29.08.2016

Archetypen der Performanz

Man kennt das von Nietzsche: den Archetypen, der nicht mehr eine irgendwie unbewusst entstandene Konstellation ausdrückt, sondern eine soziale Konstellation, wie zum Beispiel dem Priester, der bei Nietzsche aus dem Ressentiment einen sekundären Krankheitsgewinn zieht, daraus neue, schöpferische, gleichwohl aber entstellte, weil abgeleitete Kräfte gewinnt. Der Priester entsteht so an einer bestimmten Position, nicht komplett notwendig, aber doch durch das Kräftespiel innerhalb des Zustands eines Volkes gleichsam folgerichtig hervorgerufen.

Giorgio Agamben und die Archetypen der Performanz

In seinem Buch Was von Auschwitz bleibt schreibt Agamben vom Zeugen, vom Gedemütigten (bzw. eigentlich vom Muselmann, von dem ich schon vor ein paar Tagen berichtete), vom Schamvollen und vom Archivar. Nun habe ich das Buch noch immer nur sehr flüchtig gelesen. Aber es fällt doch auf, dass die Archetypen, von denen Agamben hier berichtet, Träger performativer Äußerungen oder mnestischer Produkte sind. Mit einer performativen Äußerung wird etwas „hergestellt“, das nur in der Kultur existiert und das sich materiell nur in Statussymbolen ausdrückt, aber doch einen realen Effekt auf das Zusammenleben der Menschen hat. Heiraten ist ein solches typisches Beispiel, und die Aussage, die man in fast jedem Buch über performative Äußerungen finden dürfte, ist folgende: Ich erkläre euch zu Mann und Frau. Andere performative Äußerungen sind zum Beispiel Versprechen und Drohungen. Beide haben reale Effekte auf die Beziehungen zwischen Menschen. (Deshalb bekommt performativen Äußerungen auch die Anonymität so schlecht: eine anonym ausgesprochene Drohung oder Beleidigung, wie dies im Internet immer wieder zu finden ist, ist zugleich irreal und monströs: Sie basiert auf Sozialität, ist aber zugleich, durch die Anonymität, völlig beziehungslos.)

Performative Aussagen

Bezeugen ist ebenfalls eine performative Aussage. Im Grunde ist sie ein Versprechen, nämlich das Versprechen, die Wahrheit zu sagen, obwohl die realen Geschehnisse von anderen nicht so gut überprüft werden können, vielleicht gar nicht.
Da sich die Wirkungen performativer Aussagen vor allem auf das Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Menschen beziehen, muss man ihnen einen wesenhaft politischen Charakter zuschreiben. Alles andere ist daraus dann abgeleitet. Dass die Eheleute nach der Hochzeit einen Ehering tragen, ist zwar eine gewisse Gewohnheit, und bei vielen immer noch Tradition (also eine aus der Vergangenheit kommende, übernommene Gewohnheit), aber für den eigentlichen performativen Akt nur eine Zugabe.
Es liegt also nahe, aus bestimmten performativen Äußerungen Archetypen herauszuarbeiten: der Zeuge bezeugt, der Terrorist droht (mit zu verbreitendem Schrecken), der Verräter droht auch (mit der Veröffentlichung von peinlichen Geheimnissen), usw.

Mnestische Produkte

Was aber sind mnestische Produkte? Das sind Produkte, die nur indirekt den performativen Äußerungen dienen, also all das, was als Träger von menschlichem Wissen dienen kann. Dazu gehören nicht einfach nur die klassischen Archive. Jedes Buch enthält Wissen, jede historische Vase und jeder mittelalterliche Löffel, ein Aquarell von Ende des 19. Jahrhunderts wie die Gartengestaltung am sächsischen Kurfürstenhof während des Barocks.
Der Witz allerdings an mnestischen Produkten ist eigentlich nicht, dass sie Wissen „speichern“, sondern dass ihnen Wissen unterstellt wird. Gehen wir davon aus, dass nur der Mensch etwas wissen kann, dann können es Bücher und Archive nicht. Sie bewahren das Wissen in einer anderen Form auf, einer nicht-wissenden Form (etwas, was ich, in einem verallgemeinerten Sinne, Grammatik nenne).

Archetypen der Performanz und der Mnestik

Archetypen der Performanz schaffen Sachverhalte innerhalb einer Gesellschaft, während Archetypen der Mnestik grammatische Vorräte anlegen, die später entziffert werden müssen, und die immer in Gefahr stehen, zu viel und zu wenig zu sagen. Schriftsteller gehören zu den letzteren; und so gesehen gehört es zu ihren paradoxen Aufgaben, eine gewisse Sammlung an Nicht-Wissen zu konstruieren, der der Leser aufsitzt, sodass er sein eigenes Wissen an einem anderen Ort, zunächst dem Buch, dann dem Autor, zu finden glaubt.

Aktive und passive Performanz

Wer Agamben schon etwas kennt, wird sich seit Beginn des Artikels gefragt haben, wie denn zum Beispiel der Muselmann, dessen elendes, bewusstloses und selbstverleugnendes Bild der Autor von Was von Auschwitz bleibt so drückend schildert, was also dieser Muselmann bei den Archetypen der Performanz zu suchen hat.
Eine solche Auffassung, dass es eben ganz machtlose Subjekte gäbe, denen unbeschränkt machtvolle gegenüberstünden, impliziert, dass Menschen voraussetzungslos in der Gesellschaft ankommen. Wie leicht zu beweisen ist, ist gerade das nicht der Fall. Bevor ein Kind auch nur die Chance hat, aktiv in soziale Prozesse einzugreifen, wird es mit einem Bündel an Erwartungen und Vorstellungen überzogen. So beginnt die Sozialisation und Subjektivierung von Kindern lange bevor sie gezeugt worden sind; selbst wenn das Kind ungeplant gezeugt wird, hält die Gesellschaft für es langjährige Programme bereit, die von Normen und Werten durchzogen sind. Oder anders gesagt: kein Kind kommt in einem machtfreien Raum zur Welt und hätte demnach die Chance, einen solchen Raum der Macht aus sich selbst heraus zu erschaffen.
So muss, bei aller Determination, die unsere Gesellschaft für bestimmte Menschen bereithält, trotzdem von einer Performanz gesprochen werden, einem Nicht-Ausführen von Äußerungen, die anderen performativen Äußerungen eine andere Wirkung ermöglichen. Wer nicht widerspricht, so könnte man sagen, macht sich mitschuldig; obwohl diese Aussage natürlich zu einfach ist, wie dies bei den Hungerkranken aus Auschwitz nachvollziehbar wird: dort waren die sozialen Determinanten so gestellt, dass sie die Wahl hatten zwischen Sterben und trotzdem Sterben.

Schluss

Ich habe nicht viel Zeit, ich sagte es ja bereits. Gestern Abend habe ich mich an den Computer gesetzt und dann die halbe Nacht durchprogrammiert. Davon kann ich gerade nicht die Finger lassen. Und ansonsten habe ich ja auch einiges zu tun.
Aber so ungefähr darf ich noch andeuten, wohin für mich die Reise geht. In der Auseinandersetzung mit der politischen Kritik hat sich für mich mehr und mehr herausgeschält, dass die Kritik anscheinend von Person zu Person wandert (wie beim Stöckchenspiel), und dass sie vor allem dann gefährdet zu sein scheint, wenn sie an eine bestimmte Person fixiert bleibt. Damit ließe sich auch das Elend vieler politischer Kritiker, aber auch Literaturkritiker erklären, die seit zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren im Geschäft sind. Nun, scheint es ganz sinnvoll zu sein, ein kleines Bestiarium kritischer Archetypen aufzustellen, wozu natürlich in einem weiteren Sinne ein Bestiarium politischer Typen gehört.
Dies ungefähr ist meine Idee.

28.08.2016

Frau Augstein erinnert

Ich könnte jetzt irgendetwas lustiges schreiben, wie zum Beispiel, dass sich Frau Augstein für diese Kolumne gender-neutral geschminkt habe, aber obwohl mir die Spottlust gerade aus jeder Pore dringt, ist mir bei diesem Satz doch eigentlich nicht zu spotten zumute. Schade, oder vielleicht gar nicht so schade, dass er von Jakob Augstein ist (im Spiegel 35/2016). Ich erkläre ihn mal zum Satz der Woche:
Der feministische Diskurs ist längst nicht beendet.
Das klingt wie ein Notschrei, und wahrscheinlich ist es auch ein solcher. Ich habe zwar schon lange kein feministisches Buch mehr gelesen, zumindest kein neueres (Judith Butler allerdings steht in meiner Handbibliothek), aber wenn ich mir die Protagonistinnen in den Massenmedien ansehen, so zeichnen sich diese weniger durch Feminismus denn durch Spießigkeit aus (von Schwarzer möchte ich nicht sprechen: Feminismus als Heimatschutz - oder wars umgekehrt?). Und vom anti-feministischen Diskurs möchte ich erst recht nicht anfangen; da haben ja die Terroraufrufe des IS geradezu einen liberalen Duktus.
Augstein macht dann auch das einzig richtige: erstens erklärt er, warum Gina-Lisa Lohfink auch als Täterin ein Opfer ist (oder muss man sagen: eine Opferin?), oder zumindest sein müsste, wenn die Opferfrage mehr als nur juristisch geklärt gilt. Und er zeigt, dass Lohfink, die Frau mit maximaler Öffentlichkeit, von der anonymen Burka-Trägerin, der Frau mit minimaler Öffentlichkeit (zumindest, was die individuellen Frauen angeht), auch nicht so verschieden ist.
Wohl passend dazu veröffentlicht Peter Sloterdijk im Herbst einen erotischen Briefroman. Elke Schmitter überschreibt ihre Rezension mit Die Frau als Herrenwitz. Und folgert über den Stil und den Inhalt dieses Romans:
Wenn das Aufschreiben derartiger Kommunikationsdelikte einen Sinn haben soll, dann könnte es eigentlich nur der sein zu zeigen, dass das wahre Schelling-Projekt noch auf seine Autoren wartet.
Auch Tania Martini scheint mit dem Buch nicht allzu viel anfangen zu können. Zu Sloterdijks Lesung aus dem Manuskript konstatiert sie:
Es folgt eine Pointenschlacht, die einem das Hirn zu Butter macht.
Mit diesem Nachtrag zu dem guten Augstein (oder der guten Augsteinin) sei auch mein Vorbehalt gegen Neueres von Sloterdijk ein wenig plausibler gemacht.
Ich möchte, weiterhin, nicht institutionell befriedete Feminismen. Wie berechtigt die sind, darüber streiten wir dann hinterher.

