lag. »Daniel. Bekommt Ihre Frau bei diesem Gedanken nicht Angst?«
»Wendy ist eine außergewöhnliche Frau.«
»Ist auch Ihr Sohn auch außergewöhnlich?«

Textmuster

Allgemeine Bemerkung

Der Beginn des Romans führt in eine konflikthafte, aber nicht ungewöhnliche Situation ein. King parallelisiert die äußere, wahrnehmbare Wirklichkeit mit der inneren Gedankenwelt einer seiner Figuren, in diesem Fall Jack Torrance. Das ist wohl das, was man Erzählperspektive nennen kann. Zwar wird kein einheitlicher Erzähler verwendet, aber die Perspektive scheint sich doch stark auf Jack Torrance zu konzentrieren. Und da wir, wenn wir uns selbst beobachten, in unseren Gedanken sowohl sehr persönlich gefärbte Kommentare zu unserer Umgebung als auch relativ objektive Beschreibungen finden können, scheinen wir also geneigt zu sein, einer Romanfigur dieselbe Bandbreite an Gedanken zuzugestehen. Formal gesehen müssten wir hier also penibler vorgehen; für das, was ich darstellen möchte, reicht aber zunächst die Feststellung aus, dass die Erzählperspektive bei Jack liegt.
Stephen King nutzt die Erzählperspektive aus, um existierende und mögliche Konflikte darzustellen. Ein besonders wichtiger Aspekt ist dabei die Wiedergabe der Gedankenwelt, die jeweils das äußere Geschehen kommentiert und aus den Romanen von Stephen King immer auch psychologische Romane macht. Damit sind wir aber schon mittendrin in der Beschreibung der Textmuster.

Bewusstseinsstrom und innerer Kommentar

Ich hatte geschrieben, dass bei Stephen King die Textmuster nicht über längere Passagen hinweg verwendet werden. Der Bewusstseinsstrom, der eigentlich ein ungebremster innerer Gedankenfetzen ist, taucht bei Stephen King häufig auf, aber selten geht er über einen Satz hinaus, weshalb ich diesem Textmuster einen eigenen Namen gegeben habe: der innere Kommentar.
Dieser Gedankenfetzen wird in den Text eingesetzt, wobei man häufig eher zurückgehaltene Redeanteile findet, also nicht den typischen Fortgang des Bewusstseinsstroms, der oft fragmentarisch und sprunghaft ist. Auch fehlt den inneren Kommentaren die Vielstimmigkeit, das Hin und Wider, bei dem sich der Erzähler innerlich positioniert, aber sowohl für als auch gegen etwas sein kann. Der innere Kommentar ist deshalb eher ein zurückgehaltener Dialog, der ausgesprochene Konflikte verdeutlicht und auf das Missverhältnis zwischen innerem Erleben und äußerem Geschehen hinweist.
Hier noch einige Stellen, an denen der innere Kommentar auftaucht (jeweils kursiv gesetzt):
Jack sah ihm über die Schulter und roch sein aufdringliches Parfüm. Alle meine Männer tragen Englischleder oder gar nichts, fuhr es ihm ohne jeden Grund durch den Sinn, und er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut loszulachen. (9)

Kannst du nicht wenigstens auf diese Anpreisungen verzichten?Aber er schwieg. Er brauchte den Job. (10)

Jack hielt die Hände im Schoß verschränkt und rieb sich die schweißnassen Finger. Schmieriger kleiner Scheißkerl, schmieriger kleiner … (12)

»Glaubst du, dass das Auto kaputt geht?«
»Nein. Das glaube ich nicht.« Aber jetzt hatte sie eine weitere Sorge. Danke, Danny. Das fehlte mir noch. (21)

Der moralisierte Bericht

Der ganze Absatz, vor den ich die Ziffer 2 gesetzt habe, der allerdings auch noch 3 und 4 umfasst, ist zunächst eine Wiedergabe des Wahrgenommenen, und damit eigentlich objektiv. Solche Berichte hält Stephen King immer recht knapp; und zugleich subjektiviert er sie, indem er wertende Adjektive (3) oder psychologische Allgemeinplätze (4) einfügt.
Tatsächlich ist der Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Beschreibung besonders gut an den Adjektiven auszumachen. Sinnliche Adjektive, zum Beispiel alle Farben, alle materiellen Zustände („Die Treppen waren steil und abgesplittert.“ (20), „Becher mit duftendem, dampfendem Tee“ (26)), verweisen auf eine objektive Welt und einen objektiven Erzähler. Wertende Adjektive dagegen, und von diesen gibt es wesentlich mehr bei Stephen King, referieren eine subjektive Welt und damit einen subjektiven Erzähler, einen, der in das Geschehen verwickelt ist.
Schon diese erste, kurze Passage zeigt von solchen Adjektiven eine ganze Menge: eilfertig, nüchtern, tröstlich, aber auch exakt. Dazu kommen Adjektive, die ebenfalls wertend sind, die aber eher auf eine gesellschaftliche Position hinweisen: zahlend, klein (was hier metaphorisch verwendet wird für untergeben), örtlich (was wiederum metaphorisch zu verstehen ist, da hier kein objektiver, physikalischer, sondern ein subjektiver, sozialer Ort gemeint ist, auch wenn sich solche Orte häufig ununterscheidbar übereinanderlegen).
Der moralisierte Bericht ist ein wesentliches Mittel von Stephen Kings Erzählweise; man findet diesen im Zyklus vom schwarzen Turm, den eher psychologischen Romanen und den fantastischen Romanen, in der frühen, wie in der späten Phase. Hier zeigt sich auch, warum ich einen solchen Vorbehalt gegen den Erzählkreis hege (mittlerweile). Er kann die Wirkung solcher kleiner Textstellen in Bezug auf die umgebende Szene oder den gesamten Roman nicht angemessen wiedergeben.
Tatsächlich muss man bei Stephen King sehr stark darauf achten, auf welche Weise der perspektivische Erzähler mit seiner Umwelt verflochten ist, und ob dies in seiner Tendenz distanzierend oder annähernd geschieht, also auf die semantische Opposition Nähe/Distanz achten.

