24.01.2016

Indirektes Sprechen. Vielstimmigkeit bei Nietzsche

Dann bin ich doch noch bei der Philosophie hängen geblieben. Geärgert habe ich mich. Von Werner Stegmaier lese ich Friedrich Nietzsche zur Einführung. Dieser schreibt dort: „»jede Macht«, so Nietzsche in JGB 22, zieht »in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz«“ (127).
Betrachtet man aber jene Stelle bei Nietzsche, so ist dies einer jener Aphorismen, die Zweifel säen, ohne etwas Positives dagegenzusetzen. Sicherlich macht Nietzsche sich hier über die Physiker lustig und ihre moralische Auslegung der Naturgesetze. Den Physikern hält er dann eine unübliche Ansicht entgegen, aus der jenes Zitat oben stammt: doch nicht er lässt sich sprechen, sondern „jemand“ spricht.
Den Naturgesetzen der einen Interpretation hält er eine Vielfalt von Mächten entgegen, die sofort ihre letzte Konsequenz ziehen und damit dann als Regel aus der Welt verschwinden. Doch den ganzen Aphorismus schließt Nietzsche mit den Worten ab:
Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? – nun, um so besser. –
Am Ende steht der Zweifel, die Offenheit für eine dritte und vierte Interpretation.
Gleich zu Beginn des Aphorismus redet Nietzsche von schlechten Interpretations-Künsten. Wohl darf man den Text in die eine oder andere Richtung beugen, nachdem man ihn gründlich gelesen hat; aber ihn ganz herauszureißen aus dem Zusammenhang, dies erinnert doch sehr an einen Aphorismus von Nietzsche, den Stegmaier selbst zitiert:
Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: Sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Übrige und lästern auf das Ganze. (MA II, VM 137)
Das ist so schade: bei Nietzsche sprechen so viele Stimmen, so viele zärtliche und so viele gewalttätige, so viele dreiste und so viele vorsichtige, und über große Teile hinweg vermittelt dies Stegmaier auch in seinem Buch. Aber letzten Endes konnte er sich doch hier und da nicht über eine oberflächliche Geste hinwegsetzen und musste sie ausführen. Der einzige Trost ist, dass diese Stelle, die er mit groben Fingern und schweren Füßen auslegt, längst nicht so tauglich für die Massenmedien und den allgemeinen Pöbel ist wie jenes: Gehst du zum Weibe, vergiss nicht die Peitsche.

Lebenszeichen oder was?

Zwei Wochen lang hatte ich jetzt fast jeden Nachmittag Elterngespräche. Ich war (und bin) verschnupft, teilweise waren meine Stirnhöhlen dicht. Unangenehm. Ich arbeite weiter an der Mathematikdidaktik, allerdings auch viel an der Methodik. Das ist eine wunderbare Beschäftigung; gelegentlich ist es anstrengend, da ich ins Assoziieren komme. Dann entstehen viele Kommentare drumherum, mal zum kreativen Schreiben, mal zur rhetorischen Analyse, mal zu dem einen oder anderen Philosophen (viel Wittgenstein, viel Nietzsche).
Zum Lesen komme ich eigentlich gar nicht (sieht man von den Grundschulwerken für Mathematik ab). Neben meinem Schreibtisch liegt Königin im Exil, eine von George R. R. Martin und Gardner Dozois herausgegebene Anthologie von „Kurzromanen“ (es handelt sich aber eigentlich um Erzählungen). Zwei Erzählungen habe ich gelesen (die ersten beiden), beide waren in Ordnung; mitgerissen haben sie mich nicht.
Gestern Abend ein wenig Java programmiert. Es bleibt beim Niveau eines interessierten Laien; ansonsten müsste ich wohl mehr programmieren, mehr ausprobieren. Immerhin habe ich es geschafft, einen Kreis in einem Fenster zu bewegen. Das ist so eine Art Vorübung gewesen. Da ich mit meinem Texteditor zur Zeit nicht weiterkommen, da ich mich mit einfacheren Sachen herumschlagen sollte, habe ich jetzt vor, ein paar Sachen mit Grafik zu programmieren und mir mit dem Prinzip des OOP sicherer zu werden. Vielleicht werde ich dafür Zeit finden.

