17.05.2016

Sich orientieren

Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und nicht, dass du einem Joch entronnen bist. ... Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, S. 81 (KSA 4)

Zeugung

Nietzsche folgt in gewisser Weise den Lehren der Evolution. Man findet überall in seinem Werk Hinweise darauf, dass auch das Reich der Ideen und der Moral den Regeltypen der Evolution zugeordnet werden kann. Ich werde gleich auf diese seltsame Formulierung noch eingehen.
Noch befremdlicher allerdings ist, was er alles im Umfeld des Begriffes der Zeugung schreibt, samt den Ideen von der Ehe, von Mann und Frau. Die Frau (oder das Weib) ist bei Nietzsche ein schillernder Begriff, der mal tatsächlich das weibliche Geschlecht meint, mal die Wahrheit, mal jenes, was die Wahrheit gibt (als Gabe und Geschenk, aber eben diese Wahrheit nicht ist). Ähnlich ergeht es auch dem Begriff der Zeugung. Mal scheint er auf die Vererbung guter Eigenschaften gemünzt zu sein, obwohl unklar ist, ob damit überhaupt so etwas wie eine genetische Vererbung gemeint ist; viel eher wird von Nietzsche eine kulturelle Vererbung angesprochen. Mal ist es ein provozierendes, widerständiges Über-sich-Hinausschaffen.

nur abgeleitet

aktiv/passiv

In einem seltsamen Fragment stellt Nietzsche eine Liste zu der semantischen Opposition aktiv/passiv auf. Unter die aktiven "Kräfte" fällt die Zeugung, die von ihm folgendermaßen kommentiert wird:
"Zeugung" nur abgeleitet: ursprünglich, wo ein Wille nicht ausreicht, das gesamte Angeeignete zu organisieren, tritt ein Gegenwille in Kraft, der die Loslösung vornimmt, ein neues Organisationscentrum, nach einem Kampfe mit dem ursprünglichen Willen
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 - Herbst 1887, S. 209
Abgeleitet ist die Zeugung von dem Aktiven (also wohl all dem, was aktiv ist, was in einer vorwärtsgreifenden Bewegung begriffen ist).

Regeltypen der Evolution

Wenn man sich die Grundbegriffe der Evolution anschaut, zumindest die des Neodarwinismus, dann lernt man zuerst die Begriffe der Variation, Selektion und Restabilisierung kennen (manche setzen noch den der Amplifikation hinzu). Dabei handelt es sich aber nicht um Gesetze, wie gerne behauptet wird, sondern um Regeltypen, die sich relativ zu einer Population und einem Milieu bestimmen lassen. Selektionen können auf sehr verschiedene Weise geschehen. Einmal kann eine Population durch Nahrungsmittelknappheit unter Stress geraten, wodurch bestimmte, günstige Merkmale verstärkt werden. Zu beachten ist übrigens, dass die Selektion nicht in den Merkmalen selbst liegt, und diese auch nicht gewollt werden: es ist reiner Spiel des Zufalls, dass selegierendes Ereignis und selegiertes Merkmal zu einer Entsprechung kommen.
Oder ein Milieu bietet so viele mögliche Nischen, dass sich eine Population nach und nach in diese verschiedenen Nischen hinein verändert, ohne einem ökologischen Stress ausgesetzt worden zu sein.
Insofern gibt es zwar Erklärungen für den Wandel von Populationen, diese gründen sich aber auf spezifische Bedingungen, während die Grundbegriffe der Evolution bestimmte Phasen und Typen bezeichnet.

Der Gegenwille

Kurz zuvor schreibt Nietzsche:
1. - alles ist Wille gegen Willen
2. Es gibt gar keinen Willen
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 - Herbst 1887, S. 187
An diesen beiden kurzen Notizen zeigt sich Nietzsches Theorie des Willens ziemlich deutlich. Im zweiten Satz wird nicht so etwas wie den Wille abgelehnt (er widerspricht dem ersten Satz nicht), sondern einem Essentialismus des Willens. Bei Nietzsche sind alle Phänomene historisch. Auch der Wille entwickelt sich, auch er ist aus etwas anderem entstanden. Ein Wille existiert nicht ohne einen Gegenwillen; ein Gedanke, der diesen begleitet, ist, dass sich "große" Menschen aneinander hochzüchten. Ein starker Wille ist ein großer Reiz für einen starken Gegenwillen.

organisieren

In dem eingangs zitierten Fragment kommt dieser Gegenwille allerdings nicht von außen, sondern entsteht als ein Übergangsphänomen und ein Zerfallsprozess. Der Wille hat organisierenden Charakter. Wenn die Aneignung fremder Elemente zu einer zu großen Komplexität führt, dann entsteht ein zweites Kraftzentrum, dessen erstes Erscheinen von einem Gegenwillen begleitet wird. Man ist an die kleine Wahrheit erinnert, der Zarathustra den Mund zuhalten muss, damit sie nicht überlaut schreit (Zarathustra, S. 84).
Die Loslösung, die neue Organisation, sei, so Nietzsche, erst nach einem Kampf mit dem ursprünglichen Willen möglich.