Biologische Solidarität

Ich glaube, es ist Zeit, das Fremdschämen zu überwinden und Peinlichkeiten zu genießen.
Da schreibt ein gewisser Horst S.:
„Links“ und „rechts“ sind spalterische Kampfbegriffe der psychologischen Kriegführung gegen die natürliche Integrität von Sippen, Stämmen, Völkern und Rassen, um deren biologische Solidarität, die wenig Staat braucht und daher real verwurzelt antifaschistisch ist, mittels Desintegration und „Integration“ von Unpassendem zu zerstören. Ein ausgewogenes Maß an Gleichheit („links“) und Einzigartigkeit („rechts“) gehört zu jeder gesunden Gemeinschaft.
Ich weiß gar nicht, wo ich mit dem Lachen anfangen soll.
Trotzdem: einen gewissen, äußerst flüchtigen Kontakt habe ich doch mit diesem Menschen. Ich spreche zwar keineswegs von kultureller Integrität (wie ich auch nicht an eine irgendwie geartete Einheit des Deutschen glaube), aber eben doch von kulturellen Homogenisierungstendenzen. Homogenisierung darf hier übrigens nicht mit Konfliktlosigkeit verwechselt werden. Eine bestimmte Bevölkerungsgruppe kann sich auch darüber einig sein, dass es sich lohnt, völlig irrwitzig und blödsinnig über etwas zu streiten, wie etwa über die vermeintliche Verlogenheit der Lügenpresse. Das ist ein durchaus deutsches Thema; mit einem Spanier oder einem Ägypter könnte ich darüber schlecht streiten.
Geradezu prophetisch nimmt Schopenhauer einen Kernbestand systemischen Denkens für den Nationalcharakter vorweg: dieser sei nur eine jeweilig andere Form von Beschränktheit, Verkehrtheit und Schlechtigkeit (Nationalstolz); und die Systemiker: Kultur existiert, wenn überhaupt, in Form eines gemeinsamen blinden Flecks. Es gehört wohl in gewisser Weise zu einer bestimmten Bevölkerungsschicht (glücklicherweise aber immer noch einer Minderheit), die glaubt, Kultur in irgendeiner Weise an die Gene oder an ihre Metapher, das „Blut“, binden zu müssen. Über eine vernünftige, umsichtige Begründung einer solchen Behauptung wird dann gar nicht mehr nachgedacht, geschweige denn darüber, was daraus ethisch und politisch folgen müsste.
„Real verwurzelt antifaschistisch“ ist aber auch nicht schlecht: das werde ich mal als Nachdenk-Begriff mitnehmen auf den Weg, um der biologischen Solidarität mit meinem Körper nachzukommen, mit irgendeinem urdeutschen Gericht, vielleicht einem Cham Chi.

27.08.2016

Zu Flüchtlings- und anderen Katastrophen

Mein Verhältnis zu Peter Sloterdijk bleibt ambivalent. Die Ursachen dieser Ambivalenz mag ich hier aber nicht erläutern. Denn manchmal muss man ihn einfach auch lieben, wie zum Beispiel hier:
Apokalyptischer Alarm setzt keinen religiösen Seelensturm mehr voraus, Warnungen vor Untergängen implizieren nicht, dass prophetische Individuen sich zum Sprachrohr transzendenter Enthüllungen erklären. Das aktuelle Alternativbewusstsein zeichnet sich durch etwas aus, was man als pragmatisches Verhältnis zur Katastrophe bezeichnen könnte. Das Katastrophische ist eine Kategorie geworden, die nicht mehr zur Vision, sondern zur Wahrnehmung gehört. Heute kann jeder Prophet sein, der die Nerven hat, bis drei zu zählen.
Sloterdijk, Peter: Eurotaoismus. Frankfurt am Main 1989, S. 103
Auch dieses Buch habe ich gelesen, nicht gründlich, keineswegs philologisch (die Artikel und Bücher, die ich gründlich gelesen habe, lassen sich in einer halben Minute aufzählen). Nur, um noch mal ein wenig darauf zu pochen, dass die Kunst der Interpretation kein Hauruck-Unternehmen ist, keines, das in tweets und gepolterten Statements verwirklicht werden könnte. Über den Anspruch, ein solches zu verwirklichen, so möglich, sollten wir aber nicht so einfach hinweggehen.

Werte und Normen in Erzählungen

Gelegentlich, im Moment aber wirklich nur sehr gelegentlich, versuche ich den derzeitigen Diskussionen ein konstruktives Argument abzugewinnen. Was macht man in solchen Situationen? Nun, ich kann sagen, was ich mache: ich ziehe mich in die Lektüre zurück, meine einzige wirkliche Heimat.
Kenneth Gergen schreibt in seinem Aufsatz Erzählung, moralische Identität und historisches Bewusstsein (in Straub: Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Frankfurt am Main 1998) über die Funktion der Erzählung für die moralische Identität und das historische Bewusstsein. Man kann soziale Erzählungen häufig recht parallel zu Abenteuergeschichten, bzw. zur Heldenreise lesen. Heldenreise, für all die, die dieses Wort in seiner undefinierten Bedeutung hören, ist ein feststehender Begriff der Narratologie, also dem Teil der Kulturwissenschaft, der sich mit dem Erzählen auseinandersetzt.

Werthaltiger Endpunkt

Mit diesem etwas umständlichen Begriff bezeichnet Gergen die Tatsache, dass jede Geschichte einen oder mehrere Werte demonstriert und dadurch an der moralischen Identität von Erzähler und Zuhörer/Leser mitwirkt. Allerdings stört mich an dem Artikel dann ungemein, dass Gergen relativ abstrakt auf den Ort eingeht, an dem sich dieser Wert genau demonstriert. Er unterscheidet nicht zwischen gesetzten und demonstrierten Werten (was ich gleich erklären werde), und nicht zwischen instrumentellen und absoluten Werten. Zudem ist das Wort „Endpunkt“ missverständlich, so als würde sich der Wert am Ende einer Geschichte finden.
Unterteilen wir ein wenig.

Ein Reichsbürger in Reuden

Schauen wir uns dazu zunächst eine Geschichte an, damit wir einen Untersuchungsgegenstand besitzen. Es ist, wie ich in dem Artikel Die Fabel hinter der Fabel gezeigt habe, nicht einfach nur eine einzelne Geschichte, sondern eine Geschichte, die aus mehreren Teilen besteht. Am Donnerstag, dem 25. August 2016, wurde in Reuden ein Haus zwangsgeräumt, das den Schwiegereltern des früheren Mister Germany Adrian Ursache gehört hat. Grund der Zwangsräumung waren Grundschulden. Der Artikel, auf den ich mich beziehe, heißt: Wie aus Mister Germany ein „Staatsmann“ wurde. Er stammt vom 24. Juni 2016, also ziemlich genau zwei Monate vor der Zwangsräumung, bei der Ursache während eines Schusswechsels schwer verletzt wurde.
In dem Artikel werden drei Geschichten erzählt. Er ist auf vier Internet-Seiten verteilt.
Auf der ersten Seite findet sich eine Beschreibung der Situation, die allerdings mit einem Geschehen versehen ist, einem Geschehen, wie es ein distanzierter Beobachter schildern könnte. Interessant dabei ist allerdings, dass dieser distanzierte Beobachter vor allem ein Video beschreibt, welches wohl von Adrian Ursache selbst aufgenommen worden ist. Trotzdem kann man nicht davon sprechen, dass der Journalist hier die Innenperspektive nachgezeichnet hätte.
Die zweite Seite bringt dann die Geschichte eines Verfalls oder Niedergangs. Sie erzählt, wie Ursache sich von Mister Germany zu einem Reichsbürger entwickelt habe. Die Ursache für diese Entwicklung wird gleich mitgeliefer, wenn auch - undeutlich - als Spekulation markiert.
Die letzten beiden Seiten sind dem Umgang Ursaches mit den Behörden in den letzten Jahren gewidmet.

Werte und Normen

Zunächst müssen wir zwischen Werten und Normen unterscheiden. Werte, so definiere ich im Anschluss an Niklas Luhmann, drücken positive Verhaltensweisen aus, wie zum Beispiel Mitgefühl, Aufrichtigkeit, Gewissenhaftigkeit. Normen wiederum bezeichnen Schwellen im Verhalten von Menschen, bei deren Übertreten eine mehr oder weniger deutliche Sanktion stattfindet.
Wir können nun an dieser Geschichte beobachten, dass sie zugleich Werte und Normen verdeutlicht. Als positiver Wert wird hier der Realitätssinn beschworen, im engeren Sinne dann die Anerkennung historischer Tatsachen, wie zum Beispiel die Existenz der Bundesrepublik Deutschland (die Adrian Ursache leugnet). Mit dieser Leugnung überschreitet Ursache nach und nach eine ganze Reihe von rechtlichen Normen. Er erkennt die Staatsgewalt nicht an, leugnet Verträge, verschleppt Zahlungen, bedroht und beleidigt Polizisten. Die ersten Sanktionen, in Form von Geldstrafen, erkennt Ursache nicht an: er hat, wie er sagt, sein eigenes Reich gegründet, und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland gelten dort nicht. Daraufhin folgte diesen Donnerstag die Zwangsräumung, als wohl die schärfste Sanktion, die man bei Grundschulden verhängen kann.

