08.11.2015

Der Erzählkreis in politischen Texten

Mensch, Mensch, ist das ein Kuddelmuddel. Ich wollte nur am Rande mitlesen und mich auf zweierlei Sachen konzentrieren: die Mathematikdidaktik und die Arbeit mit dem Erzählkreis (neuerdings in Bezug auf Plotstrukturen).

Akif Pirinçci

Die Debatte um Akif Pirinçci hat mich dann aufgeschreckt, nein, eigentlich schon das Foto mit den Galgen, wie mich schon damals, als zum G7-Gipfel die Guillotinen hochgehalten wurden, ein derbes Frösteln heimgesucht hat. Nein, das ist nicht das Deutschland, in dem ich leben möchte. Das ist auch der Grund, warum ich Facebook meide. Ich kann, bevor mich die Feindseligkeit anekelt, schon diese Sprache nicht mehr ertragen.

Sich verweigern

Vielleicht ist mein Weg der falsche: ich habe Pirinçcis Rede im Wortlaut übertragen und durchzudiskutieren versucht. Aber wie immer, wenn es eine ungewöhnliche und ungeordnete Häufung rhetorischer Figuren gibt, kann man sich letzten Endes nur noch auf Spekulationen einlassen. Darin unterscheidet sich Pirinçci von unseren großen Lyrikern. Diese schaffen es, ihre Gedichte so zu schreiben, dass die rhetorische Ebene auf ein relativ eingegrenztes Themengebiet hindrängt. Bei Pirinçci schießen die picturae, Metaphern, Katachresen, Neologismen aber in alle Richtungen; nur eines bleibt als Grundkonstante übrig: eine unproduktive Feindseligkeit; und ein Mensch mit einem reaktiven Ressentiment, jedenfalls kein Kulturschaffender.
Trotzdem: ich werde mich dieser Diskussion wohl noch längere Zeit verweigern. Aber typischerweise habe ich ein wenig im Nietzsche gearbeitet, und, wen mag es wundern, hat sich unser großer Missverstandener (der Frauenfeind, dessen bevorzugten Freundinnen allesamt Feministinnen waren) auch zu der neuen Situation geäußert:

Ausländische Verwechslung

Machen wir also den Versuch, über die deutsche Tiefe umzulernen: man hat Nichts dazu nötig, als ein wenig Vivisektion der deutschen Seele. ... Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage "was ist deutsch?" niemals ausstirbt. .... "Gutmütig und tückisch" - ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben! Die Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrten, seine gesellschaftliche Abgeschmacktheit verträgt sich zum Erschrecken gut mit einer innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor der bereits alle Götter das Fürchten gelernt haben. ... Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an Allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit "fertig"; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde Verdauung. ... Der Deutsche lässt sich gehen, blickt dazu mit treuen blauen leeren deutschen Augen - und sofort verwechselt das Ausland ihn mit seinem Schlafrock.
Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, München 1993, S. 184-186.
Nun, soviel von dem Spötter.

Kritik

Die Frage nach der Macht gehört zu den zentralen Fragen der politischen Philosophie. Nicht ganz so prominent im Vordergrund steht die Frage nach dem, was Kritik sei. Rahel Jaeggi und Tilo Welsche haben dazu eine Sammlung von Aufsätzen herausgegeben (Was ist Kritik? Frankfurt am Main 2009), von denen ich bisher drei gelesen habe (Butler, Saar, Jaeggi); alle drei sind anregend. Für die Auseinandersetzung mit dem Pirinçci habe ich vor allem den Aufsatz von Butler (Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend) hinzugezogen. Der Aufsatz ist, wie gesagt, gut; aber er hat mich auch nicht wirklich umgehauen: vor zwanzig Jahren hat Wilhelm Schmid mit Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst eine wesentlich umfassendere, hervorragende Arbeit zu Foucault abgeliefert.
In Bezug auf die politischen Debatten, vor allem in Bezug auf ihre Atmosphäre, ist dieses Buch empfehlenswert.