17.01.2016

Kritik und Norm

Wenn man die Politik oder die Teilhabe am Politischen in verschiedene Tätigkeiten einzuteilen sucht, dann steht die Kritik als ein relativ eigenständiges Gebiet da. Um dies deutlich zu machen, werde ich zunächst in aller Knappheit zwei normative Felder des Politischen umreißen: die Vertragslehre und die Tugendlehre.

Vertragslehre

Ein praktisches Gebiet der Politik ist zum Beispiel die Vertragslehre; der Staat hat etwa die Sicherheit von Verträgen zwischen Menschen zu fördern und sie bei Streitigkeiten in einen geregelten, nicht-gewaltsamen Prozess zu überführen: dazu dienen Gerichte (obwohl Niklas Luhmann schreibt, dass der Weg zu einem Gerichtsprozess auch durch Entmutigungsschwellen gebremst wird). Es gibt auch einen Vertrag zwischen dem Staat und seinem Bürger, der nicht ausgesucht oder gar abgelehnt werden kann. Schließlich existiert mit den Menschenrechten eine Art Nachfolger des Gottesrechtes: dieses band den einzelnen Menschen zunächst und vorrangig an Gott. Es wurde durch das Naturrecht, dann durch die Menschenrechte abgelöst.

Pflichten

Mit der Vertragslehre geht eine Fremdverpflichtung einher, der eine Selbstverpflichtung gegenüber steht. Der Mensch ist in dem Maße an fremde Pflichten gebunden, wie diese zugleich eine gewisse, gleichmäßig verteilte Freiheit gewährleistet. Freiheit drückt sich in einer Selbstverpflichtung aus, die auf eine bestimmte Form, sein Leben zu leben, zielt; man hofft dabei dann auf etwas Bildung und einen vernünftigen Gebrauch, zum Beispiel die Akzeptanz anderer Lebensformen, selbst wenn man sein eigenes Leben streng christlich leben möchte. Kant nennt dies (in etwa) sittliche Autonomie.
Freiheit besteht dann nicht direkt in einer Beliebigkeit, sondern darin, sich auf bestimmte Tugenden oder Ideen festzulegen und diese vorbildlich zu leben. Bei Aristoteles wurde dies noch durch die Ethik und deren Praxis, der Tugendlehre, abgedeckt, während in der Neuzeit Tugenden vor allem als Ideen begriffen wurden, denen sich ein Mensch verschreibt.
Aber genauso wie der Staat gegenüber seinen Bürgern zuverlässig zu sein hat, genauso, wie die Bürger, in Form des Gehorsams, dem Staat gegenüber zuverlässig sein müssen, so regeln die Tugenden die Zuverlässigkeit im zwischenmenschlichen Verkehr.

Kritik

Grenze zwischen Fremd- und Selbstverpflichtung

Die Grenzen zwischen der Fremd- und Selbstverpflichtung sind offen und strittig. Die Möglichkeit, eine Tugend zu leben, deckt sich nicht mit den Grenzen der Freiheit. Die Freiheit kann in ihren Grenzen nicht ausgenutzt werden: man kann nicht alle Instrumente spielen, nicht alle Bücher lesen, nicht alle Berufe ergreifen; man legt sich fest. Oftmals ist sie aber auch nicht vom Staat beschränkt, sondern von den ökonomischen Mitteln: mehr als eine Bildungsreise im Jahr gibt das Portemonnaie nicht her. Doch das fällt natürlich nicht in den Bereich der Tugenden. Man kann auch mit einem schmalen Geldbeutel Gebildetheit als Idee weitestmöglich verwirklichen.

Adressaten der Kritik

Kritik nimmt in dieser Konstellation einen merkwürdigen Status an: sie bezieht sich auf die Grenzen der Freiheit, denn mal erscheinen diese zu weit, mal zu eng; und sie bezieht sich auf die Verwirklichung dieser Freiheit, denn mal gebraucht ein Mensch diese Freiheit zu viel, mal zu wenig (aber es ist natürlich noch komplizierter: denn der Mensch kann sich gegenüber dem Staat und/oder gegenüber seinen Mitmenschen so positionieren, dass man es kritisieren muss).
Man kann dies ganz gut an der Debatte um die Flüchtlinge sehen: es gibt eventuell gute Gründe, gegen die relativ offene Einreise von Flüchtlingen zu sein; dies besagt aber noch nicht, dass man gegen den einzelnen Flüchtling etwas austragen darf, was man dem Staat anlastet. Mit anderen Worten ist die Kritik an Regierungsentscheidungen noch kein Rassismus; er wird es aber, wenn sie auf die flüchtenden Menschen verschoben und an diesen ausgetragen wird. 
Kritik richtet sich demnach nicht nach dem Thema, sondern nach den tatsächlichen oder möglichen Verträgen.