Eine gewisse Buchstabentreue

In einer Sache muss man bei solchen Artikeln allerdings auch vorsichtig sein, einer Sache, die dem Interpreten dann gelegentlich auch ziemlich Mühe bereitet. Weder die Werte noch die Normen werden direkt benannt. Die Geschichte wird als traurig bezeichnet, die gewählten Worte (des Journalisten) sind deutlich distanzierend: er [Adrian Ursache] wittere überall „Betrug und Rechtsbruch, Übervorteilung und Behörden, die nur darauf aus sind, ihm Übles anzutun“; kurz danach schreibt der Journalist: „Wie ein Kind, das meint, wenn es sich die Augen zu hält, sei es beim Versteckspiel nicht mehr zu sehen.“ – Der Realitätsverlust wird angedeutet, die Paranoia und möglicherweise die Schizophrenie ebenso, aber nie als solche benannt. Der Autor des Artikels bleibt alltagssprachlich: er sei aus dem Traumleben gerissen worden, irgendetwas sei in ihm zerbrochen, er verrenne sich.
All das sind Normierungen (oder, besser gesagt, negative Wertschätzungen), aber sie bezeichnen eben noch nicht genau die Norm, die mit dieser Geschichte verdeutlicht werden soll. Bei der Interpretation tut man also gut daran, sich zunächst auf positive und negative Wertschätzungen zu stützen, so wie sie in dem Text selbst auftauchen. Buchstäblichkeit und Buchstabentreue ist zwar nur ein Teil der Interpretationskunst, aber doch ein wichtiger Regulator, um mit den Deutungen nicht in die Irre zu gehen.

Gesetzte und demonstrierte Werte

Daran schließt sich meine Unterscheidung von gesetzten und demonstrierten Werten an. Gesetzte Werte finden sich gleichsam am Rande der Geschichte, während demonstrierte Werte aus dem Erzählfaden heraus erschlossen werden können.
So hält es der Journalist für offensichtlich selbstverständlich, dass man mit der Polizei freundlich umgeht, dass man Behördenbriefe beantwortet, und dass man nicht einfach seinen eigenen Staat auf einigen 100 m² Land mitten in Deutschland gründet. Ob das rechtens ist oder nicht, diskutiert der Journalist nicht. Er setzt zum Beispiel Freundlichkeit als Normalverhalten und Anerkennung des Staates als selbstverständlich voraus. Wenn man nun in ganz andere Gebiete wechselt, etwa die deskriptive Philologie oder postmarxistische Staatskritik, dann findet man ganz andere Werte, die für selbstverständlich angenommen werden. Oder: mich frappiert immer wieder, mit welch einer Selbstverständlichkeit von einer deutschen Kultur gesprochen wird, als sei diese etwas Kompaktes und Definierbares. (Und in diesem Fall erinnere ich immer wieder gerne daran, dass ich Hegel nicht in Deutschland lesen gelernt habe, sondern in Sfax. Meine Geschichte dazu ist eine Geschichte der Umwertung.)
Demonstrierte Werte findet man nun in diesem Artikel wenig, dafür aber demonstrierte Normen. Er zeigt, wie sich Realitätsverlust, Querulantentum oder eine, wie man ja vermuten könnte, psychische Störung auf das Leben eines Menschen auswirken. Und suggeriert, dass man sich von solchen Sachen wie Polizistenbeleidigung und Staatsgründungen besser fernhalten solle.

Instrumentelle und absolute Werte

Als absoluten Wert kann man all jene Werte bezeichnen, die sich in einem „happy-end“ ausdrücken (oftmals: erfüllte Liebe, Familienglück, friedliches Leben), oder die als unumstößlich gelten (wie zum Beispiel die Pressefreiheit oder die Schulpflicht).
Instrumentelle Werte dagegen sind all jene Werte, die den Weg zu einem absoluten Wert ermöglichen, wie zum Beispiel in der Aussage: „wer Deutsch sein will, muss kämpfen“, wobei die Kampfbereitschaft instrumentell ist, Deutschsein absolut.
Schwieriger dagegen sind instrumentelle und absolute Normen zu bestimmen. Unser Strafrecht zum Beispiel ist so ausgelegt, dass darin eine Verbesserungsfähigkeit des Menschen angenommen wird. Und insofern gibt es auch einen erzieherischen Grundzug bei den Strafen, die verhängt werden. Als eine absolute Sanktion, die aber in Deutschland untersagt ist, gilt die Todesstrafe. Und insofern gibt es auch in unserer politischen Landschaft keine absolute Norm, weil eben die absolute Sanktion fehlt.
Was dem Staat "fehlt", muss bei einzelnen Personen aber nicht so sein. Offensichtlich hat die Polizei, als sie vor zwei Tagen die Zwangsräumung des Hauses von Adrian Ursache durchführen wollte, bei diesem eine absolute Norm überschritten, denn er war wohl dazu bereit, einen oder mehrere Polizisten zu töten.
Für einen Philologen dagegen ist, relativ zu seiner Disziplin, dann eine Norm überschritten, wenn die Buchstabentreue nicht so gut es geht beachtet wird (der dazugehörige Wert ist das genaue Zitieren, bzw. das Begründen, warum man etwas so und so gelesen/verstanden hat). Sicherlich ist die Norm, die zwischen Philologen und Nicht-Philologen unterscheidet, nur eine relative; trotzdem gibt es Fehlinterpretationen, vor denen sich ein Philologe verwahren würde, weil er einem Nicht-Philologen doch eine gewisse Gebildetheit zutraut, die auch Methoden der Interpretation umfasst.

Der tweet von Renate Künast

Werte und Normen auseinander zu halten, das fällt vielen Diskutanten auch schwer. Renate Künast hatte nach dem Attentat in Würzburg auf Twitter geschrieben:
„Tragisch und wir hoffen für die Verletzten. Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden?“
Darüber ist dann eine Welle der Empörung hochgeschwappt. Ich frage mich, warum. Ein Menschenleben sollte doch als Wert möglichst unantastbar sein, auch als Demonstration für denjenigen, der diesen Wert missachtet. Ansonsten lässt sich aus diesem tweet herauslesen, dass Künast auch das Menschenleben der Verletzten für hoch erachtet. Wie zum Beispiel Rafael Behr zu der Aussage kommt, Künast würde suggerieren, hinter dem Vorgang würden handwerkliche Fehler stecken, also dass Künast implizit den Polizisten ein Fehlverhalten vorwirft, erschließt sich mir nicht. Noch dreister ist allerdings die Aussage von Michael Fuchs, der tweet ginge zulasten Dritter (welcher denn, fragt man sich). Und Tobias Huch von der FDP hält diese Frage sogar für beleidigend und dumm und schließt weiter, Künast hasse die Polizei.
Jetzt könnte ich noch jenen unerträglichen Artikel von Thomas Schmoll aus der Welt auseinandernehmen.
Aber ich möchte hier doch auf einen ganz anderen Wert zurückkommen, den der Buchstäblichkeit und Buchstabentreue, auch der Sachlichkeit und der vorsichtigen Interpretation. All diese Werte hat Künast, zumindest in diesem tweet, nicht verraten (also die "irgendwie dazu gehörigen" Normen verletzt). Schwieriger ist zu sagen, ob sie sie vertreten hat, denn darüber sagt der tweet uns nichts. Dagegen ist zum Beispiel der tweet von Tobias Huch – „Ich entschulde [sic!] mich für die dumme und beleidigende Frage von Frau Renate Künast. Sie hasst einfach die Polizei.“ – wohl eine Fehlinterpretation par excellence. Sachlichkeit spürt man auf keinen Fall. Wohl aber könnte man ihm Profilierungssucht oder einfach eine gewisse Idiotie unterstellen. Doch dafür ist auch dieser tweet zu kurz.

Zeigen und sagen; der performative Selbstwiderspruch

Das erinnert an das Wittgenstein-Zitat, das ich gestern in meinem Artikel zur Lesekompetenz benutzt habe:
„Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit.“
Werte und Normen lassen sich relativ leicht sagen, aber sie zu zeigen ist gelegentlich recht schwierig. Man kann Menschen in etwa daran beurteilen, wie bei ihnen gezeigte und gesagte Werte auseinanderklaffen. Und man sollte mit einiger Vorsicht an die Interpretation gezeigter Werte herangehen: diese sind, wie ich oben an dem Artikel zu Adrian Ursache gezeigt habe, keineswegs so einfach zu erschließen, selbst bei einem so langen Text nicht, und schon gar nicht, wie es bei dem tweet von Renate Künast dann so selbstverständlich getan wurde.

Muselmänner

Die Ambivalenz dieses Ausdrucks ist wohl vielen nicht bekannt. Muselmann entstammt dem Persischen, von muslim und der Pluralendung -an, also eigentlich: Muslime. In Frankreich verwendet man das Wort musulman, im Türkischen müslüman.
Nun würde mir diese Ambivalenz, zu der ich gleich komme, eigentlich gefallen, auch die gewisse Ironie, die in dieser Verwendung steckt, wäre ihr das Grauen nicht dermaßen eingeschrieben.

Die Hungernden

Wenn man durch Berlin geht, ist es schwierig, die Augen vor der wachsenden Zahl von Obdachlosen zu verschließen. Während des letzten Dreivierteljahrs bin ich immer wieder einem von ihnen begegnet, der mit einer völlig zerrissenen Hose bekleidet, mehr nackt als angezogen, ungepflegt, stinkend, in der Bahn schlief, und der gelegentlich an der gleichen Station ausstieg.
Vorletztes Jahr hatte ich von dem Essen, das in meiner ehemaligen Schule ausgeteilt wurde, einmal einen ganzen Packen bereits aufgetauter und gebratener Hühnerflügel mitgenommen und diese unter den Obdachlosen, die unter der Brücke beim Hackeschen Markt "kampieren", verteilt.
Und natürlich trifft man sie auch sonst in der Bahn: wie sie ihr Straßenmagazin verkaufen oder einfach nur betteln. Viele von ihnen sind extrem unterernährt. Ihr Blick ist teilnahmslos, ihre Stimme kraftlos, ihr Gang schleppend.