Funktionswechsel

Will man dies mit Worten beschreiben, die der Evolutionstheorie entnommen sind, so hat man es am ehesten mit einem Funktionswechsel zu tun. Es gibt (mindestens) zwei Wechsel der Organisationsformen in einem Organismus: den Dominanzwechsel und den Funktionswechsel. Beim Dominanzwechsel wird eine bisher nur nebensächliche Möglichkeit eines Organs nun zur Hauptfunktion. Typischerweise wird hier immer die Entwicklung von Mund-Hand-Fuß beim Vormenschen geschildert: indem der Vormensch sich aufrichtete, wurde die Vorderpfote nach und nach von der Funktion des Laufens befreit und konnte sich öfter dem Greifen und Festhalten widmen. Dadurch wurde das Maul, welches bis dahin die Beutetiere gepackt hat (das Maul ist bei vielen Säugetieren das Greiforgan, während die Pfote nur dem Festhalten dient), entlastet und konnte stärker auf das Aussenden von Signalen ausgerichtet werden, so dass darüber die Koordination von Gruppenaktivitäten möglich wurde, bis schließlich die Funktion des Greifens mit dem Maul unwichtig wurde.
Dem Dominanzwechsel folgt der Funktionswechsel. Damit verschwindet die ursprüngliche Funktion eines Organs vollständig und wird komplett ersetzt.

Verwandtschaft und Ähnlichkeit

Ebenfalls aus dieser Zeit stammen viele Gedanken Nietzsches zu Ähnlichkeit und Verwandtschaft. Er dividiert diese beiden Begriffe auseinander:
Die Succession von Erscheinungen, noch so genau beschrieben, kann nicht das Wesen des Vorgangs geben - aber die Constanz des fälschenden Mediums (unser "ich" -) ist mindestens da. [...] So erweckt die Folge die Succession den Glauben an eine Art "Zusammenhang" jenseits des von uns gesehenen Wechsels.
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 - Herbst 1887, S. 189
Der Grund der Verwechslung der beiden Begriffe ist in den physiologischen Voraussetzungen der Erkenntnis zu suchen. Die Erkenntnis kommt nicht aus sich heraus. Hierin folgt Nietzsche noch Kant. Anders aber als Kant gewöhnt sich bei Nietzsche der Geist an Formen. Nicht (die kantsche) Vernunft, sondern Gewöhnung führt zu so etwas wie "Vernunft":
Was ist "erkennen"? Zurückführen von etwas Fremdem auf etwas Bekanntes, Vertrautes. Erster Grundsatz: das, woran wir uns gewöhnt haben, gilt uns nicht mehr als Rätsel, als Problem. Abstumpfung des Gefühls des Neuen, Befremdenden: alles, was regelmäßig geschieht, scheint uns nicht mehr fragwürdig. Deshalb ist die Regel suchen der erste Instinkt des Erkennenden: während natürlich mit der Feststellung der Regel noch gar nichts "erkannt" ist.
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 - Herbst 1887, S. 188

Evolution des Willens

Obwohl es auch einen Willen zur Erkenntnis gibt, einen Erkenntnistrieb, scheint dieser in einem recht komplizierten Verhältnis zum Willen zu stehen. Der Wille stumpft mit der Gewöhnung an eine Erkenntnis ab (weshalb der wahrhaft Erkennende immer exzentrisch, immer aus sich heraus geht). Die Erkenntnis reichert die Organisation an. Unklar ist mir bislang, ob der Wille die Organisation erzeugt, oder ob sie Ausdruck dieser Organisation ist. Während der mittlere Nietzsche Wille und Organisation eher trennt, spricht beim späten Nietzsche viel dafür, dass der Wille der Organisation zugleich immanent ist, als auch aus ihr entsteht (emergiert!).
Darauf weist auch das erste hier angeführte Zitat aus den Nachgelassenen Fragmenten hin. Wird eine Organisation zu kompliziert, dann zerfällt sie. Dadurch, dass sie zerfällt, entstehen zwei (oder auch mehrere) Kraftzentren, die jeweils von einem Willen begleitet werden (weil diese zerfallende Organisation nicht unorganisiert ist, und weil diese von dem immanenten, emergenten Willen begleitet werden).

Schluss

Der Wille ist eng an die Organisation der Erkenntnisse gebunden, ohne mit den Erkenntnissen direkt zusammenzufallen. Der Wille wird schwach, wenn ein Mensch nicht mehr erkennen will: wenn man sich an seine Erkenntnisse gewöhnt, gerät der Wille nicht mehr in Konflikt; er verliert seine Stärke (dies habe ich hier allerdings nicht betrachtet). Wenn die Organisation des Erkannten durch zu hohe Komplexität auseinanderfällt, dann gerät diese mit sich selbst in Konflikt: allerdings sind es nicht die Erkenntnisse, die einander widersprechen, sondern die verschiedenen Erscheinungen des Willens, die durch die Neuorganisation entstehen.
Die Zeugung nimmt darin eine seltsame Stellung ein: sie entsteht nicht mehr aus einem simplen biologischen Vorgang, sondern aus einem evolutionären Prinzip, der über die Vererbung hinausgeht. Sie ist eng an die Erkenntnis gebunden. Zeugung ist damit zugleich schöpferisch und zerstörerisch: sie ist es zugleich, weil sie einen alten Zustand überwindet und einen neuen erzeugt.
Nietzsches Dichotomie von Mann und Frau, bzw. Krieger und Weib, müsste hier weiter erläutert werden. Insofern Nietzsche das Weib mit dem Zu Erkennenden und den Krieger mit der schöpferischen Erkenntnis parallelisiert, spielt er mit der Allegorie der Geschlechterdichotomie. Sieht man von den "feministischen" Implikationen ab, dann ergänzen sich zwei Prinzipien, die nicht einander entgegengesetzt sind (weil sie nicht derselben Sphäre angehören), die sich aber auch nicht ergänzen (sie dienen einander nicht). Es scheint, als habe Nietzsche in einer klischeehaften Ausdeutung des Alltags die Möglichkeit einer Allegorisierung gefunden, die auf etwas ganz Anderes hinweist.

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