Mit oder gegen die Norm?

Verträge bilden mehr oder weniger andauernde Normen. Ein Kassenbon etwa ist der Vertrag zwischen Geschäft und Kunden, dass die Ware mit der Bezahlung dem Kunden gehört, das Geld dem Geschäft. Die Norm, die hinter diesem Vertrag steht, dürfte recht schnell vergessen sein. Im Grundgesetz etwa steht der Satz: "Eine Zensur findet nicht statt." Wohl aber kann sich eine Rechtsperson entscheiden, ein Buch wie Die große Verschwulung zu ignorieren und sogar aus einem puren Vorurteil zu ignorieren ("Ich lese keine Bücher von Möchtegern-Deutschen!", oder "Wir verkaufen keine Bücher von Menschen, die für Asylanten Gaskammern zurückwünschen."). Diese Norm jedenfalls ist auf Dauer gestellt; weder darf heute noch morgen zensiert werden.
Kritik positioniert sich gegenüber solchen Normen in mehrfachem Sinne: einmal ist der Sachbereich zu ausgedehnt oder zu wenig ausgedehnt (die bürgerliche Ehe muss auch für Homosexuelle gelten; Asylanten dürfen keinesfalls arbeiten); ein anderes Mal ist die Dauer zu lang oder zu kurz (Sexualstraftäter müssen lebenslang eingesperrt bleiben, das Kündigungsrecht von Nutzungsverträgen und Abonnements muss innerhalb von zwei Wochen möglich sein).
Kritik wird nicht von einer Norm bestimmt, sondern von dem Verhältnis zwischen Vertretern unterschiedlicher Normen. Häufig scheint es so, als würde der Kritiker eine absolute Wahrheit oder eine Art Naturgesetz vertreten. In Wirklichkeit behandelt er eine relativ schwierig zu bestimmende Beziehung zwischen sich und einem Vertreter einer anderen Art von Norm. Dies macht Kritik so schwierig zu fassen: sie betrachtet ein Verhältnis zweier Normen normativ. Ich bin mir bei diesem Argumentationsschritt zwar nicht sonderlich sicher, aber man könnte hier eine Vermischung logischer Ebenen befürchten.

Hetero- und Homonormativität

Wie befremdlich und wie verdrehend eine solche Kritik dann werden kann, kann man an dem Artikel sehen, mit dem David Berger Pirinçci verteidigt. Zwar kritisiert er die Homonormativität zurecht; mein schwuler Nachbar war vor drei Jahren mal so richtig genervt, als bei den deutschen Teenie-Mädchen Teen Wolf (die Serie) zu einem absoluten Hit wurde und jedes dritte Mädchen plötzlich einen gut aussehenden schwulen Freund haben musste. Aber stattdessen den Homosexuellen eine Heteronormativität zu unterstellen, ist auch nicht besser.
Ein anderer Aspekt betrifft die Sichtbarkeit von Homosexuellen. Dass diese in der Stadt sichtbar sein dürfen, heißt noch nicht, dass sie auf jegliche Art und Weise sichtbar sein dürfen. Die Sichtbarkeit von Intimität ist normiert. Sie wird bei Frauen und Männern unterschiedlich behandelt; schon das ist fragwürdig. Allerdings ist das Zeigen von Zuneigung zwischen Mann und Frau in der Öffentlichkeit oftmals großzügiger behandelt als zwischen zwei Männern. Ob umgekehrt auf einem öffentlichen Umzug wie dem CSD jegliche Art sexueller Praxis gezeigt werden muss, finde ich strittig. Ich halte es jedenfalls nicht für wünschenswert, wenn eine Tanztruppe erigierte Penisse durch die Gegend schwenkt, auch wenn diese nur aus Schaumstoff sind.
Natürlich muss man sich über die Normen der Sichtbarkeit unterhalten. Die Grenzen zwischen einer öffentlichen Akzeptanz und einer privaten Intimität sind aber sinnvoll. Ich muss mir nicht alles ansehen; manches kann ich auch akzeptieren, weil es irgendwo anders existiert.
Die beiden Beispiele zeigen aber, wie schwierig es ist, einer Normativität auszuweichen; es ist auch fraglich, ob dies überhaupt wünschenswert ist. Aber gerade das zweite Beispiel zeigt, dass die Normativität zwar restriktiv ist, aber dies weitestgehend für eine Allgemeinheit. Sexuelle Handlungen, die medial verbreitet werden, gelten immer noch als Pornographie und sind damit von einer frei verfügbaren Veröffentlichung ausgeschlossen.