Hungerkranke

Die folgende Beschreibung stammt aus dem Buch Was von Auschwitz übrig blieb von Giorgio Agamben:
»Hinsichtlich der Krankheitssymptome lässt sich der Prozess des Hungers in zwei Phasen einteilen. Die erste war durch Abmagerung, Muskelschwächung und zunehmende Verringerung der Bewegungsenergie gekennzeichnet. In dieser Phase war noch keine größere Schädigung des Organismus eingetreten. Außer langsameren Bewegungen und einer Schwächung zeigten die Kranken eigentlich keine Symptome. Sie wiesen auch keine größeren psychischen Veränderungen auf, abgesehen von einer gewissen Erregtheit und der charakteristischen Reizbarkeit.
Die Grenze des Übergangs von der ersten zur zweiten Phase ließ sich nur schwer feststellen. Bei den einen erfolgte er allmählich, bei anderen abrupt. Annährungsweise kann man sagen, dass die zweite Phase begann, wenn der Hungernde ein Drittel seines normalen Körpergewichts verloren hatte. Neben der fortschreitenden Abmagerung und Schwächung begann sich nun auch der Gesichtsausdruck zu ändern. Der Blick trübte sich, das Gesicht bekam einen teilnahmslosen, gedankenlosen und traurigen Ausdruck. Die Augen waren glanzlos, die Augäpfel tief eingefallen. Die Haut färbte sich graubläulich, sie wurde dünner, pergamentartig, sie wurde härter und blätterte ab. Sie war sehr anfällig für jede Art von Infektionen, besonders für die Krätze. Das Haar war rau, brüchig und glanzlos. Der Kopf bekam ein langgezogenes Aussehen, die Umrisse von Jochbein und Augenhöhlen begannen sich deutlich abzuzeichnen. Der Kranke atmete langsam, er sprach leise und unter großer Anstrengung.
Je nachdem wie lange die Aushungerung schon dauerte, traten kleinere oder größere Ödeme auf. Sie erschienen zuerst auf den Augenlidern und an den Füßen. In Abhängigkeit von der Tageszeit änderten sie ihren Sitz. Morgens, nach der Erholung in der Nacht, waren sie schon im Gesicht zu sehen, abends dagegen an den Füßen, Unter- und Oberschenkeln. Die Flüssigkeit verlagerte sich durch Stehen in die unteren Körperteile. Nach längerem Hunger entwickelten sich die Ödeme immer stärker und befielen bei Häftlingen, die länger stehen mussten, der Reihe nach Unterschenkel, Oberschenkel, Gesäß, Hodensack, ja sogar den Bauch. Zu den Ödemen kam der Durchfall, obwohl es oft geschah, dass der Durchfall dem Auftreten der Ödeme vorausging.
Die Kranken stumpften in dieser Zeit ab, sie wurden gleichgültig gegenüber allem, was um sie herum geschah. Sie zogen sich aus allen Verbindungen mit ihrer Umgebung zurück. Wenn sie sich bewegen konnten, so taten sie das sehr langsam, ohne die Knie dabei einzubiegen. Aufgrund der niederen Körpertemperatur, die in der Regel unter 36 °C absank, zitterten sie vor Kälte.
Beobachtete man eine Gruppe solcher Kranker von weitem, hatte man den Eindruck von betenden Arabern. Daher kommt die populäre Lagerbezeichnung für die Hungerkranken – ›Muselmänner‹.«

Erinnern, was geschah

Ich erinnere daran, weil nicht nur der Islam in einem zum Teil kaum noch zu ertragenden Maße angefeindet wird, sondern dasselbe ohne die geringste Scheu und Nuance wieder an die Juden herangetragen wird. Und natürlich habe ich zuvor sehr bewusst auf einen aktuellen Zustand hingewiesen, der seit Jahren besteht. Diese Anfeindungen werden dann noch mit einer Frechheit vorgetragen, man habe das doch argumentativ begründet, wo man bei Adorno schon den Widerspruch lesen kann:
Wir alle kennen auch die Bereitschaft, heute das Geschehene zu leugnen oder zu verkleinern – so schwer es fällt zu begreifen, dass Menschen sich nicht des Arguments schämen, es seien doch höchstens nur fünf Millionen Juden und nicht sechs vergast worden. Irrational ist weiter die verbreitete Aufrechnung der Schuld, als ob Dresden Auschwitz abgegolten hätte.
Adorno, Theodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. in ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II, S. 556 f.
Ich verspreche an dieser Stelle, dass ich noch einmal den Gebrauch des Wortes Schuld nachzeichnen werde. Nur so viel noch von Adorno selbst:
Bei alldem jedoch hat die Rede vom Schuldkomplex etwas Unwahrhaftiges. In der Psychiatrie, der sie entlehnt ist und deren Assoziationen sie mit schleift, besagt sie, dass das Gefühl der Schuld krankhaft sei, der Realität unangemessen, psychogen, wie die Analytiker es nennen.
ebd., S. 557
Machen wir es uns also nicht so einfach, nicht zu einem Automatismus, sofort die Schuld herbeizurufen, oder sie zwanghaft abzuwehren, wenn vom Holocaust die Rede ist.

Der Tod, die Nicht-Empathie

Zwei weitere Zitate aus dem bedrückenden und bedrückend klugen Buch von Agamben:
»Der Muselmann weckte bei niemandem Mitleid und erfuhr von niemandem Herzlichkeit. Die Kameraden, deren Existenz ja selbst bedroht war, beachteten die Muselmännern nicht. Den Funktionshäftlingen brachten die Muselmänner zu viel Ärger ein, für die SS-Männer waren sie nur unnützer Abfall. Die einen wie die anderen brachten sie um, jeder auf seine Weise.«
So fielen die Hungerkranken komplett aus der Gesellschaft heraus.
»Der SS-Mann ging langsam vorbei und sah zu dem Muselmann hin, der geradewegs auf ihn zukam. Wir alle schielten nach links, um zu sehen, was passieren würde. Und dieses willenlose, gedankenlose Wesen latschte in seinen klappernden Holzschuhen dem SS-Mann direkt in die Arme. Der SS-Mann schrie und zog ihm eins mit der Reitpeitsche über den Kopf. Der Muselmann blieb stehen, er wusste nicht so recht, was geschehen war, und als er einen zweiten und dritten Hieb dafür bekam, dass er die Mütze nicht abgenommen hatte, machte er (da er Durchfall hatte) in die Hosen. Als der SS-Mann den schwarzen Fleck sah, der sich um die Holzschuhe des Muselmanns ausbreitete, geriet er außer sich. Er stürzte auf ihn zu, trat ihm in die Bauchhöhle und, nachdem er schon im eigenen Kot auf dem Boden lag, gegen Kopf und Brustkorb. Der Muselmann wehrte sich nicht. Beim ersten Tritt hatte er sich zusammengekrümmt, noch ein paar Tritte und er starb.«

Nachrichten aus der Zwischenwelt

Was also noch?
Vorhin zogen grölende und pöbelnde Menschen vorbei. Sie skandierten "Sieg heil!", und ich kann nur hoffen, dass die Polizei viele von ihnen verhaftet hat. Was für ein Abschaum!
Den Tag habe ich damit verbracht, über meine eigene Programmierung des Zettelkastens zu brüten. Das ist, wie ich feststelle, eine Herausforderung. Neulich, also vor ungefähr zwei Wochen, hatte ich innerhalb eines Tages die grundlegende Programmierung eines Zettelkastens mit PyQt5 (einem Modul der Programmiersprache Python) geschrieben. Aber mein Ziel war und bleibt es, dem unbedarften Benutzer entgegenzukommen, so dass dieser nur Python installieren muss, um ihn zu nutzen. Also greife ich auf das mitgelieferte Modul für die Grafic User Interfaces von Python zurück. Und das erweist sich als haarig: mittlerweile umfasst alleine mein Textverarbeitungsprogramm über 400 Zeilen zum Teil hoch komplexen Codes. Dabei fehlen noch eine Anbindung an die Datenbank und weitere Erleichterungen, wie etwa ein Ablagetisch oder eine komplexe Suche.
A propos komplexer Suche. Mir ist gelungen, eine solche Suche (wenn auch im Probestadium) zu programmieren. Diese durchsucht Texte nicht nach Wörtern, sondern nach Isotopien. Einziger Mangel an diesem Programm: man muss ihm vorher mitteilen, was es als Isotopie zu verstehen hat, also nicht als Isotopie als solcher, sondern aufgrund welcher Seme es ein Wort als zugehörig oder nicht zugehörig zu einer Isotopie verstehen soll. Bevor ich also eine ausführliche Suche nach einer solchen Isotopie starten kann, müsste ich vorher alle relevanten Wörter in Merkmale aufgesplittet haben. Bei knapp 700.000 Wörtern ist das eine kaum zu lösende Aufgabe. Glücklicherweise kann ich hier auf Zwischenstadien zurückgreifen.

Was habe ich gelesen?
Vieles. Beginnen wir mit dem, was implizit meinen letzten Artikel motiviert hat: Schulz, Gudrun (Hrsg.): Lesen. Didaktik für die Grundschule. Berlin 2012. Ich kann, um dies deutlich zu sagen, Lesen nicht so einfach nehmen, wie die AutorInnen dies tun. Trotzdem ist es ein hervorragendes Buch.
Slavoj Zizek habe ich gelesen, allem voran: Weniger als nichts. Frankfurt am Main 2016. Dieses Buch, so muss ich gestehen, habe ich im "Kampfmodus" gelesen: Hauptsache, ich komme (erstmal) durch; denn dieses Nichts von einem Buch ist immerhin 1374 Seiten schwer. Mit Zizek kommt man zu Hegel, und damit zu dem großartigen Buch von Charles Taylor: Hegel. Frankfurt am Main 1978.
Mit dabei war aber auch das Buch über Gewalt; Slavoj Zizek: Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen. Hamburg 2011.
Irgendwie ist Zizek ja völlig verrückt. Aber das auf einem hohen Niveau.
Von den Osterferien habe ich die Lektüre einiger Werke von Agamben nachgeholt: Was von Auschwitz übrig blieb, Signatura rerum, Die Sprache und der Tod, Das Sakrament der Sprache, Profanierungen, Ausnahmezustand. - Alles wunderbare Bücher, die ich aber nur im Schnelldurchgang kommentieren konnte.
In meinem (intellektuellen) Leben gibt es auch immer Fixpunkte, die meine Suche stabilisieren. Dazu gehört, seit Jahren übrigens, von Barbara Sandig die Textstilistik des Deutschen. Ist das Buch hervorragend? Ich kann das gar nicht beurteilen. Hervorragend ist es in meiner Wahrnehmung, insofern es mich in meiner methodischen Vorgehensweise außerordentlich prägt. Und insofern ich einen gewissen Narzissmus pflege, halte ich es auch für unbedingt lesenswert. Darum empfehle ich es. Als eine etwas schräge Antwort auf die Pöbeleien der Neonazis.