Allgemeinplätze

King benutzt häufig Versatzstücke aus der Alltagspsychologie, aus dem Volksmund oder aus der Werbung. Er packt, wenn man diese frei ausdrücken will, eine psychologische Beobachtung in eine Sentenz (wobei für eine Sentenz dann die rhythmische und rhetorische Durchformung fehlt).
Irgendwo in Das Leben und das Schreiben erzählt King, dass er bei seinen Reisen durch die Staaten (seinen Lesereisen) in allen Raststätten, an denen erhielt, sich auf den Toiletten die Sprüche abgeschrieben hat. Toilettensprüche sind wohl so etwas wie das volkstümliche Pendant zu den Sentenzen, oder das vulgäre Pendant zu den psychologischen Induktionen/Diagnosen.

Doppelgänger und spiritus loci

Der Satz (4) passt zu solchen Allgemeinplätzen dazu; mich allerdings interessiert an diesem Satz eine ganz andere Sache, nämlich seine Symbolik. Der Anzug ist in seiner Wirkung sozusagen zweigeteilt, er ist sein eigener Doppelgänger. Tatsächlich korrespondiert diese Zweiteilung mit zahlreichen weiteren Zweiteilungen in Shining. Sie ist aber auch allgemein ein wichtiges Symbol des Horrorromans.
Ich erinnere hier an die Zweideutigkeit des Gefängnisses in vielen Horrorromanen, unter anderen aber auch der Serie The walking Dead. Das Gefängnis kann zugleich Zufluchtsstätte, als auch Ausgeliefertsein bedeuten, und damit gegensätzliche Bedeutungen annehmen. Genauso funktioniert aber auch das Overlook Hotel. Zugleich ist es eine sehr luxuriöse Architektur, aber eben auch ein Spukhaus mit einer schrecklichen Vergangenheit.
In Romanen, und nicht nur dort, neigen Orte zu einer gewissen Besessenheit; immer gibt es eine Art spiritus loci, der manchmal durch eine konkrete Person, manchmal nur durch eine Atmosphäre verkörpert wird. In Spukhäusern, bei Stephen King gehört aber auch sehr eindeutig die Stadt Derry (Es, Insomnia) dazu, neigen diese örtlichen Geister zu einer Art Schizophrenie, einer Bewusstseinsspaltung und damit zu zwei verschiedenen Persönlichkeiten. Vermutlich werdet ihr dies aber auch selbst, in eurer Umgebung, so erleben, so wie man zum Beispiel sagt: ich erinnere mich an das Büro meines Großvaters, wobei man sich weniger an die einzelnen Gegenstände in diesem Büro erinnert, sondern eher daran, dass dieses Büro untrennbar mit dem Charakter des Großvaters verbunden war.

Erleben und Erzählen

In der Passage (5) taucht am deutlichsten der Ich-Erzähler auf. Auf der einen Seite, dort, wo der Ich-Erzähler vollständig in den Zwang des eigenen Denkens übergeht, d.h. in den Bewusstseinsstrom, ist die Distanz zur Wahrnehmung fast vollständig aufgehoben. Das Erzählen ist distanzlos, unmittelbar, direkt. Auf der anderen Seite, dort, wo sich der Ich-Erzähler von seinen Erlebnissen zunächst zeitlich, dann aber auch moralisch mehr und mehr entfernt, wird die Erzählweise distanziert, reflektierend und häufig (pseudo-)philosophisch.
Wenn der Ich-Erzähler auftaucht, kann man diesen auf der einen Seite in ein erlebendes und ein erzählendes Ich einteilen; ich halte es allerdings für zweckmäßiger, hier auf die moralische Distanz zu achten, insbesondere auf die Selbstbewertung und auf die Gerechtigkeit, die der Erzähler seinen Mitmenschen zukommen lässt. In dieser Passage ist die moralische Distanz zwischen dem Erleben und (sich selbst) Erzählen kaum existent. Auch dies ist für den Spannungsroman üblich; eine moralische Distanz bedeutet immer, dass die Erzählung mittelbar wird. Dies beißt sich allerdings mit dem Spannungsaufbau, so dass der philosophierende oder moralisierende Ich-Erzähler in Thrillern und Horrorromanen nur sehr selten zu finden ist. Taucht er zu häufig auf, wie man dies dann doch manchmal findet, erscheint der Roman als langatmig und belehrend.

Moralisierendes Erzählen

Bei Stephen King findet man das moralisierende Erzählen eigentlich nur im Dialog. In diesem ersten Kapitel baut er dies tatsächlich am Ende des Einstellungsgesprächs ein. Dort sagt Jack in Bezug auf seine Alkoholprobleme:
„»Al hat recht, wenn er sagt, dass ich nicht mehr trinke. Früher tat ich es, und es wurde immer schlimmer. Aber in den letzten vierzehn Monaten habe ich noch nicht einmal ein Glas Bier getrunken. Ich beabsichtige nicht, Alkohol mitzubringen, und ich glaube nicht, dass man welchen beschaffen kann, wenn erst der Schnee fällt.«“ (18)
Fragen wir nach der Funktionalität dieses Selbstbekenntnisses, dann muss man die anderen, nachfolgenden Kapitel mit dazu nehmen. Hier wird nämlich deutlich, dass Jack seine Alkoholprobleme durchaus nicht überwunden hat. Jack präsentiert sich nur gegenüber Stuart Ullman als souverän. Und dies ist auch eine Wirkung, die das moralisierende Erzählen auf den Leser hat. Würde Stephen King dies nicht im Dialog, sondern direkt in seinen Text einbauen, würde er den Leser belehren. So etwas mögen Romanleser allerdings selten; deshalb ist dies auch mehr eine Textsorte, die man in der Bekenntnisliteratur oder esoterischen Ratgebern findet. Oder, aber das soll hier nicht unser Thema sein, in der humorvollen Literatur (dort aber meist übertrieben, zum Teil Groteske verzerrt, siehe zum Beispiel Walter Moers).