Differenzierungen

Zugleich kann man an diesem Beispiel auch zeigen, dass die Kritik nicht dem ganzen Menschen gilt, sondern nur bestimmten Verhältnissen; so, wie es verschiedene Verträge zwischen denselben Menschen geben kann. Das Einverständnis, miteinander Sex zu haben, ist etwas anderes, als die Beobachtung sexueller Handlungen aufgedrückt zu bekommen. Und genau so, wie es mich nichts angeht, wie zwei andere Menschen miteinander Sex haben (obwohl es hier Ausnahmen gibt, im Falle von möglichen Straftaten), scheint umgekehrt diese unsichtbar bleiben zu müssen, damit sie mich nichts angeht.
Davon unberührt sind andere mögliche Verhältnisse und Verlässlichkeiten, die zwischen homosexuellen und heterosexuellen Menschen möglich sind; sollten diese kritisierenswert sein, müssten sie auf andere Art und Weise kritisiert werden als das Öffentlichmachen sexueller Orientierung.

Fazit

Auf eigenartige Weise stellt sich die Kritik quer zu Verpflichtungen, seien es Fremd-, seien es Selbstverpflichtungen. In gewisser Weise sind Pflichten absolut; sie relativieren sich durch die zeitliche Begrenzung. Die Kritik setzt solche Pflichten (oder Normen) in Beziehung.
Unklar ist mir, auf welche Art Kritik in solche Beziehungen eingreift. Kritik muss sich selbst auf bestimmte Normen verlassen. So jedenfalls habe ich es in der Vergangenheit gemacht: entweder habe ich mich bei den impliziten Normen der rhetorischen Analyse (oder einer anderen wissenschaftlichen Praxis) bedient oder bei den expliziten Normen der Menschenrechte. So scheint hinter jeder Kritik eine andere Norm zu stecken, so dass auch die Kritik selbst darauf beruht, eine Verpflichtung einzugehen.

Die Verteidigung Akif Pirinçcis

David Berger, Journalist und bekennender Homosexueller, verteidigt Pirinçcis Buch Die große Verschwulung. Seine Thesen allerdings sind fragwürdig, gelegentlich steil. Also noch einmal: Was ist Radikalisierung? Was ist eine Kultur? Was ist Political correctness? Und natürlich: Warum David Berger keine Kritik an Pirinçcis Kritikern übt, aber mit ebensolchen Suggestionen arbeitet wie Pirinçci selbst.

Radikalisierung

Als Radikalisierung lassen sich gesellschaftliche Bewegungen bezeichnen, die von einer argumentativen Vermittlung der Phänomene absehen und stattdessen mit Suggestion arbeiten. Zu ihren wesentlichen rhetorischen Mechanismen gehören abwertende und aufwertende Übertreibungen, also das Pejorativ und der Euphemismus.
Die Suggestion besteht auch darin, Fakten zu erfinden, die sich so nicht nachprüfen lassen.
Schließlich findet man sie auch in impliziten, nicht offen gelegten Tautologien.