26.08.2016

Lesekompetenz

Zu einer der wichtigsten Aufgaben der Schule gehöre, so lässt sich lesen, die Vermittlung von Lesekompetenz. Dem wird wohl niemand widersprechen. Probeweise möchte ich dies hier trotzdem tun.

Doktrinen des Lesens

Die Relevanz

Immer wieder wird von einer Relevanz des Lesens gesprochen, wobei damit aber nicht das Lesen als solches, sondern meist eine bestimmte Art und Weise des Lesens gemeint ist; oft gesellen sich dazu dann auch entsprechende Aufforderungen: was zum Beispiel die Kernaussage eines Textes sei.
Nun hat der Begriff der Relevanz eine bewegte Geschichte, seit er als einer der Kernbegriffe der phänomenologischen Soziologie (Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt) auf die wissenschaftliche Bühne getreten ist. Seitdem wird das Zufällige der Relevanz immer wieder betont. Ricœur zum Beispiel schreibt:
Außerhalb der Geschichte betrachtet ist das Ereignis nichts anderes als ein Vorfall, d.h. etwas, das auf eine bestimmte Art und Weise geschieht, aber auch anders oder überhaupt nicht geschehen könnte, was die Definition der Kontingenz schlechthin ist.
Ricœur, Paul: Zufall und Vernunft in der Geschichte. Tübingen 1985, S. 11.
Und überlesen wir nicht, dass das Ereignis nicht wesenhaft relevant ist, sondern durch die Geschichte, also durch den Kontext, relevant gemacht wird. Relevanz kommt einem Ereignis nicht substantiell, sondern nur akzidentiell zu.

Bewusste Selektion

Diese Konstellation kennen wir aus der Evolution. Die Evolution ist zufällig, und zwar nicht deshalb zufällig, weil der Zufall dann umgekehrt das absolute, wesenhafte Ereignis ist (dies wäre eine simple Umkehrung der Relevanz), sondern weil sie nicht in die Logik des Systems passt, aber es trotzdem betrifft. Man spricht von einem systemrelativen Zufall.
Beim Lesen geschieht dies auch. Lehrer kennen das. Bevor ein Lesetext der Klasse unterbreitet wird, macht sich der Lehrer über die möglichen Antworten der Schüler Gedanken und legt sich Antworten dafür zurecht. Dann aber kommt eben doch ein Schüler an und hat den Text ganz anders verstanden, und der Lehrer kann nicht sagen, ob dieses andere Verstehen sinnig oder unsinnig ist. Es fällt aus der Klassifizierung heraus.

Interpretieren: was einem zufällt

Ich mag an dieser Stelle nun nicht wieder auf die zum Teil grotesken Aussagen der Interpretationshilfen zum Homo Faber zurückkommen; aber ja: Interpretationshilfen sind dem Sinn des Interpretierens genau entgegengesetzt: Interpretieren heißt, sich auf die zufälligen Wirkungen einzulassen, die einem beim Lesen kommen. Und es heißt, diese zufälligen Ereignisse nach und nach zu systematisieren, zu verbinden, in ihrer Reichweite zu erforschen.
Damit ist keine Beliebigkeit gemeint, wie man jetzt befürchten könnte. Der Zufall, ich erinnere daran, existiert nur relativ zum System. In anderen Systemen kann das zufällige Ereignis als notwendig wahrgenommen werden. Und es bedeutet auch nicht, dass man den Zufall hinzunehmen habe.

Zurück ins System?

Man kann diesen Zufall überschreiten, außer Kraft setzen, indem man die Grenzen des Systems, also die Grenzen der eigenen Logik verschiebt. Eine nicht ganz so einfache, zum Teil sogar recht unangenehme Aufgabe. Gelegentlich wird man dabei mit seinen eigenen Ängsten, seinen verborgenen Monstern konfrontiert.
Interpretationshilfen dagegen vernichten diesen Prozess. Sie schränken ein, sie lassen den Leser nicht zu sich selbst kommen. Aber das dürfte auch klar sein: interpretieren bedeutet, selbst zu denken. Interpretationshilfen nehmen einem dieses Denken weg. Und insofern helfen sie einen beim Interpretieren, indem sie das Interpretieren verhindern. Um es mit Kant zu sagen: Interpretationshilfen sind für Pinsel; Pinsel nennt man die Menschen, die eine Hand brauchen, die sie führt.

Relevanz als Moment der kulturellen Evolution

Man kann solche Begriffe wie zum Beispiel die Relevanz als metasprachliche Bezeichnung für Effekte der kulturellen Evolution begreifen. Die Relevanz bezeichnet, dass etwas ausgewählt worden ist oder ausgewählt werden soll; sie bezeichnet, mit anderen Worten, die Selektion als Prinzip.
Als Begriff des Tadels (du hast die Bedeutung/Relevanz des Textes nicht begriffen) ist sie zugleich Prinzip der Variation (lies den Text unter anderen Gesichtspunkten).
Einigt man sich auf eine bestimmte Relevanz, stabilisiert man das Milieu der Aussagen (also die Interpretation). Zugleich erschafft man sich damit eine eigene Logikblase, und eventuell eine, die eine größere Anzahl von Menschen umfasst (das, was ich im Anschluss an Antonio Gramsci Hegemonie nenne).

Der literarische Kanon

Roland Barthes stellt in einer kurzen Rede zwei Strategien oder Techniken vor, um eine solche Relevanz zu erzeugen: die erste ist der literarische Kanon, der allerdings in einer Zeit, in der Bücher den Modeartikeln ähnlich geworden sind, sich auf ein „Das musst du gelesen haben!“ beschränkt. Einstmals diente der literarische Kanon dazu, bestimmte Ideen zu tradieren. Und natürlich ist es augenfällig, dass sich Subkulturen, zu denen auch die wissenschaftlichen Disziplinen gehören, um eine gewisse Anzahl genau bestimmter Bücher herausbildet: die Bibel, der Goethe, die Werke Sigmund Freuds, das MEW. Der eine Schule begründet, muss des Schreibens (eines Werkes) mächtig sein.

Denotation werden …

Die andere Strategie, die Leseereignisse einzuschränken und gefügig zu machen, lassen sich unter vielfältigen Begriffen zusammenfassen: hier ist es, bei Barthes, die Denotation. Ich bezeichne dieses gerne als einen Zustand der Bequemlichkeit und der Feigheit. Das ist allerdings nicht ganz richtig.
Tatsächlich gehört es zu den Strategien der guten Lektüre, aus den Zufällen des Lesens, also eigentlich den Zufällen der Gedanken, die einem beim Lesen kommen, etwas Systematisches zu machen, also die Konnotation durch Systematisieren in eine Denotation zu wandeln. Den Zufall zu systematisieren bedeutet, siehe oben, die Grenzen des eigenen Denkens und der eigenen Logik zu überschreiten (eine solche Technik hat also weder etwas mit Willkür noch mit Anarchie zu tun).
Des weiteren gilt es, genau darauf zu achten, dass die Logik immer im Denken stattfindet. Sie ist dem Denken immanent.

… aber nicht Denotation sein

Wer das nicht beachtet, wer diese Innerlichkeit in der Äußerlichkeit wiederzufinden meint, landet in paranoiden Systemen. Dies kann man bei allen Formen des Populismus' beobachten, sei dieser nun rechts oder links oder was auch immer (ich bevorzuge die Bezeichnungen bürokratischer, nationaler und ökonomischer Populismus, entlang den drei großen menschenverachtenden Systemen des Stalinismus, des Nationalsozialismus und des Kapitalismus).
Den Zufällen des Denkens nachzuspüren, das ist wohl auch die Aufgabe des aufmerksamen Lesers, des aufmerksamen Interpretens. So gesehen ist Lesen Selbsterfahrung und Selbstveränderung. Wer sich dem nicht aussetzt, macht sich der Bequemlichkeit, eventuell sogar der Feigheit schuldig.

Logikblasen

Was ist falsch an der Denotation?

Vielleicht gar nichts. Die Denotation ist jener Teil unseres sprachlichen Systems, der als objektiv markiert ist. Er bietet Verlässlichkeit. Verlässlichkeit ist nicht Wahrhaftigkeit und auch nicht Wahrheit. Verlässlichkeit ist vor allem ein soziales Moment. Mit ihm zeigt man, dass man sich auf eine Vergangenheit geeinigt hat, von der aus man weiter machen kann. Ohne eine solche Vergangenheit ist die Zukunft so unterdeterminiert, dass längerfristige Ziele gar nicht verfolgt werden können: Sie werden zu unsicher.
Unter dieser Verlässlichkeit taucht der Vertrag auf, der als eine Art Gesellschaftsvertrag bezeichnet werden kann.

Die Evolution des Vertrages

So gesehen ist der Gesellschaftsvertrag kein Produkt der Rationalität, sondern der kulturellen Evolution. Menschen neigen dazu, füreinander Verlässlichkeiten herauszubilden. Es scheint so, als gäbe es aus einer biologischen Notwendigkeit heraus, der Absorption von Unsicherheit, Vertragsbildungen (und ich spreche hier bewusst im Plural) vor jeglichem rationalen Vertrag. Man höre hier bitte auch, dass solche Verträge zwar auch auf biologischen Bedingungen beruhen, aber deshalb keineswegs biologisch sein müssen.