Zusammenfassen und Weglassen

Es gibt zwei Grundmechanismen im Erzählen, das Zusammenfassen und das Weglassen. Zusammenfassungen sind Anzeichen für einen zumindest distanzierten, wenn nicht auktorialen Erzähler. So kann der Erzähler größere Zeitspannen oder lange Wegstrecken in wenigen Sätzen überbrücken. Weglassen dagegen ist der Mechanismus des wahrnehmenden, bzw. erlebenden Erzählers. Es ist klar, dass diese zwei Arten sind, um Informationen zu raffen und zu manipulieren und so dem Leser genau die Informationen zukommen zu lassen, die er braucht, um eine Geschichte spannend oder romantisch oder humorvoll zu finden.
Spannungsromane nutzen eher das Weglassen. Ganz typisch gehört dazu die Anweisung Show, don't tell!, die sich auf die Sinnlichkeit innerhalb einer Situation und die konkreten Handlungen konzentriert, während sie alle weiterführenden Gedanken und Erläuterungen außerhalb dieser Situation weglässt. Dadurch wird die Szene lebendig, dramatisch, aber insofern offen, als alles, was den Rahmen dieser Szene abgibt, nicht thematisiert wird. Zumindest vor zehn Jahren hat man immer gehört, dass eine Szene sinnlich sein sollte. Das ist natürlich richtig; dabei hat man aber wesentliche Wirkungen dieser Anweisung nicht thematisiert, eben, dass sie eine Szene auch offen gestaltet und dadurch wiederum eine große Unsicherheit aufbaut, was weiter passieren wird, so dass der Autor überraschende Wendungen einbauen kann, während der Leser durch ein Zu-wenig-an-Information auf den Fortgang der Geschichte gespannt bleibt.

Die erlebte Rede

Abschließend benutzt Stephen King ein Textmuster, welches ebenfalls ein Merkmal des modernen Romans ist, auch wenn dieses wesentlich früher als der Bewusstseinsstrom auftaucht, etwa zur Zeit des bürgerlichen Realismus (ab 1860; deutsche Vertreter sind: Fontane, Storm, Meyer). Dieses Muster durchbricht die Gattungsgrenze zur Dramatik. Es besteht aus der reinen Wiedergabe dessen, was zwei oder mehreren Personen miteinander sprechen, so dass es wie ein Ausschnitt aus einem Theaterstück gesehen werden könnte, samt dem dazugehörigen Bühnenrand.
Tatsächlich, so hatte ich dies bereits im letzten Artikel gesagt, ist dieses Textmuster mit einem unkörperlichen Erzähler verbunden, also dem Gegenteil des reinen Ich-Erzählers.
Hier ist weniger interessant, was die erlebte Rede kann, welche Wirkungen sie hat, wenn man sie über längere Passagen hinweg benutzt, denn genau das macht Stephen King nicht, sondern dass die erlebte Rede dem erlebenden Ich direkt gegenüber steht (sowohl in Stanzels Erzählkreis als auch in meiner Modifikation). So lässt sich zu Kings Erzählweise vor allem sagen, dass er durch den Wechsel der Textmuster die Opposition von sachlicher Schilderung und persönlichem Involviertsein dramatisiert; zugleich baut er aber auch über einen distanzierendem Ich-Erzähler und einem objektiv berichtenden, und damit ebenfalls distanzierten personalen Erzähler eine Verbindung auf, die vermutlich für die Identifikation mit bestimmten zentralen Figuren seiner Romane besonders wichtig ist.

Zusammenfassung

Kings Erzählweise ist über weite Teile hinweg durch eine unmittelbare Erzählweise gekennzeichnet. Diese ist vor allem dadurch geprägt, dass der Erzähler sich scheinbar nicht bewusst ist, dass er erzählt. Vielmehr scheint die Sprache unmittelbar und direkt das Geschehen zu begleiten.
Trotzdem ist der jeweilige Protagonist der Situation nicht vollständig ausgeliefert. Er kann sich innerlich wie äußerlich von ihr distanzieren, greift handelnd in diese ein oder beobachtet sie zurückhaltend. Damit sind alle Textmuster, die zur Ich-Erzählsituation zur personalen Erzählsituation gehören, für die Gestaltung der Erzählweise tauglich.
Die Spannbreite an verschiedenen Erzählmustern ermöglicht eine Vielstimmigkeit, die sowohl zur psychologischen Tiefe einer Figur beiträgt, als auch zu einer sehr dynamischen, theatralisierenden Erzählweise. Geprägt ist die Erzählweise insgesamt aber durch eine starke Parallelisierung von äußerer und innerer Welt des Protagonisten, die mal eine abgrenzende, mal eine annähernde Tendenz spüren lässt.
Als Textmuster habe ich aufgeführt: den inneren Kommentar (eine Ableitung aus dem Bewusstseinsstrom), den moralisierten Bericht (eine objektive Schilderung mit vielen wertenden Adjektiven und gelegentlichen Einschüben von Allgemeinplätzen, bzw. Sentenzen), das erlebende und erzählende Ich (wobei letzteres nur im Dialog auftaucht, also nie direkt in der Kommunikation vom Autor zum Leser), das vom erzählenden Ich abgeleitete moralisierende Erzählen und schließlich die erlebte Rede.
Sowohl das erlebende Ich als auch der moralisierte Bericht verflechten Sachlichkeit und Subjektivität eng miteinander und dadurch die individuelle Betroffenheit des Protagonisten durch seine Umwelt. Er ist ihr ausgeliefert, sofern er nicht handelnd eingreift. Der sich durch Sachlichkeit distanzierende personale Erzähler und der sich durch moralische Wertung distanzierende Ich-Erzähler verbinden sich trotz ihrer Unterschiedlichkeit durch ein Pathos der Distanzierung und bauen dadurch eine Opposition zu der individuellen Betroffenheit auf. Vermutlich sind hier die Effekte der Identifizierung und des Spannungsaufbaus zu suchen und damit die eigentlichen Ursachen für die Wertung eines Romans als spannend.

Der Erzählkreis von Franz Stanzel, neu geordnet

Seit einer Woche kommentiere ich recht fleißig alte Kommentare zur Erzählsituation, aber auch erneut Bücher, so unter anderem einige Bücher von Stephen King, von Tolkien und natürlich Rowling. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass ich den Erzählkreis von Stanzel neu geordnet habe. Mit dem Erzählkreis war ich schon lange unglücklich. Erst habe ich ihn nicht verstanden (weil mir noch die alte und falsche Darstellung aus der Schule im Kopf herumspukte), dann habe ich, im Vergleich zur strukturalen Erzählanalyse Genettes auch mehr und mehr die Probleme gesehen, die dieses Modell mit sich bringt. Meine Änderungen sind nicht umfassend. Keineswegs lösen sie alle meine Bedenken. Aber einiges habe ich, hoffe ich, klarer formuliert.