Kultur

Kulturen lassen sich durch fraglos gewordene Regeln des Schlussfolgerns definieren: was fraglos geworden ist, gilt als verlässlich; was verlässlich ist, gilt als natürlich. Natürlich an dieser Verlässlichkeit ist vor allem, dass die Verlässlichkeit angenehm ist. Insofern sind nicht die Inhalte einer Kultur natürlich, sondern die emotionalen Wirkungen.
Was man derzeit beobachten kann, ist eine Abwehr von Gegenmeinungen, die die Verlässlichkeit der eigenen Kultur anheizt und gegen Einflüsse von außen immunisiert. Biologisch entspräche dem, dass es Tiere gäbe, die unabhängig von einem bestimmten Milieu existieren könnten.
An diesem Begriff der Kultur darf vor allem mitverstanden werden, dass sie sich nicht mit einem Nationalstaat in Deckung bringen lässt: es gibt keine deutsche Kultur. Bestimmte Denkweisen, bestimmte Feste (wie zum Beispiel der Karneval oder auch die Kirmes) sind in unterschiedlichen Regionen Deutschlands ganz anders besetzt; es gibt eine gewisse Homogenität durch leichtgängige Urteile, die aber in anderen Ländern ebenso existieren, also eigentlich übernational sind. Leider gehört die Fremdenfeindlichkeit auch mit dazu. Menschen mit höherer Schulbildung sind wiederum durch diese (und durch das Elternhaus) auf eine bestimmte Art und Weise geprägt, die eine andere Form einer transnationalen Selbstverständlichkeit mit sich bringt, also wiederum eine recht eigene Kultur. Kultur ist demnach nichts, was national wäre; und natürlich gibt es verschiedene Schichten der Kultur. In kleineren Dörfern, in denen jeder jeden kennt, entwickelt sich ein eigenes Gedächtnis, an dem die Dorfbewohner teilhaben, und damit natürlich eine gewisse eigene Kultur.
Bevor man also vollmundig von einer bestimmten Kultur spricht, sollte man genauer hinschauen, was dort jenseits der Bezeichnung existiert.

Political correctness

Dieser Begriff ist deshalb so unschön, weil er wenig besagt: das Politische ist seit jeher ein schwierig zu definierender Begriff. Dadurch wird auch die Korrektheit selbst völlig unklar; der Begriff insgesamt bleibt suggestiv, er definiert nichts und kann deshalb auch nicht in Argumentationen verwendet werden.
So ist es auch kein Wunder, dass sich unterschiedliche Lager gegenseitig eine Überanpassung und eine tragende Rolle bei dem Erhalt etablierter Machtformen zusprechen.
Political correctness ist zu einer kompletten Worthülse geworden (wenn sie es nicht sowieso schon immer gewesen ist). Der Vorwurf dient nur noch der Abgrenzung; der Informationsgehalt geht gegen null. Vor allem aber muss das Thema, sobald dieser Vorwurf im Raum steht, nicht mehr ernsthaft diskutiert werden, oft mit dem damit einhergehenden Vorwurf, man könne mit dieser oder jener Partei die politischen Themen gar nicht diskutieren.

Fast argumentationslos

Berger schreibt:
Die schwule Realität, für die solche Magazine [Schwulenmagazine] eben nicht repräsentativ sprechen, sieht aber ganz anders aus: 98 % der Schwulen sind gerne Männer – gerade auch deshalb, weil sie Männer lieben. Ihre Devise ist: „Lasst uns Schwule einfach nur Männer sein!“
Abgesehen davon, dass unklar ist, woher Berger diese Prozentzahl nimmt, scheint sie mir auch deshalb komplett falsch zu sein, weil es in Berlin zahlreiche Orte gibt, die für ein rein schwules Publikum gedacht sind. Im Gegensatz zu heterosexuellen Männern werden hier ganz offensichtlich sexuelle Möglichkeiten mit bedacht. Die homosexuelle Kultur grenzt sich deutlich von der heterosexuellen ab. Berger verlässt sich bei seiner Argumentation auf den ebenso unklaren Begriff „Mann“. Eine solche Gleichheit gibt es aber weder unter heterosexuellen Männern, noch, so möchte ich behaupten, unter Homosexuellen. Hier wird von Berger zu deutlich die biologische Existenz mit einem kulturell geprägten Selbstbewusstsein vermischt.
Weiter unten kommt er dann sogar zu der schrägen These, dass in der „Genderideologie“ das Vorurteil stecke, Schwule seien „eigentlich gar keine richtigen Männer“. Das Bild vom „richtigen Mann“ jedoch ist nur ein kulturelles Stützkorsett: dem richtigen Mann (etwa einem David Beckham oder einem Jason Statham) entsprechen wohl die wenigsten Männer. Dieses Argument bleibt also tendenziös und auf geradezu lächerliche Art und Weise naiv.