Vielstimmigkeit

Wenn man länger mit dem Erzählkreis arbeitet, beginnt man automatisch über den "Ort" des Erzählers nachzudenken. Dieser Ort ist zwar nur eine Möglichkeit, über Texte nachzudenken, aber doch ein wichtiger. Pirinçci wechselt in seiner Rede recht häufig, und, wie ich behaupten möchte, unkoordiniert diese Position. Wenn Niggemeier schreibt, dass Pirinçci kein Redner sei, so ist das geradezu eine Freundlichkeit. Pirinçci sei deutscher als die meisten Deutschen (wie er mal selbst über sich gesagt hat!)? Nun, "der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos" (Nietzsche, a.a.O.).
Tatsächlich eignet ihm eine unkoordinierte Vielstimmigkeit, ein Widerspruchs-Geist, nicht so sehr nach außen, sondern nach innen. Nichts wird klarer, wenn man länger über diesen Sermon (seine "KZ-Rede") meditiert. Im Gegenteil! - hier Nietzsches "Schleichwege zum Chaos" zu zitieren trifft es ganz gut. Schließlich musste ich mir, wie ich oben schon geschrieben habe, eingestehen, dass die einzige Ordnung, die ich in seiner Rede erkennen konnte, die einer unbegründeten Feindseligkeit war. Ist das widerlich? Nein, nicht unbedingt. Es ist langweilig. Und das ist fast noch schlimmer. (Übrigens kenne ich Pirinçcis Herleitung der "rot-grün-versifften Politik", auch seine Behauptung von der "Verschwulung" unserer Kinder; nur bei der Wahrnehmung der Realität hapert es dann bei ihm ein wenig: von einer Umerziehung habe ich weder in meinem Unterricht, noch im Unterrichtsmaterial, noch bei den Kollegen, noch in Fachzeitschriften, noch in Dienstanweisungen etwas gefunden. Aber das ist nur noch ein weiterer Grund dafür, ihn langweilig zu finden. Und deshalb ist seine Feindseligkeit auch unbegründet.)

Zum Schluss: wie man die Struktur eines Codes versteht

Stephanie Schuler erläutert in ihrem Aufsatz Zahlen und Operationen (in Leuders, Juliane / Philipp, Kathleen: Mathematik - Didaktik für die Grundschule. Berlin 2015), dass der Aufbau von Rechenfähigkeit durch vielfältige Übersetzungen geschieht.
Etwas versteckt wird die Wichtigkeit von Übersetzungsfehlern behauptet:
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Übersetzungen dann gelingen, wenn Kinder ein inhaltliches Verständnis der Rechenoperationen aufgebaut haben, sie also über unterschiedliche Grundvorstellungen von Rechenoperationen verfügen und diese bei der jeweils geforderten Übersetzung aktivieren können.
Fehler weisen also darauf hin, dass entsprechende Vorstellungen noch nicht aufgebaut worden sind.
Dasselbe kann man allerdings auch im Deutschunterricht sehen; nur dass die literarische ebensowenig wie die Alltagssprache formalisiert sind. Im Rechenunterricht zielt man eindeutige Abbildungen innerhalb derselben Menge an, 3+4=7 wird innerhalb des natürlichen Zahlenraums abgebildet. Eine eindeutige Abbildung von Sprache auf Sprache gibt es dagegen nicht, weshalb man ständig die Realität mit dem Sprechen über sie verwechselt. So Pirinçci. Dagegen hilft nicht, eine bessere Sprache zu benutzen. Die gibt es wohl nicht. Man kann nur die mehr oder weniger fehlerhaften Übersetzungen vervielfältigen und so durch neue Übersetzungen ein Gespür für die Fehler alter bekommen. Und seine Einbildungskraft ausdifferenzieren, z. B. am West-östlichen Divan (der-wo-von-glaube-ich-Göthe-ist).
Etwas zu verstehen kann vieles, sehr heterogenes bedeuten. Das ist schon bei formalisierten Sprachen so, die nur dann formalisiert ist, wenn man die Abstraktion zur Zahl gründlich gelernt hat. Den monotonen Singsang, der eigentlich allen Deutschnationalisten eigen ist, jene versuchsweise Formalisierung der Alltagssprache, ist jedenfalls nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Darin unterscheiden sie sich nicht von den radikalen Islamisten.

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