Probleme mit dem Erzählkreis

Textmuster

Der Erzählkreis von Stanzel
Heute wollte ich, weil ich das bereits vor zwei Jahren versprochen habe, endlich mal von der Erzählsituation zu den typischen Textmustern der Erzählsituationen kommen. Notwendig erscheint mir dies, weil die Erzählsituationen für sich viel zu breit gefasst sind, viel zu viel beinhalten, um dem Schriftsteller wichtige Werkzeuge in die Hand zu geben. Vermutlich wurde auch deshalb die Erzählsituation so eingeschränkt dargestellt, weil sie ohne einen differenzierteren Unterbau einfach nicht praktisch ist. Die Textmuster liefern dazu die notwendigen Begriffe.

Mittelbarkeit

Dies allerdings ist ein äußerliches Problem, das dem eigentlichen Modell zukommt. Viel frappierender sind die Probleme des Modells selbst. Ganz zu Beginn seiner Darstellung schreibt Stanzel, dass sich eine Erzählung durch ›Mittelbarkeit‹ definiere; er meint damit, dass eine Erzählung die Welt nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar, eben durch das Medium der Sprache, darstelle. Dasselbe meinte ich, als ich heute Morgen schrieb, dass jede Erzählung Kommunikation sei.

Kommunikative Wende

Nun habe ich wieder ganz frisch begonnen, mich mit dem Erzählkreis zu beschäftigen. Seit gestern versuche ich diesen so umzugestalten, dass die Kommunikation in allen Bereichen ein wesentlicher Bestandteil ist. Dies wird bei dem bisherigen Erzählkreis nämlich nicht so deutlich. Hier gibt es auf der einen Seite die Erzählerfigur, auf der anderen Seite die Reflektorfigur. Diese Gegenüberstellung erscheint mir zu stark, da sie die beiden Pole so darstellt, als sei die Reflektorfigur und damit die personale Erzählsituation nicht zugleich Kommunikation.
Im Prinzip vollziehe ich damit einen Wechsel von einer auf die Struktur bedachten Darstellung zu einer die Wirkung in den Mittelpunkt stellende.

Die Reflektorfigur

Dies wird bei Stephen King besonders deutlich. Dieser bringt in seinen Romanen sehr häufig Textmuster der Reflektorfigur ins Spiel. Gleichzeitig aber nimmt er sich viele Freiheiten, wie er seine Erzählungen gestaltet, die nicht auf die personale Erzählsituation und damit auf die Reflektorfigur verweisen, sondern auf die auktoriale Erzählsituation und damit einen distanzierten Erzähler.
Wäre dies tatsächlich eine Disharmonie in den Werken von Stephen King, dann müsste man dies in ihrer (analytisch-theoretischen) Darstellung funktionalisieren können. Funktionalisieren heißt in diesem Fall auch, dass man daraus praktische Ratschläge für Schriftsteller gewinnen könnte. Dies aber ist mir bisher nicht gelungen, woraus ich schließen musste, dass das Modell nicht deutlich genug arbeitet, dass es verschoben werden muss, um mehr Tiefenschärfe zu gewinnen.

Die drei neuen Achsen des Erzählkreises

Der Vermittlungswille

Anstelle des Gegensatzes von Erzähler und Reflektor stelle ich den Vermittlungswillen und den Gegensatz von Ausdruck und Eindruck, bzw. von Anpassung an den Leser oder Anpassung an die Welt.
Der Erzählkreis, neu gestaltet
Der Erzähler ist damit in beiden Polen gegenwärtig. Das eine Mal allerdings erzählt er, um dem Leser eine Möglichkeit mitzuteilen, wie man mit der Welt umgehen kann, auch, wie man sie (medial) gestalten kann, während auf der anderen Seite die Welt in ihrem „Dasein“ dargestellt wird. Die eine Seite nimmt die Welt als Möglichkeit, daran sich in seiner Subjektivität auszuprobieren, die andere Seite, diese in ihrer Objektivität zu verstehen. Das eine Mal ist die Welt die Möglichkeit eines Ausdrucks, das andere Mal die Möglichkeit eines Eindrucks.
Dies ist nicht so weit entfernt von der Einteilung Stanzels.
Die Erzählerfigur wird ersetzt durch den Ausdruck, die Anpassung an den Leser, durch den Umgang mit der Welt, die bewusste mediale Darstellung und die subjektive Vermittlung.
Die Reflektorfigur wird ersetzt durch den Eindruck, die Anpassung an die Welt, durch das „Dasein“ der Welt und durch ihre objektive Vermittlung, durch ihre Unmittelbarkeit.

Die personale Erzählsituation

Es ist klar, warum die Reflektorfigur, bzw. meine „Neudefinition“, eine wichtige Rolle im Spannungsroman spielt und warum der Spannungsroman die personale Erzählsituation stark in den Vordergrund stellt. Dieser möchte unmittelbar wirken; der Leser soll möglichst vergessen, dass er einem Roman beim Geschehen mitfiebern. Der Leser soll die vermittelnde Instanz, die Sprache, vergessen. Damit soll er auch vergessen, dass es ein Erzähler ist, der den Roman erzählt. Und umgekehrt darf der Erzähler nicht darauf beharren, dass er sich ausdrückt, sondern muss sich zurücknehmen. Das Geschehen muss objektiv geschildert werden.

Die Körperlichkeit

Anstelle der Identität, bzw. Nicht-Identität der Seinsbereiche setze ich die Körperlichkeit des Erzählers. Auf der einen Seite ist der Erzähler körperlich in der Welt anwesend und damit in der Lage, dort zu handeln, auf der anderen Seite ist er unkörperlich anwesend und damit zur Handlung nicht fähig.
Ist der Erzähler in der Welt anwesend und handelt in ihr, haben wir die klassische Ich-Erzählsituation vorliegen. Auf der anderen Seite ist der Erzähler nur noch jemand, der schildern kann, was passiert; aber er leidet darunter auch nicht, da er keinen Körper besitzt. Zudem gewinnt er dieser Situation nach und nach wieder gewisse Freiheiten ab, die Welt so darzustellen, wie er es für nötig hält. Dieser unkörperliche Erzähler befindet sich zwischen der personalen und der auktorialen Erzählsituation. Man findet diese Form des Erzählers öfter in Falldarstellungen, zum Beispiel in der Darstellung von psychoanalytischen Sitzungen.