Zuordnung der Geschlechter

Pirinçci kritisiert die künstliche Zuordnung der Geschlechter; Berger folgt dem und bringt das Wort „homonormativ“, um diese eingeschränkte Sichtweise auf das, was ein Homosexueller angeblich sei, zu kritisieren. Ich nenne so etwas RTL-Schwule, weil es mir passiert ist, dass ich die Schwulen in meiner Umgebung häufig gar nicht als Schwule erkannt habe, während sie sich bei RTL immer sofort „erkennen“ lassen; ich hatte aber auch schon mal den umgekehrten Fall, dass ich von jemandem gedacht habe, dass er eindeutig schwul sei: in Wirklichkeit war er verheiratet und hatte zwei Kinder.
Natürlich halten wir uns an einem Bild von bestimmten Menschen fest. Und hin und wieder müssen wir sehr deutlich umlernen. Das macht Mühe. Ich kann bestimmte Bevölkerungsgruppen durchaus verstehen, dass sie es leid sind, in ein bestimmtes Bild gepresst zu werden; ich kann verstehen, dass Frauen, die in klassischen Männerberufen arbeiten, nicht ertragen wollen, als randständige Personen behandelt zu werden (angeblich passiert so etwas Frauen, die Maschinenbau studieren, immer noch), oder sogar nur als Person mit einer bestimmten Sexualität wahrgenommen werden.
Soweit, so richtig. Dann aber schreibt Pirinçci (und Berger zitiert dies, trottelig, wie er eben ist):
„Nicht Angela Merkel ist zum Mann mutiert, sondern die Männer um sie herum und zu ihren Füßen sind zu verängstigten Eunuchen und Hofschranzen geworden.“
Ich hatte schon öfter darauf hingewiesen, dass all diese Artikel, die sich in einem solchen groben, zum Teil beleidigenden Tonfall äußern, immer ihr eigenes Feindbild herstellen, und meist mit den Mitteln, die sie ihren Gegnern vorwerfen. Auch hier bestätigt sich diese Wahrnehmung: Pirinçci schafft es, innerhalb von Sekunden der halben Bundesregierung und dem Mitarbeiterstab ein neues kulturelles Geschlecht zu verpassen. Soviel also zu der Behauptung, man könne sein Geschlecht nicht mal eben rasch wechseln. Man braucht bloß einen idiotischen Deutsch-Türken und einen verkrachten, schwulen Ex-Theologen.

Parallelwelt

Ganz besonders hübsch finde ich immer wieder das Wort Parallelwelt, als ob es eine Welt gäbe, die man direkt und realistisch beobachten könne. Der Vorwurf der Parallelwelt gilt als ganz schweres Kaliber und als besonders intelligibel. Ist er leider nicht. Der ist sowas von bescheuert. Im Prinzip lässt sich dieser Vorwurf folgend übersetzen: Ich kann nicht so denken wie die dort!
Muss ja auch niemand. Ich kann bestimmte Sachen auch nicht nachvollziehen. Mir ist es schleierhaft, wie sich ein Matussek oder ein Pirinçci oder eben jetzt ein Berger auf diese Art und Weise äußern kann, ohne sich in Grund und Boden zu schämen für seine Ungebildetheit. Ich fände es ja schön, wenn ein Pirinçci oder ein Berger in einer Parallelwelt leben würde. Dann müsste ich mich nicht um die kümmern und mich auch nicht über ihre Äußerungen aufregen. Sie leben aber leider mitten unter uns.