Der Gender-Begriff

Das erste und einzige Mal, da ich mich ganz bewusst von dem Gebrauch des Wortes „frauenfeindlich“ distanziert habe, war und ist beim Homo Faber. Es gibt bezüglich des Themas gender eine Gefahr, die jenseits der rechtspopulistischen Kritik an der sogenannten „gender-Ideologie“ existiert. Ich hatte mehrfach darauf hingewiesen, und bin nicht nur gelegentlich, sondern geradezu systematisch auch missverstanden worden.
Ich habe überhaupt kein Problem mit dem gender-Begriff. Ich habe früher schon gezeigt, dass er sich durchaus biologisch rechtfertigen lässt (und bisher bin ich noch nie deswegen von einem echten Biologen eines Besseren belehrt worden, abgesehen von Kutschera, über den ich mich dann lustig mache).

Die Gender-Ideologie

Trotzdem habe ich mich gelegentlich auch gegen ihn gewandt. Das ist bei all jenen Artikeln gewesen, von denen ich glaubte, dass dort der gender-Begriff einfach nur gesetzt worden ist. Natürlich ist es erlaubt, einen Begriff zunächst zu postulieren. Ihn aber nicht ableiten zu können, oder die Ableitung darstellen zu können, das erscheint mir als unwissenschaftlich und als schlechte Ideologie.
An einem solchen Vorgehen ist nicht nur kritisierenswert, dass es sich nicht durch Argumentation, sondern durch Dogmatismus halten müsste (und dies gelegentlich ja auch tut), sondern dass die Vertreter eines solchen Begriffs den Prozess gesellschaftlicher Aufklärung verkennen: selbst wenn der Begriff legitim ist (und nichts anderes behaupte ich ja), muss er so lange in der Öffentlichkeit diskutiert werden, und kontrovers diskutiert werden, bis er auf eine breite Verlässlichkeit stößt.

Die Gender-Theorie

Umgekehrt ist es natürlich eine Frechheit, wenn man sich aufgrund einiger, auf mangelnde Beschäftigung beruhende Aussagen gegen die gender-Theorie wendet. Es liegen mittlerweile genügend Werke vor, die zu lesen sich lohnt. Wer die gender-Theorie kritisiert, und damit natürlich auch ein wichtiges moralisches Feld, hat eine gewisse Fürsorgepflicht. Fürsorge im Hinblick darauf, dass er (oder sie) solche Werke liest (und bitte schön: gründlich liest), und Fürsorge im Hinblick auf die Öffentlichkeit, seine Gedankengänge und Argumentationslinien zur Diskussion zu stellen. Einfach nur zu behaupten, die gender-Theorie sei eine Ideologie (was an sich schon eine dummdreiste Behauptung ist) und dann in einen blinden Aktionismus auszubrechen, das ist wohl die Anti-Aufklärung schlechthin. Dummheit und Faulheit waren eben noch nie gute Ratgeber.
Und damit darf ich hier ein kleines politisches Bekenntnis abgeben: weder werde ich die AfD noch die Grünen wählen, und zwar nicht aus gegensätzlichen Gründen, sondern aus den gleichen. Zumindest nicht, was den Umgang mit dem Gender-Mainstreaming angeht. Sollte ich die eine oder andere doch wählen (was unwahrscheinlich ist), dann, weil man letztlich bei jeder Partei Abstriche machen muss.

Logikblasen

Aber das sind alles nur Nebensächlichkeiten. Der Stammtisch hat sich noch nie durch Gründlichkeit oder Wissenschaftlichkeit ausgezeichnet, ob dort nun Prosecco oder Bier getrunken wird.
Es ist eine Beobachtung, die ich bei kleinen Studiengängen, mit denen der Kriminologie, der Verhaltensgestörtenpädagogik oder derzeit auch der Didaktik der Informationstechnologie beobachte: auf der einen Seite bekommen diese zu wenig Forschungsgelder, um weitreichende Untersuchungen anzuleiern, und auf der anderen Seite kennt man sich gegenseitig (zumindest im deutschsprachigen Raum): es scheint zu wenig Variation und zu viel Stabilisierung zu geben; die Forschung bewegt sich kaum weiter, und ebenso wenig die Theorie.
Das erweckt den Anschein, als würden diese kleinen Wissenschaften auf der Stelle treten und ihre eigenen Subsysteme gegen Anforderungen von außen abschotten.
Allerdings ist es nicht ganz so einfach. Denn natürlich kann man hier den Vorwurf machen, dass diese Wissenschaften in ihrer eigenen Logikblase stecken bleiben. Doch das ist nicht die erste Frage, die man sich stellen muss. Fraglich ist doch, ob man jemals einem System entkommt, was den Vorwurf der Logikblase nicht mehr verdient.

Zurück zur Relevanz

Noch einmal: was heißt Relevantes lesen?

Wir können nun feststellen, dass der Begriff der Relevanz zwar nicht dem interpretierten Text immanent ist, aber auf ein Verhältnis verschiedener Interpreten eines bestimmten Textes hinweist (zum Beispiel auf das Verhältnis von Lehrer und Schüler).
Zudem können wir feststellen, dass der Begriff der Relevanz ambivalent ist: nur indem er die Zukunft einschränkt (gleichsam dogmatisiert), ermöglicht er eine gewisse Verlässlichkeit. Und so bleibt es der Gesellschaft oder bestimmten Gruppen überlassen, über den Sinn und Unsinn einer Relevanz zu diskutieren, zum Beispiel: ist es wichtig, dass sich der Islam säkularisiert? Ist es wichtig, Computer von Beginn an im Unterricht zu nutzen? Ist es wichtig, demokratisch verträglichen Randgruppen (wie zum Beispiel Homosexuelle) eine besondere Plattform für die Sichtbarkeit zu geben (zum Beispiel den Christopher Street Day)?
Und natürlich gibt es dann auch noch die zahlreichen Relevanzen, die vielleicht nicht ganz so wichtig sind: was zum Beispiel bedeutet die Weide in Christa Wolfs Roman Kassandra? (Obwohl, wie ich gestehen muss, das für mich eine sehr schöne Frage ist.)

Wie zeigt sich Logik? Argumentation und Idee

Ich hatte mal zu Dobelli geschrieben (Hacker, Toaster, Zoe Beck und Dobelli), dass sich Argumentationen immer nur in Bezug auf Ideen als richtig oder als falsch erweisen. Man kann dies etwas präziser sagen, als ich es damals getan habe.
Argumentationen bestehen zunächst aus einer Sammlung von Urteilen (und ich meine dies hier in streng logischem Sinne als die Zuweisung eines Prädikats zu einem Subjekt, wobei das Subjekt irgend ein Begriff sein kann, während das Prädikat ein Merkmal ausdrückt). Weiterhin bestehen sie aus Schlussfolgerungen, zu denen die ableitende Regel und der Schluss gehört. Günstigstenfalls ist das Urteil ein Wahrnehmungsurteil (die Rose ist rot), schlechtestenfalls ist es eine Meinung (die gender-Ideologie ist unsinnig). Die Idee drückt sich in der Wahl von Urteilen ebenso aus, wie in der Wahl der ableitenden Regel. Dementsprechend ist dann auch der Schluss ideologisiert. Wollen wir also zu einer spezifischen Logik eine genauere Aussage treffen, dann müssen wir von einer inhaltlichen Betrachtung der Argumentation zu einer genetischen Betrachtung übergehen: wie überhaupt ist es zu einem solchen Urteil gekommen? Was sind die Bedingungen dafür, dass ein solches Urteil auftaucht?

Wie zeigt sich Logik? Enthymeme und kulturelle Grenzen

Folgt man den Theorien der kulturellen Evolution (wie ich dies hier tue), kann man diese Bedingungen nicht in einem metaphysischen Bereich finden, sondern in den Dispositionen vergangener Zeiten. Zudem muss man, wie ich oben ausgeführt habe, davon ausgehen, dass es in jeder Kultur Bindungen gibt, die der Rationalität der betreffenden Kultur nicht ohne erhebliche Mühen zugänglich sind. Diese habe ich, im Anschluss an Aristoteles, Enthymeme genannt: fraglos gewordene Überzeugungen.
Eine solche Behandlung der Logik muss sich eine gewisse Paranoia bewahren: wenn sie schon keine menschlichen Akteure auf den Hinterbühnen erwartet, so doch eben jene Enthymeme, die im Verborgenen wirken. An sie zu rühren bedeutete, an den Grenzen der jeweiligen Kultur zu rütteln. Und in diesem Sinne ist die Aufklärung jenes Unternehmen, was sich beständig selbst überwinden muss.

Status eines Softskills: die Lesekompetenz

Was aber hat das alles mit der Lesekompetenz zu tun, von der ich zu Beginn so viel, und jetzt scheinbar gar nicht mehr gesprochen habe?
Nun, zunächst kann man feststellen, dass sich im akademischen Bereich (und gelegentlich auch im populären) Lesekompetenz dadurch ausdrückt, dass man einen Text zustimmend liest, aber auch dadurch, dass man ihn widerlegend liest. Lesekompetenz drückt sich damit durch zwei sich widersprechende Ergebnisse aus.
Sammelt man dann Methoden des Lesens, philosophische, literaturwissenschaftliche, kreative, findet man ein ganzes Bestiarium (oder Herbarium) solcher Verfahrensweisen.
Und mit Rücksicht auf die kognitive Psychologie kann man schließlich von Assimilationsschemata sprechen, aus denen sich die Lesekompetenz zusammensetzt, und zum Teil sehr verschieden zusammensetzt. Ein Slavoj Zizek liest Hegel komplett anders als ein Gilles Deleuze. Eine generelle Lesekompetenz wird man beiden aber wohl schwerlich absprechen können.