Die Freiheit

Als dritte Achse wurde von Stanzel die Opposition innen/außen und damit die Innenperspektive, respektive die Außenperspektive genommen. Diese ersetze ich durch die Freiheit und damit durch die Notwendigkeit, bzw. den Zwang auf der einen Seite und die Willkür, bzw. die Distanz auf der anderen Seite. Der auktoriale Erzähler, der auf der Seite der Willkür und Distanz zu finden ist, ist eben nicht der allwissende Erzähler, sondern derjenige, der seine Erzählung bewusst und mit großer Freiheit anbietet. Er ist in das Geschehen nicht involviert, gehört nicht zu der Welt, in der das Geschehen stattfindet, gehorcht nicht der Physik dieser Welt und auch nicht deren Psychologie, und kann deshalb von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit springen, kann seine Figuren kommentieren, sich direkt an den Leser wenden, und ähnliche Sachen.
Auf der anderen Seite findet sich ein Erzähler, der in die Welt involviert ist, der in ihr handelt, der aber kaum noch Freiheitsgrade besitzt und häufig getrieben ist oder nur reagiert. Hier findet sich die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms, die nicht umsonst von einem Autoren eingeführt worden ist, der sich stark der Psychoanalyse und der Darstellung von Menschen, die in ihrem Lebensumfeld gefangen sind, verpflichtet fühlte, von Arthur Schnitzler. Die beiden Geschichten Fräulein Else und Leutenant Gustl zeigen Menschen, deren Handeln nicht mehr aus ihrem Willen zu kommen scheint, sondern ihnen von ihren Trieben diktiert wird.

Die Erzählsituation bei Stephen King

Es gibt vermutlich nur wenige Erzählsituationen, die sparsam mit den dazugehörigen Textmustern umgehen. Stephen King gehört nicht dazu. Um einen Horrorroman zu schreiben, muss er auf der einen Seite schildern, wie ausgeliefert die Menschen in bestimmten Situationen sind. Zudem gehört zum Unterhaltungsroman die Unmittelbarkeit der Welt dazu: dazwischen darf das Medium der Sprache nicht auftauchen. Deshalb finden sich die Textmuster der personalen Erzählsituation besonders häufig bei ihm. Insbesondere gehört dazu das Textmuster, das Stanzel Kamera-Auge nennt; dieses kann man sich wie eine Kamera vorstellen, die bei dem Geschehen anwesend ist, aber selbst nicht mehr direkt eingreift.
Allerdings kann kein Spannungsroman diese Objektivität durchhalten. Immer gibt es einen Helden, der in dieser Welt handelt und sich handelnd mit ihr auseinandersetzt; und so ist es auch bei Stephen King, weshalb er oft zu Textmustern der Ich-Erzählsituation hinübergleitet. Diese zeichnen sich besonders durch das erlebende und das erzählende Ich aus. Das erzählende Ich taucht bei King allerdings nur in Dialogen auf, also wenn eine Romanfigur einer anderen etwas erzählt. Damit bleibt King bei Erzählweisen, die keine Distanz zu der Welt aufweisen, in der die Geschichte passiert.
Schließlich aber muss man feststellen, dass King sehr wohl seine Geschichte mit großen Freiheiten erzählt, dass er die Perspektiven wechselt, dass er zum Beispiel Versatzstücke von Gebrauchstexten, zum Beispiel Zeitungsmeldungen, in seinen Roman einbaut, und damit auch Techniken der auktorialen Erzählsituation verwendet.
All dies zeigt, dass King sich in seinem Erzählen nicht vorrangig durch formale Aspekte lenken lässt. Dies ist bei „klassischen“ Erzählern anders. Es gibt Geschichten von Hemingway, die ganz auf einem unkörperlichen Erzähler beruhen, wie zum Beispiel Katze im Regen. Oder Joyce, der das ganze letzte Kapitel von Ulysses als Bewusstseinsstrom erzählt.

Schluss

Nun bin ich noch immer nicht zu den einzelnen Textmustern gekommen. Wie ich oben schon gesagt habe, halte ich diese deshalb besonders wichtig, weil sie für den Schriftsteller praktisch zu handhaben sind und weil sie wesentlich besser zeigen, wie bestimmte Textabschnitte wirken können. Im Dienste einer aktiven Gestaltung und einer aktiven Auswahl der Leserwirkung wäre es sinnvoll, jetzt einige Romane zu diskutieren. Ich muss dies, mal wieder, auf später verschieben.

30.10.2015

Was tun?

Es gab einige, zum Teil besorgte Nachfragen, was mir im Moment geschehen würde. Ich danke für die Besorgnis: Sie ist unbegründet. (Aber sie hat den Effekt, dass ich mich gesehen fühle, dass ich mich wohl fühle. Darum danke ich.)

Schule

Wer es noch nicht gehört hat: in einer recht kurzfristigen Aktion, allerdings durch mein Zögern lange vorbereitet, habe ich die Schule, an der ich bisher angestellt war, verlassen. Grund war, dass ich mich nicht in das Team (welches Team?) integrieren habe lassen. Ich wollte es auch nicht. Inklusion sieht für mich anders aus.
Hatte ich vor, danach ein Lieblings-Nebenthema meines Lebens stärker in den Mittelpunkt zu stellen? Ja, das hatte ich. Ich wollte mich intensiver mit der Programmierung beschäftigen, Java, JavaScript, PHP. Aber die Buschtrommeln waren schneller als ich in meiner Entscheidung. Ich bleibe also Lehrer, und gehe nahtlos an eine andere Schule.

Einbildungskraft

Ich hatte meiner Schulleitung versprochen, mich intensiver mit der Methodik und Didaktik des Deutschunterrichts auseinanderzusetzen. Nicht, dass ich in den Sommerferien viel Zeit dafür gehabt hätte: von den sechs Wochen sind zweieinhalb für die Vor- und Nachbereitung besetzt worden. Eine weitere Woche habe ich gebraucht, um die Orientierungsarbeiten der vierten Klasse auf Herz und Nieren zu prüfen. Und in der restlichen Zeit habe ich tatsächlich so etwas wie ein Privatleben genossen. Übrig geblieben ist ein zentraler Bezugspunkt, den ich in einer Elternfortbildung ausführlicher dargestellt habe: das Schreiben und die Einbildungskraft (dies ganz klar an Immanuel Kant orientiert).
In den letzten zwei Wochen habe ich dazu wichtige Umwege beschritten. Insbesondere der Aufsatz von Eliane Escoubas (Zur Archäologie des Bildes. Ästhetisches Urteil und Einbildungskraft bei Kant. in Bohn, Volker: Bildlichkeit. Frankfurt am Main 1990) hat mich beschäftigt. Aber das sind nur Vorarbeiten, Vorarbeiten zu einer intensiveren Beschäftigung mit einer didaktischen Theorie.