Agonistik

Vor 50 Jahren lautete das Schlagwort „für eine streitbare Demokratie“. Carlo Schmid brachte das Grundanliegen folgendermaßen auf den Punkt:
Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selbst die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. (…) Man muss auch den Mut zu Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.
Dem kann ich mich nur anschließen. Darauf basiert aber auch die Überzeugung, dass eine Demokratie davon lebt, sich zu streiten. Und bleiben wir beim Gender-Mainstreaming: so fand ich es radikal falsch, dass sich bestimmte Politiker darüber geäußert haben, man müsse die Sexualität auch von Homosexuellen schon im Kindergarten thematisieren. Und als gäbe es dazu nichts Strittiges zu sagen. Die Art und Weise, wie dann der Gegenwind politischer Meinungen aufgestürmt ist, war allerdings nicht besser; im Gegenteil: allerlei Gossenkinder sind hier ans Licht gespült worden, Menschen, denen man einen grundlegenden politischen Analphabetismus vorwerfen muss.
Der Streit ist richtig. Diesen Streit vorzuentscheiden, indem man die Themen in den Kindergarten oder in die Grundschule hineinträgt, allerdings falsch.
War die politische Streitbarkeit während der Gründung der Bundesrepublik Deutschland eher das Thema konservativer Denker wie Karl Löwenstein und Karl Mannheim, so entdeckt heute der Neomarxismus über den Umweg eines Antonio Gramsci und dem von ihm ausgearbeiteten Begriff der Hegemonie den Streit als Kernbestand des Politischen (zum Beispiel Chantal Mouffe: Agonistik. Frankfurt am Main 2014).
Dies scheint beiden Lagern nicht mehr klar zu sein: man kann durch das Gender-Mainstreaming nicht zu einer prästabilierten Harmonie unterschiedlicher sexueller Orientierungen gelangen; aber im Gegenzug so beleidigt und auch so unkultiviert zu reagieren, wie man dies in der Junge Freiheit doch regelmäßig zu lesen bekommt, das kann es doch auch nicht sein. Trotzig-schmollende Heteronormativität oder sogar kruder sozialdarwinistischer Familialismus sind keine adäquaten Antworten.

Kaufe ich mir das Buch oder kaufe ich es nicht?

Ich wollte mir das Buch von Pirinçci zulegen, einfach, um nicht nur auf das Internet angewiesen zu sein. Dann wollte ich es mir wieder nicht kaufen, weil ich sowieso viel zu lesen habe. Jetzt hat mich David Berger fast wieder dazu bekommen, es mir doch noch zu bestellen. Ich lasse es sein. Vielleicht ließe sich an dem ein oder anderen Abschnitt eine schöne rhetorische Analyse anbieten; für mein derzeitiges Interesse an der Politik (auch wenn dieses Buch dazu gehört) ist es irrelevant. Weiterhin bin ich der Meinung, dass ich erst mal grundsätzlichere Dinge zu klären habe.
Suggestion ist für mich deshalb eine so kritisierenswerte Strategie, weil sie sich ihre Selbstverständlichkeit durch Grobheiten und Ausschlüsse erzeugt: wie oft habe ich schon gehört, dieses oder jenes wisse man doch (ich müsse doch wissen, was deutsch sei, ich müsse doch wissen, wie man sich als Mann fühle); als ob die Teilhabe an Kultur schon zu einem gemeinsamen Wesen führe. In dieser Form trägt Kultur etwas höchst Unintelligibles in sich. Und das ist etwas, was mir unbehaglich wird. Es ist, um hier selbst ins Grobe zu reden, nicht meine Kultur.

11.01.2016

Großmogule der politischen Korrektheit

Ach Martenstein!
Hatte ich dir nicht neulich empfohlen, die Finger von politischen Themen zu lassen? Es wäre wohl besser gewesen, du hättest meinen Rat befolgt. Aber offensichtlich kann Martenstein nicht von seinen Feindbildern lassen, den radikalen Feministinnen, den politisch Korrekten und dem Islam.

Was der radikale Feminismus „sagt“

In seinem Kommentar zu Köln schreibt Martenstein dem „radikalen Feminismus“ Worte in den Mund, die man so vom radikalen Feminismus nicht hören wird. Die Taten in Köln seien nicht ganz so schlimm, weil es doch auch unter deutschen Männern Sexismus gäbe.
Aber genau hier verwechselt Martenstein die Relativierung mit der Relationierung: Niemand behauptet, dass ein Verbrechen dadurch minder schwer werde, wenn andere ein ähnliches Verbrechen begingen. So als wäre ein Bankraub schwerer zu strafen als drei (sofern sie von verschiedenen Tätern durchgeführt werden). Hinterfragt werden soll, so hatte ich das verstanden, der eindeutige Zusammenhang zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und dieser Art von Verbrechen. Nicht das Verbrechen, sondern die Erklärung wird in vielen Kommentaren hinterfragt.