Lesekompetenz und Assimilationsschemata

Ich gehe nun davon aus, dass sich die Lesekompetenz nicht wirklich fassen lässt. Sie setzt sich aus zu vielen solcher Schemata zusammen; sie strukturiert sich auch je unterschiedlich (manche Leser verschaffen sich zunächst einen Überblick über einen Text, andere lassen sich eher von einzelnen Stellen faszinieren, usw., auch wenn beide sowohl des Überblicks als auch der Mikrolektüre fähig sind). Es käme also darauf an, die Lesekompetenz nicht an einer bestimmten Vorgabe festzuhalten, sondern an einer hinreichend großen Anzahl solcher Assimilationsschemata. Aber wie relevant sind solche Assimilationsschemata für sich genommen: welche Rolle spielt es, dass ich zu Beginn von Kassandra an das Hier und Jetzt aus Hegels Phänomenologie des Geistes denke, am Ende aber an den Homo Faber, der mit dem gleichen Satz endet wie Wolfs Kassandra? Und was daran ist nun genau die Lesekompetenz? Besteht sie darin, überhaupt Verbindungen zu ziehen, oder besteht sie darin, genau diese Verbindung zu ziehen?
Roland Barthes schreibt dazu im bereits zitierten Artikel:
… ich weiß nicht, ob das Lesen nicht grundlegend ein vielzähliges Feld aufgesplitterter Praktiken und irreduzibler Effekte ist und folglich die Lektüre der Lektüre, die ›Metalektüre‹, selbst nichts anderes als ein Aufblitzen von Ideen, Ängsten, Wünschen, Lustempfindungen und Unterdrückungen, von dem es nur fallweise, gleichsam im Plural … zu sprechen gilt.
Barthes, Roland: Über das Lesen. in Barthes, Roland: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt am Main 2005, S. 33

Wie zeigt sich Logik? Zeigen und Sagen

Das Problem der Sprache (und damit das Problem des Lesens) findet sich in den verschiedenen Ebenen, die die Sprache durchkreuzen. Nur zu gerne erinnere ich daran, wie Roman Jakobson und Claude Lévi-Strauss über Seiten hinweg das zwölfzeilige Gedicht ›Les Chats‹ von Baudelaire beschreiben, woraufhin die Antwort von Michel Riffaterre noch umfangreicher ausfällt.
Man fühlt sich hier daran erinnert, was Wittgenstein zur Sprache geschrieben hat:
Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit.
Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, 4.121
Der sprachliche Ausdruck zeigt die logische Form, aber sagt sie nicht. Und demnach entgleitet die logische Form immer wieder der inhaltlichen Darstellung. Damit ist die Logik aber seltsamerweise nicht mehr der beruhigende Grund, auf den sich eine (mehr oder weniger) wissenschaftliche Diskussion verlassen kann, sondern eine beunruhigende Kluft, über die sich die eine Logik mit der anderen Logik nur in Form von Tautologien und Missverständnissen austauschen kann.
Lesen wäre, sofern es nicht mechanisches Lesen sein soll, eine Folge von Missverständnissen und Fehllektüren. Oder, um dies in der ganzen paradoxen Erscheinung zusammenzudampfen: Lektüre ist Fehllektüre, dank der Kluft zwischen Zeigen und Sagen. (Siehe dazu auch: Form und Übersetzung, Sprachen lernen)

Ein Kanon der Leseverfahren? - Schulbücher

Grundsätzlich bekenne ich mich dazu, die neuen Schulbücher zu lieben. Sie sind keinesfalls, wie dies Ursula Sarrazin vor einigen Jahren behauptet hat, anspruchsloser geworden, im Gegenteil. Ab der zweiten Klasse findet man in jedem Schulbuch methodische Hinweise, zum Teil ganze Methodenseiten, und so natürlich in den Deutschbüchern auch Seiten zum Training der Lesekompetenz. Hier werden Methoden eingeübt, wie zum Beispiel den wesentlichen Begriff eines Absatzes zu identifizieren, dem Absatz eine Überschrift zu geben, aus einer kurzen Geschichte den wesentlichen Konflikt und das Moment, in dem dieser Konflikt gelöst wird, zu identifizieren. Und schon in der zweiten Klasse leiten die Schulbücher auch dazu an, die Ergebnisse zu vergleichen und zu hinterfragen, also kritisch mit den eigenen und den fremden Leistungen umzugehen.

Individuelle Leseverfahren

Soviel zum Lob. Und trotzdem: ganz verlassen dürfen wir uns auf die Schulbücher nicht. Schon die Kinder in der ersten Klasse bringen eine ganze Menge Assimilationsschemata mit. Und eine ganze Reihe dieser bereits erworbenen Muster eignen sich hervorragend zur Interpretation von Texten und dem Verfassen von Geschichten, selbst wenn die Schüler noch nicht schreiben können. Von all dem wissen die Schulbücher nur im Allgemeinen, nicht im Besonderen. Hier ist es gelegentlich die Aufgabe des Lehrers, solche Lesemuster aufzugreifen und für die Klasse fruchtbar zu machen, obwohl sie gerade nicht im Schulbuch enthalten sind.
Ein gewisser Kanon ist also sinnvoll, weil man sich so auf Gemeinsames verlassen kann. Aber eine gewisse Variation ist auch nicht schlecht. Manchmal, so darf ich gestehen, ist es einfach bezaubernd, was Kinder aus Texten machen, die man als sehr simpel bezeichnen würde. Genau das gilt es zu würdigen, mit und gegen den Kanon.

Zum Abschluss: die unsinnigen Diskussionen

Im Internet findet man mittlerweile so zahlreich Diskussionen, die eigentlich nur noch aus der gegenseitigen Beleidigung der Diskutanten bestehen, dass man nicht explizit auf eine bestimmte Seite verweisen muss. Ich tue es an dieser Stelle trotzdem. Es gibt von Harald Lesch ein Video, in dem er die Aussagen der AfD zum Klimawandel kritisch begutachtet. Er kommt zu dem Schluss, dass die AfD sich hier höchst unwissenschaftlich verhält. Das hat natürlich zu sehr viel Unmut, aber auch zu sehr viel Fürsprache geführt. Und egal, ob Harald Lesch recht hat oder nicht, und egal, ob die meisten dieser darunter stehenden Aussagen einfach nur Beleidigungen sind oder doch irgendwie zu einer sinnvollen Diskussion gehören: die Aufforderung, seine Aussagen zu begründen, zielt nicht nur darauf, ob diese inhaltlich richtig sind, sondern darzulegen, wie jemand zu diesen Aussagen kommt, also sich selbst zu begründen.
Diese Aufforderung ist nicht unsinnig, sondern vielleicht sogar das Wesentliche an solchen Diskussionen: nur darüber lässt sich genauer sagen, mit welcher Sorgfalt ein Diskutant bestimmte Aussagen zu betrachten bereit ist. Auch hier geht es zunächst nicht um das Ergebnis als solches, sondern um die Lesekompetenz. Auch hier geht es um die darunterliegenden, unausgesprochenen Verträge. Und natürlich geht es um die Idee, die sich in einer solchen Lesekompetenz anzeigt.

25.08.2016

Die Fabel hinter der Fabel

Die Fabel hinter der Fabel, – so heißt ein einigermaßen berühmter Aufsatz von Michel Foucault. Fabel, so lässt sich hier der Begriff verstehen, bedeutet dasselbe wie bei den Schriftstellern der Plot: die wichtigen Handlungen einer Geschichte. Foucault berichtet nun in diesem Aufsatz, wie sich hinter der Fabel, in ihrem Erzählt-Werden, weitere Stimmen mischen, manche ganz vordergründig, als jemand, der zwar anonym bleibt, aber doch vom Geschehen berichtet, als sei er gerade dabei. Andere treten zurück, tauchen gelegentlich auf, sprechen in kurzen und seltenen Sätzen. „Eigentlich …“, schreibt Foucault,
müsste man alle diese hinter der Fabel agierenden Stimmen untersuchen, in deren Wechselspiel und Kämpfen die Fiktion Gestalt annimmt.
(Foucault, Michel: Die Fabel hinter der Fabel. in ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main 2003, S. 203)

Drei verdeckte Fabeln

Spricht man aber von verdeckten Fabeln, so kann man nicht nur von einer Fabel ausgehen, der Fabel des Erzählens, sondern von dreien, die hinreichend unterschieden sind. Dies sind (1) die Fabel vom Erzähler, (2) die Fabel, die aus einer anderen Fabel entsteht, und (3) die Fabel, aus der sich andere Fabeln ableiten.

Io, Maia, Syrinx, Juno

Zunächst dürften uns hier all jene Erlebnisse einfallen, in denen uns jemand etwas erzählt hat, oder wo wir dabei waren, etwas zu erzählen. Tatsächlich taucht die Erzählung vom Erzähler schon sehr früh in der Literatur auf, als Erzählweise und Erzähltechnik. Denken wir an solche Werke wie zum Beispiel Ein Ehepaar erzählt einen Witz, von Kurt Tucholsky, oder daran, wie Gandalf im Fangorn-Wald Aragorn, Legolas und Gimli von seinem Kampf gegen den Balrog und seinem Sieg berichtet.
In Ovids Metamorphosen findet sich diese Technik auf vielen Seiten. Im ersten Buch verführt Jupiter Io (568-750), und um diese vor seiner eifersüchtigen Gattin zu verbergen, verwandelt er sie in eine Färse. Diese ist wunderschön. Juno begehrt sie für ihre Herde, und Jupiter muss sie, notgedrungen, überlassen. Io wird nun von Argus bewacht, der über hundert Augen verfügt; immer nur zwei von ihnen schlafen. Jupiter möchte Ios Leiden beenden und schickt seinen Sohn Mercurius/Hermes (den er zusammen mit Pleias, bzw. Maia zeugte), den Argus zu überlisten. Dieser nähert sich dem Hirten und zeigt ihm die Panflöte, bzw. Syrinx. Dem Argus erzählt Hermes nun, wie die Syrinx erfunden wurde. Syrinx war eine arcanische Nymphe, der der Gott Pan nachstellte. Sie floh, aber Pan holte sie an den Ufern des Ladon ein (einem Fluss auf der spartanischen Halbinsel, nahe Olympia und nördlich von Sparta). Daraufhin erflehte Syrinx die Hilfe ihrer Schwestern, der Flussnymphen. Diese verwandelten sie in ein Schilf, aus dem Pan dann die Flöte erschuf, um ihrer Stimme immer nahe zu sein.
Während Hermes also die Geschichte erzählt, schläft Argus tatsächlich ein. Daraufhin tötet der Götterbote Junos Hirten.