Karl Marx

Entgegen populärer Meinungen halte ich Karl Marx für einen wichtigen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Wichtig, so sage ich, nicht wahr oder wahrhaftig. Wer Karl Marx ablehnt, ihn sogar nicht lesen möchte, ignoriert die Geschichte. Er (der Karl Marx nicht lesen möchte) ist gerade nicht frei von Ideologie, sondern verblendet (aber Karl Marx zu lesen heißt natürlich nicht, dass man deshalb einsichtig wäre). Und das sage ich nicht nur aus voller Überzeugung, sondern auch mit dem Bewusstsein, dass Karl Marx nicht recht hatte. Tatsächlich habe ich schon vor über 20 Jahren feststellen müssen, dass ich mich von seiner Philosophie in einer Art und Weise distanzieren musste, die wesentlich radikaler ist, als ihm vorzuwerfen, er habe die UdSSR und den real existierenden Sozialismus verursacht (Vorwürfe, die ich für völlig hirnverbrannt halte).
Trotzdem habe ich jetzt noch einmal mein Projekt post- und neomarxistische Theorie in Angriff genommen. Dazu ist mir aber kaum Zeit geblieben. Ich habe ein wenig in verschiedenen Aufsätzen herumgestöbert, verschiedene Notizen gemacht, Fragen gestellt, vorläufige Antworten gegeben, und bin von Marx zu Kant, Wittgenstein und Spinoza gekommen. Habe bei den Neurophysiologen herumgestöbert. Mich bei den Ethnologen versichert. Also lauter Arbeiten der Konnotation und Assoziation.

Was ist Kritik?

Die Kernthemen der politischen Philosophie sind zwar andere, die Frage nach dem, was Macht und was ein Vertrag ist, stehen im Vordergrund. Oder, was ein aktives Leben in der Gemeinschaft bedeutet. Trotzdem ist die Frage nach dem, was Kritik ist, ein wichtiges Thema. Auch damit habe ich mich beschäftigt. Unter anderem auch deshalb, weil die Gemeinschaft in einer Schule, vor allem in einer reformpädagogischen Schule, keineswegs ein erkenntnistheoretisches Thema, sondern vor allem ein ethisches und politisches Thema ist. Die Erkenntnistheorie muss davon abgeleitet werden, nicht umgekehrt. Genau dies scheint mir aber das Problem der Kollegen zu sein, die die Bildung immer noch als eine Art Objektivität betrachten. Wenn Bildung objektiv wäre, stünde tatsächlich die Erkenntnistheorie im Vordergrund. Da ich aber Bildung mittlerweile als subjektiv ansehe, ist die allererste Frage die Frage nach dem guten Leben.

29.10.2015

Erzählsituation und Erzählperspektive in Stephen Kings Shining

Vor über einem Jahr habe ich einen längeren Artikel zur Erzählsituation und Erzählperspektive geschrieben. Damit habe ich eine Arbeit wieder aufgenommen, die ich nach meinem Studium habe brach liegen lassen. Mein Unbehagen an dem Modell, welches man als Erzählkreis bezeichnet, und das vor allem dem Namen Franz Stanzel (Theorie des Erzählens. Göttingen 1991) verbunden ist, ist seitdem nicht verschwunden.

Kritik am Erzählkreis

Meine erste Kritik am Erzählkreis gilt gar nicht dem Erzählkreis selbst, sondern der Übernahme in der Schuldidaktik und dem Journalismus. Dort, wo Stanzel von Erzählsituation spricht, wird recht leichtfertig stattdessen von der Erzählperspektive oder dem Erzähler gesprochen. Die Erzählsituation ist allerdings kein normativer Begriff; er schreibt dem Autor nichts vor. Die Erzählperspektive ist – zumindest im Unterhaltungsroman – dagegen tatsächlich ein normativer Begriff. Verdeutliche, wer gerade das Geschehen erlebt!, so lautet die Maxime für den Unterhaltungsschriftsteller. Dies hat aber nur bedingt etwas mit der Einteilung in eine auktoriale, personale oder Ich-Erzählsituation zu tun.

Eine Erzählung ist immer Kommunikation

Ein zweites Problem, das ich mit dem Erzählkreis habe, ist, dass eine Erzählung, sei es ein kurzer Witz, sei es ein vielbändiges Werk, immer eine Kommunikation darstellt, also den Bezug von Autor und Leser erfordert. Da der Autor immer außerhalb der Welt seiner Figuren steht, gibt es in jedem Roman, in jeder Erzählung, auch in jedem noch so kurzen Witz, einen auktorialen Erzähler. Und dem widerspricht nicht, dass die ganze Erzählung lediglich die Welt abbildet, in der der Roman spielt und in der die Handlungen stattfinden. Der auktoriale Erzähler widerspricht keineswegs dem personalen Erzähler.
Dabei stütze ich mich auf die Einteilung von Erzählungen in eine diskursive, narrative und syntaktische Ebene, die der französische Literaturwissenschaftler Roland Barthes vorgenommen hat. Die diskursive Ebene bezeichnet die Kommunikation zwischen Autor und Leser. Auf der narrativen Ebene geht es ausschließlich um die dargestellte Welt und das erzählte Geschehen. Die syntaktische Ebene schließlich betrachtet den Fortgang der Erzählung von Satz zu Satz. Auch diese Einteilung halte ich für sehr schwierig, da gerade stark symbolische Erzählungen diese Ebenen ständig durcheinanderbringen. Dazu muss man gar nicht in den Bereich der Weltliteratur gehen (falls es so etwas wie Weltliteratur gibt), sondern kann sich an Schriftsteller wie Stephen King, J. R. Ward oder George R. Martin halten.