Der Islam als Ideologie

Abgesehen davon, dass es frech ist, gerade dem Feminismus in den Mund zu legen, er würde sexuelle Gewalt relativieren, behauptet Martenstein auch noch, der Islam sei eine Ideologie. Nun ist das Wort „Ideologie“ ein durchaus sehr bunter Begriff: damit ist noch nichts gesagt.
Nehmen wir dieses Wort in seiner ganz alten Bedeutung, dann bezeichnet die Ideologie die Lehre von einer Idee, wobei die Idee immer ein Begriff ist, der sich nicht durch Abstraktion von Merkmalen definieren, sondern nur durch Beispiele illustrieren lässt. Gerechtigkeit ist zum Beispiel eine Idee. Man findet diese nicht in anschaulichen Merkmalen in der Welt vor; man kann aber Beispiele dafür geben, wie etwas gerecht oder ungerecht verlaufen ist. Zahlreiche Kriminalromane kann man so als Illustration der Idee der Gerechtigkeit lesen: am Ende wird der Schaden in einer gewissen Weise wieder gutgemacht, der Verbrecher seiner Taten überführt und bestraft.
In einer moderneren Form bezeichnet die Ideologie Lebensweisen, die sich nach einer bestimmten Idee ausrichten, zum Beispiel der ökologischen Nachhaltigkeit oder dem Hedonismus oder der christlichen Nächstenliebe. Die Idee selbst dient dann als Anker für die Reflexion auf das eigene Leben: der ideologische Mensch fragt sich, ob seine Handlungen der ökologischen Nachhaltigkeit oder der christlichen Nächstenliebe dienlich sind.

Religion: die Möglichkeit, sich zu ideologisieren

Keinesfalls ist dann der Islam eine Ideologie; als Religion liefert er Möglichkeiten, sich zu ideologisieren. Und natürlich gibt es im Islam auch die Möglichkeit, sich an einer offensiven und invasiven Idee der religiösen Praxis auszurichten: dort, wo man den „Heiligen Krieg“ als Kernpunkt des Islams betrachtet.
Das Christentum hat sich in Bezug auf die Bibel ähnlich verhalten, auch wenn diese Zeiten lange vorbei sind: die Kreuzzüge, die Hexenverbrennungen, all das stimmt nicht mehr mit dem überein, was Christen aus der Bibel als religiösen „Kernpunkt“ herauslesen. Mag die Bibel auch ein fester Bestandteil unserer Kultur sein: Ihre Auslegung hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt.
Es ist also schierer Unsinn, den Islam so pauschal als Ursache für die Vergewaltigungen und die sexuellen Übergriffe in Köln verantwortlich zu machen. Sicherlich bringen bestimmte Bevölkerungsgruppen muslimischen Glaubens auch eine zutiefst machohafte Kultur mit, eine, die man in Deutschland nicht mehr dulden kann.
Der einzige Schluss, den man daraus ziehen kann, ist, dass man den Islam differenzierter betrachten muss, dass man auch die Menschen muslimischen Glaubens differenzierter betrachten muss: das besagt aber nicht, dass man den Menschen, die sich bei der Begründung ihrer verbrecherischen Handlungen auf den Koran beziehen, ein anderes Urteil zukommen lassen darf als denen, die sich nicht auf den Koran beziehen. Aber offensichtlich haben die Straftäter in Köln das auch gar nicht gemacht, sie haben sich nicht durch religiöse Äußerungen einen besseren Status herbeigeredet. Und insofern verstehe ich auch die ganze Argumentation von Martenstein nicht: er vergreift sich nur an einer der grundlegenden Bedingungen der Demokratie: der Religionsfreiheit. Ob die Straftäter Muslime sind oder nicht, darf nicht interessieren. Man muss ihnen zumuten, ohne ihre Religion und nur aufgrund ihres politischen Status gerichtet zu werden. Macht denn das deutsche Rechtssystem etwas anderes?

Religionsfreiheit

Nein, ich halte nichts davon, über mögliche Auswirkungen des Islams zu spekulieren. Das westliche Rechtssystem kann Straftaten auch ohne Bezug auf die Religion verfolgen und verurteilen. Das sollte es auch tun, ohne Frage.
Martenstein schafft sich damit sein Feindbild selbst; er betrachtet die Situation undifferenziert. Und wieder einmal kann man feststellen, dass eine unsaubere Argumentation vor allem dazu führt, dass bestimmte Aussagen auf den Autor zurückfallen: Martenstein sind „seine eigenen Feindbilder das Wichtigste auf der Welt“. Er ist seine eigene Ideologie. Besonders freundlich, besonders intelligibel ist diese allerdings nicht.