Die Fabel des Erzählers

Sicherlich ist es nicht ruhmreich, wenn der Zuhörer beim Erzählen einschläft. Doch umso schärfer lenkt dies den Blick darauf, was eine Erzählung noch ist: eine Strategie, die vom Erzähler aus den Zuhörer zum Objekt degradiert und ihn dafür mit Selbstvergessenheit „belohnt“ – Hermes schneidet Argus die Gurgel durch, dem Ort, an dem rein physikalisch die Stimme entsteht. Wie strategisch Erzählungen sein können, und wie sehr sie sich in die Realität einmengen, erzählt ein Roman von David Ignatius, Body of Lies. Hier erfindet der Anti-Terror-Spezialist Roger Ferris um den Architekten Omar Sadiki eine Geschichte, die ihn (Sadiki) in Kontakt mit einem Terroristen bringen soll, den die CIA seit langer Zeit vergeblich sucht.

Die Fabel einer anderen Fabel

Damit sind wir beim umgekehrten Fall. Der Fabel, die der Erzähler erzählt, geht eine andere Fabel voraus. Die einfachste Form einer solchen Abfolge ist die Verkettung von Geschichten, die nur lose in eine Gesamtgeschichte eingebunden sind. Typisch dafür sind alte Ritterepen. Ovids Metamorphosen dagegen erweisen sich schon als recht kunstvoll. Manche dieser Fabeln verketten sich tatsächlich in Form eines Verlaufes, andere wieder erläutern Nebenhandlungen, wieder andere, wie hier die Geschichte der Syrinx, erläutern etwas (wie es zur Erfindung der Syrinx kam), aber sind auch Teil der Gesamthandlung.
Man kann aber über die Jahrhunderte beobachten, wie die Erzählung, die auf einer anderen Erzählung beruht, zunehmend einen strategischen Platz einnimmt. Sie verkleidet die direkte Kritik, wo diese nicht möglich ist (Lafontaines Fabeln); sie drückt die Perspektive aus, die ein Mensch in der Welt „erzeugt“, um sie mit anderen Perspektiven zu kontrastieren: die Geschichten werden psychologisch und sozialkritisch. Schließlich wandern all die Gespenster, die im Auftrag der Moral Rache ausüben oder an Pflichten erinnern, in den persönlichen Bereich ab: es sind selbst Opfer widriger Umstände, und man besiegt sie nicht mehr, indem man ihren Namen ausspricht, sondern indem man ihre Geschichte kennt und das geschehene Unrecht rückgängig macht. Dann, Mitte des 19. Jahrhunderts, kehren die Gespenster in die reale Welt zurück: als Verbrecher. Der Mordfall ist die Fabel einer anderen Fabel par excellence. Der Tathergang ist die unsichtbare Stimme, die der Krimi orchestriert.

Die aus der Fabel abgeleitete Fabel

Aus den Metamorphosen kommt eine andere Geschichte zu uns, die uns seit einem Jahrhundert begleitet: die des Narcissus (III. Buch, 340-510), aus der Sigmund Freud dann seine eigene Fabel macht. Allerdings, dies muss man Freud und der gesamten Psychoanalyse zugestehen, hat die Populärpsychologie aus dem Narzissmus das traurige Echo einer längst vergessenen hermeneutischen Kunst gemacht. Freilich ist die Populärpsychologie geschwätzig, darin gleicht sie der Nymphe Echo. Und wie die Nymphe Echo scheint sie nur die letzten und darum missverständlichen Worte wiederholen.

Tiresias

Vergessen wir nicht, was der Fabel des Narcissus vorhergeht. Juno möchte Jupiter der Untreue überführen und beschwatzt Semele, sich eine Gabe von Jupiter zu erbeten. Er verspricht dies, woraufhin Semele sich, wie Juno ihr das eingeflüstert hat, wünscht, Jupiter möge sich ihr in seiner wahren Gestalt nähern (d.h. mit ihr Geschlechtsverkehr zu haben); dies ist, laut Ovid, der Blitz. Doch obwohl Jupiter zu seiner leichtesten Form greift, erträgt die Sterbliche das göttliche Feuer nicht; das unreife Kind, das aus dieser Zeugung entstanden ist, lässt sich Jupiter in den Oberschenkel einnähen und trägt es aus. Daraus entsteht Bacchus, der zweimal geborene Gott.
Auf diese Episode folgt ein Wortwechsel zwischen Jupiter und Juno, bei der Jupiter behauptet, dass die Frauen zu größerer Lust fähig seien als die Männer. Juno verneint das. Daraufhin beschließt man den Tiresias zu fragen: der kannte Venus auf beiderlei Seiten. Denn Tiresias schlug einst zwei mächtige Schlangen, die sich im Walde paarten, und wurde daraufhin für sieben Jahre zur Frau. Er wandelte sich zurück, als er die beiden Schlangen erneut schlug. In dem Streit zwischen Jupiter und Juno stimmte Tiresias Jupiter zu. Dies ärgerte Juno so sehr, dass sie dem Mann das Augenlicht nahm. Zum Ausgleich schenkt Jupiter dem Blinden die Sehergabe. Und genau dies lässt ihn dann auch das Schicksal des Narcissus verkünden: der Knabe werde ein hohes Alter erreichen, wenn er sich fremd bleibe.

Echo und Narcissus

Der Niedergang des Narcissus ist dann schnell erzählt: kein Mensch, kein Jüngling und kein Mädchen vermag ihn zu rühren. Während der Jagd nach Hirschen begegnete er der Nymphe Echo, die durch Juno dazu verdammt ist, nur das zu wiederholen, was zu ihr gesagt wird. Narcissus täuscht sich zunächst, als er meint, ihm würde jemand Gleichgesinntes antworten. Darüber täuscht Echo sich, dass Narcissus sie wirklich lieben würde, und gibt sich ihm zu erkennen, worauf er sie flieht und sie kränkt. Echo zieht sich zurück, margert ab und lässt nur ihre Stimme und ihre Knochen zurück.
Narcissus lässt sich so wenig von anderen Menschen berühren, dass ihn schließlich der Fluch eines Verschmähten trifft: Möge er selbst so lieben und nie das Geliebte besitzen. – Wieder auf der Jagd beugt sich Narcissus über einen Quell, erblickt sich selbst darin; diesem Trugbild sitzt Narcissus auf: Möglich scheint die Berührung: die Liebenden trennt nur ein Kleines. Schließlich aber erkennt er die Täuschung: Liebe zu mir verbrennt mich: ich schüre die Glut, die ich leide. … Mein ist, was ich ersehne; ich möchte mich schenken und kann nicht. – Was nun oft vergessen wird, ist, dass Narcissus nicht einfach zu einer Blume wird, sondern sich den Leib zerschlägt und schließlich - in der Morgensonne - „zerrinnt“. Das ist der Moment, in dem Echo wieder auf der Bühne erscheint: Sie erblickt Narcissus, der weiterhin in seinem Spiegelbild „gefangen“ ist, und wiederholt, erzwungenermaßen, nun sein Gejammer. Von Narcissus wird weiter erzählt, dass er sich sogar noch in den Wassern des Styx selbst betrachtet, während sein Körper zur Narzisse wird.

Die Strukturen der Fabel

Mit dem Schriftgebrauch verkompliziert sich die Erzählkunst. Zwar gibt es immer wieder Sammlungen einfacher Fabeln, 1001 Nacht (die in ihrer ursprünglichen Fassung vornehmlich erotische Geschichten waren, und denen Sindbad, Ali Baba, und das Märchen vom Geisterkönig nicht angehören: diese wurden von einem französischen Übersetzer der Werke hinzugedichtet), das Dekamerone, die Hausmärchen, des Knaben Wunderhorn (und falls euch dabei lustige Gedanken kommen: die sind berechtigt). Aber im Allgemeinen wurden die Fabeln komplexer. Sie stehen nicht mehr nur nebeneinander, sondern vermischen und verschlingen sich.
Natürlich gibt es noch relativ klare Gliederungen. In jeden Thriller sind kleinere Fabeln eingelagert, die von Verlust und Niederlage erzählen: sie bilden eine Kette. Viele Fabeln erzählen aber auch, und zugleich mit der Verkettung, das Auffinden der verlorenen Fabel, sei es, dass ein Verbrechen gelöst wird, indem der Tathergang rekonstruiert wird, sei es, dass ein Thriller zugleich nach und nach darlegt, wie ein Mensch zum Serienkiller wurde, sei es, dass das düstere Geheimnis einer der Hauptpersonen nach und nach aufgedeckt wird: er ist ein Werwolf, ein flüchtiger Milliardärssohn, ein ehemaliger CIA-Agent, der Landesverrat begangen hat - natürlich aus positiv ethischen Gründen. Selbst ein so lächerlicher Film wie Dantes Peak stützt sich auf eine (sehr magere) Hintergrundgeschichte: die Freuden des Vulkan-Werdens. Und umgekehrt wird das Erzählen selbst zu einer Fabel (noch ein berühmtes Beispiel: Momo von Michael Ende).

Die Metamorphosen der Analogie

Was Ovids Metamorphosen zu einem solch komplexen und reichen Werk machen, ist allerdings nicht nur das Gewirr an Geschichten, die darin eingelagert sind. Oftmals entsprechen sich Geschichten einander, aber nie vollständig. Sie tauchen in immer neuen Variationen auf. Nicht nur Freud leitet aus der Fabel seine eigene, neue ab, sondern Ovid selbst verändert, kontrastiert, verwebt; wie etwa die Spiegelung des Narziss im Wasser und die Wiederholung durch die Nymphe Echo sich angleichen, ohne vollständig gleich zu sein; wie etwa Jupiter seinen Oberschenkel zur Gebärmutter ausgerechnet für Bacchus (den Gott des Weines und der Exstase) umfunktioniert; wie der Streit über das Mehr an Genuss zwischen Juno und Jupiter zu Tiresias führt, der beide Seiten der Venus erfahren habe, dann aber sein Augenlicht genommen und eine prophetische Stimme verliehen bekommt, mit der er ausgerechnet das Schicksal des Narcissus kündet. Beständige Verschiebung und Variation des Themas Blick/Stimme.
Wir sehen also drei mögliche Formen, eine Geschichte komplexer zu gestalten: Verkettung, Hintergrundgeschichte/Erzählergeschichte, Variation.