Das Shining

Schaut man sich den Roman Shining Bezug auf die Erzählsituationen an, schaut man ihn sich Satz für Satz an, merkt man schnell, dass man mit der Einteilung von Stanzel große Probleme bekommt. Besonders auffällig wird dies im vierten Kapitel, welches mit Schattenland überschrieben ist, und dessen Perspektive die von Danny, dem Sohn von Jack und Wendy, ist.
Zur Erinnerung, und falls jemand tatsächlich noch nicht die Geschichte von Shining kennt: ein Ehepaar zieht in ein einsames Hotel hoch in den Rocky Mountains, um dieses über den Winter hinweg vor größeren Frostschäden zu bewahren. Schon im Vorfeld verdichten sich die unheimlichen Vorzeichen, dass das Hotel von einem „Spuk“ heimgesucht wird. Insbesondere spielt der kleine Danny eine wichtige Rolle. Dieser verfügt über die Gabe des Shining, was man ohne große Mühe mit Hellsicht übersetzen kann. Seine Gabe orchestriert die Befürchtungen und Hoffnungen seiner beiden Eltern mit „realen Ahnungen“.

Personalisierung

Wenn man sich nun dieses vierte Kapitel ansieht, so findet man Zusammenfassungen (ein Zeichen der auktorialen Erzählsituation) und gewollte Überblendungen (auktoriale Erzählsituation), Berichte (personale Erzählsituation) und impressionistisches Erleben (Ich-Erzählsituation), also ein wildes Durcheinander. Insbesondere aber spielt die Ironie eine wichtige Rolle. In der Ironie wird eine „Allwissenheit“ der auktorialen Erzählsituation und eine erlebende Innenperspektive (ein dramatischer Monolog, der bedingt der auktorialen Erzählsituation gegenübersteht) miteinander kombiniert. Nimmt man die Einteilung von Roland Barthes, dann stellt man einen ständigen Wechsel im Schwerpunkt der diskursiven und der narrativen Ebene fest: Mal wird die Welt der Erzählung von außen, mal von innen betrachtet. Mal wird sie distanziert, mal parteiisch geschildert.
Stanzel ist weit entfernt davon, dieses Problem zu ignorieren. Anhand der Erzählung The garden party von Katherine Mansfield schreibt er zunächst:
Insofern hier dem Leser Informationen über die Arbeitersiedlung am Fuße der Anhöhe, auf der Park und Herrenhaus der Sheridans liegen, übermittelt werden, ist dieser Einschub als Teil einer leserorientierten Exposition durch einen auktorialen Erzähler zu betrachten. Das Summarische dieser Schilderung, die Hinweise auf die Zeit, als die Sheridan-Kinder noch klein waren, und der zusammenfassende Bericht über ihre späteren Eindrücke von ihren Streifzügen durch dieses ärmliche Viertel, unterstreicht den Berichtcharakter der Stelle, zu dem auch Außenperspektive und damals/dort-Deixis gehören. Das alles ist Teil des charakteristischen Erzählgestus einer Erzählerfigur.
Stanzel, Franz: Theorie des Erzählens. Göttingen 1991, S. 224
Doch zu derselben Stelle schreibt Stanzel einige Sätze später:
Vom Standpunkt dieser anonymen Reflektorfigur sind diese Überlegungen ein Geschehen „in actu“, in dem frühere Erfahrungen und Beobachtungen einzelner Mitglieder der Sheridan-Familie jetzt einen aktuellen Niederschlag finden. Es herrscht jetzt/hier-Deixis vor und Innenperspektive, etwa in dem Sinne, dass die Stelle wie ein Teil eines inneren Monologs (ebendieser Reflektorfigur) zum Problem … gelesen werden kann. Ein auktorialer Erzähler … müsste kraft der ihm verfügbaren Außenperspektive diese Befangenheit durchbrechen. Dagegen gehört es zum Wesen einer Reflektorfigur, ihre Subjektivität voll auszutragen.
ebd., S. 225
Stanzel schließt daraus:
Da diese Reflektorfigur keine existenzielle Basis in der fiktionalen Welt der Charaktere hat, muss sie als Verwandlung der Erzählerfigur, als mimikryhafte Anpassung an die Charaktere der Geschichte aufgefasst werden, eine Verwandlung, die wir als Personalisierung bezeichnen.
ebd., S. 225
Mit dem Begriff der Personalisierung bezeichnet Stanzel also vor allem die Verwirrung der Erzählsituationen, insbesondere aber die Vermischung der diskursiven Ebene (einer auktorialen Erzählsituation) und der narrativen Ebene (die selbst wiederum eine Vermischung der Ich-Erzählsituation und der personalen Erzählsituation ist). Ich werde darauf mit Sicherheit noch einmal ausführlicher zurückkommen. Zunächst aber können wir feststellen, dass weder die Erzählperspektive, noch die Erzählsituation dogmatisch gesehen werden dürfen.

11.10.2015

Nach Marx

Es gibt nur kleine Nachrichten, diesmal.

Schreiben

Wie immer schreibe ich sehr viel. Ich veröffentliche nur wenig. Derzeit arbeite ich wieder experimenteller. Ich hatte mir für die Sommerferien vorgenommen, dass ich beliebige Zettel aus meinem Zettelkasten zusammenstelle und diese dann zu Essais verarbeitete, einfach, um Verbindungslinien zu schaffen. Dann hatte ich in den Sommerferien viel zu wenig Zeit. Im Moment bin ich aber zumindest an einem solchen Text dran.
Erhofft hatte ich mir, dass diese wahllose Zusammenstellung eine Dissonanz erzeugt, die mein Denken noch einmal in eine andere Richtung weist. Aber ich glaube, dass ich solche Hilfsmittel gar nicht brauche. Dazu ist das, was ich lese, für sich schon viel zu heterogen.

Plotten

Auf der Fahrt zur Arbeit kann ich nur sehr schlecht lesen. Zwar habe ich rundherum kaum noch Zeit, so dass ich tatsächlich wesentliche Teile meiner Bücher doch während der Zugfahrt überflogen habe. Aber ich mag es nicht. So habe ich in den letzten zwei Wochen auch etwas anderes gemacht, nämlich kurze Geschichten skizziert. Die Arbeit ist nicht besonders befriedigend, weil ich nicht die Möglichkeit habe, mich mal ein paar Tage hinzusetzen und diese auszuformulieren. Andererseits mache ich mir während des Plottens viele Gedanken über die Texte meiner Schüler.

Willensbildung

Dies ist immer wieder mein Thema. Und das ist auch der Grund, warum ich mich eigentlich sehr intensiv mit der politischen Philosophie beschäftigen möchte. In den letzten zweieinhalb Jahren habe ich diverse Einführungen in Werke politischer Philosophen gelesen (Machiavelli, neben Platon und Aristoteles auch Menon und Kriton, Montesquieu, natürlich meine gute Hannah Arendt, Judith Butler), und auch einiges an Originalwerken. Immer wieder schweife ich auch in benachbarte Sphären ab, in die Anthropologie und die Ethnologie, in letzter Zeit scheint es mir auch, als müsste ich mich mal wieder intensiv mit der Psychoanalyse beschäftigen, insbesondere in den Bereichen, wo sie in Strukturen von Gruppen und Gemeinschaften hineinreicht.
Willensbildung umfassend zu betrachten erscheint mir deshalb so notwendig, weil die Psychologen die inneren Vorgänge zwar rekonstruieren, aber die äußeren Wirkungen eher wenig bedenken. Wenn allerdings der zentrale Auftrag der Schule die Erziehung zu Demokratie ist, dann steckt dahinter als Fundament die Erziehung zu einem demokratischen Willen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Lehrer (ich übrigens auch nicht) von diesem zentralen Erziehungsauftrag herzlich wenig Ahnung haben. Weshalb er in der Praxis ja auch so oft scheitert.

Nach Marx

Neulich habe ich so ausführlich über Marcuse geschrieben. Marcuse ist mir insgesamt wunderbar suspekt. Wenn er seine Ableitungen entwickelt, dann immer in der schönen Dialektik des historischen Materialismus. Diese Dialektik geht folgendermaßen vor: Sie bestimmt zwei Gegenspieler, beschreibt diese, entdeckt dabei die Widersprüche und die Gemeinsamkeiten, und stellt anschließend einen übergeordneten Zusammenhang her, der bei den gläubigen Marxisten allzuhäufig der Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft ist, d.h. ein in sich zerrissener Zusammenhang.
Nun sind die Argumentationslinien gerade nicht schlecht, sondern zum Teil richtig gut. Gute marxistische Theoretiker verwirklichen eine „reine Logik“, wie man sie sich von manchen Menschen, aber vor allem auch von ernsthafteren Journalisten und Akademikern wünschen würde. Marcuse darf als Vorbild empfohlen werden.
Solche mustergültigen Argumentationen täuschen aber darüber hinweg, dass die beiden Gegenspieler weniger gefunden als erfunden werden, so dass zu Beginn der Argumentation der Schluss schon feststeht. Demnach sehen die Argumentationen zwar nicht wie Zirkelschlüsse aus, bilden diese aber trotzdem. Nur weil ein Teil des Arguments weggelassen wird, heißt das noch nicht, dass der Zirkelschluss nicht besteht.
Wenn ich gelegentlich die Marxisten doch sehr lobe, wenn ich insgesamt mein Bedauern ausdrücken, dass ich diese zu wenig gelesen habe, dann deshalb, weil sich viele Hypothesen auch in anderen Theorien bestätigt finden (ich denke zum Beispiel an die systemische Elitetheorie oder an die Theorie der soziokulturellen Evolution).
So ein richtig aufrechter Marxist würde mich aber vermutlich in die Ecke des obskuren Kantianismus stellen. Zumindest würde ich das nicht als Beleidigung empfinden, denn dann hätte ich eine Gemeinsamkeit mit dem großartigen Michail Bachtin.

Jedenfalls habe ich mir jetzt einige Bücher von moderneren und interessanteren Ausprägungen der marxistischen Theorie bestellt.
Drei Bücher von Rahel Jaeggi gehören dazu (Nach Marx; Kritik von Lebensformen; Was ist Kritik?). Außerdem von Louis Althusser sein berühmtes Werk Für Marx. Schließlich noch von Martin Saar Die Immanenz der Macht, wobei dieses Werk die Wirkungen von Spinoza auf die politische Theorie beleuchtet.

04.10.2015

Werkzeugkasten für Geschichtenerzähler

So ganz nebenbei ich mal wieder über die Periodentafel des Geschichtenerzählens gestolpert: ein ganz wunderbares Instrument.

Und von mir gibt es hier gleich einen Tipp: unterhalb der Periodentafel findet sich eine Möglichkeit, wie man eine solche Geschichte in einer knappen grafischen Form darstellt. Probiert das selbst auch mal aus, anhand von Geschichten, die euch gerade faszinieren. Das ist natürlich eine Form der Simplifizierung. Aber solche Modelle dienen ja auch nicht dazu, die Realität zu beschreiben, sondern vereinfachen sie so weit, dass man selbst daran handlungsfähig wird.

Wenn ihr euch so einen Plot analysiert habt, dann tauscht ein wichtiges Element aus: das ist eine Form der Parodie (die auch ernsthaft sein kann: literaturwissenschaftlich wird eine Parodie als eine Geschichte definiert, die sich auf einer bekannten Geschichte aufbaut, so dass diese bekannte Geschichte unter der neuen Geschichte noch deutlich erkennbar ist). Parodien sind sehr typische Phänomene in der modernen Kultur: so erscheint die Geschichte von der Schatzinsel (Stevenson) in dem Walt Disney-Film Der Schatzplanet. In demselben Film taucht ein depressiver Roboter auf, der deutlich an Per Anhalter durch die Galaxis erinnert: auch dort gibt es einen depressiven Roboter. Und schließlich begleitet man in der Neuverfilmung von Star Trek (2009) den jungen, impulsiven Helden in einer Szene, die ähnlich dem Anfang aus Der Schatzplanet ist. (Und hier lassen sich noch 1000 weitere Beispiele anführen: der übermütige jugendliche Held ist ein typischer Archetyp der Mantel und Degen-Literatur.)
Von hier aus könnt ihr dann neue Plots ausprobieren. Plottet möglichst viel: gerade als Anfänger solltet ihr ganz häufig Synopsen erstellen, also Zusammenfassungen, die eine Geschichte vom Anfang bis zum Ende darstellt. Dazu gehören auch längere Fragmente, also noch keine fertigen Plots. Und natürlich könnt ihr auch schon Geschichten schreiben. Das Hauptaugenmerk sollte aber eine vollständig dargestellte, übersichtliche Geschichte sein: sonst fangt ihr eventuell an, mitten in der Geschichte herumzuschwadronieren, oder die Geschichte entgleitet euch und ihr brecht sie ab: um eine Geschichte „frei Schnauze“ zu schreiben und gut zu Ende zu bringen, dazu gehört viel Erfahrung beim Plotten.

Schaut euch auch die tvtropes an. Hier wird die Periodentafel ausführlich erklärt. Beides ist allerdings auf Englisch.