19.10.2016

Nach innen und nach außen gerichteter Patriotismus

Patriotismus bleibt ein seltsames Wort. Ich wollte mich eigentlich nicht so sehr damit beschäftigen, zumindest nicht derzeit, jedoch hat mich eine ganz andere Arbeit zu einem Satz zurückgeführt, der in sich selbst so komplex ist, dass er als gutes Beispiel dafür dienen kann, dass für eine Satzbedeutung der Kontext eine geradezu tragende Rolle spielt.

Visualizing Big Data

Um die Relevanz dieses einen Satzes verstehen zu können, also seine Relevanz für mich, muss ich zunächst erklären, wie ich auf diesen Satz gestoßen bin, und welche Rolle er (zusammen mit einer ganzen Menge anderer Sätze) bei meiner aktuellen Arbeit spielt.
Weiterhin arbeite ich an einer semantischen Analyse mittels eines Programmes. Dazu habe ich mir einige grundlegende Techniken ausgesucht, die mir günstig erschienen. Und zunächst sollte es ja nur eine Bewertung der semantischen Rollen von Satzteilen werden. Diese kann man in gewisser Weise recht schematisch anwenden, und was schematisch anwendbar ist, lässt sich auch relativ leicht programmieren. Also relativ leicht, denn ich hatte einige Probleme, meinem Programm beizubringen, Kasus und Genus der Objekte zu erkennen.
Tatsächlich ist das Ergebnis aber gar nicht so interessant, wenn man aus diesen einzelnen Satzanalysen nicht größere Zusammenhänge bildet. D. h., ich bin, nachdem ich die grundlegende Programmierung fertiggestellt hatte, auf das nächste Problem gestoßen, wie man nämlich zu halbwegs tauglichen Mustern findet, die auf der einen Seite der Semantik zugehören, auf einer anderen Seite relativ stabile Einheiten bilden, und die schließlich darstellbar sind.
Was die relativ stabilen Einheiten angeht, so handelt es sich hier ein altes Problem, nämlich das der Textmuster. Ich habe in der Vergangenheit, wenn auch nicht allzu oft, darüber geklagt, dass Textmuster äußerst unsichere Ganzheiten sind; vermutlich liegt das daran, dass Textmuster nicht auf festen Grundlagen aufgebaut sind, wie dies bei Satzmustern der Fall ist; und dass sie ihre Bedeutung durch eine innere Struktur und eine äußere Abgrenzung bekommen, die auf den gleichen Unterschieden beruht, sodass es zwischen den innerlich strukturierenden und den äußerlich unterscheidenden Unterscheidungen keinen Unterschied gibt. Zu welcher Verwirrung das führen kann, zeigt der eben von mir geschriebene Satz, der zwar richtig, aber keinesfalls logisch ist. Dieses Schicksal teilt er mit vielen Textmustern.
Wie auch immer, von einer Analyse der Daten bin ich dann auf eine Darstellung der Daten weitergewandert. Ich mache mir nicht sonderlich viel Hoffnung, dass meine ersten Versuche mehr als Stümpereien sein werden; auf der anderen Seite war aber meine bisherige Arbeit zu diesem Thema außerordentlich fruchtbar, und solange dies auch in den nächsten Arbeitsschritten so sein wird, halte ich das Scheitern an einem Endprodukt für erträglich. Ich muss also, um auf die Absatzüberschrift zurückzukommen, große Datenmengen visualisieren.

Probleme mit dem Patriotismus

Dieser eine Satz

Aber kommen wir zum eigentlichen Thema dieses Artikels zurück, zumindest zu einer ersten Analyse. Ich habe mir aus verschiedenen Büchern Abschnitte vorgenommen, und diese Abschnitte mithilfe der semantischen Analyse, wie sie bei Peter von Polenz in dessen Buch Deutsche Satzsemantik dargestellt wird, zu analysieren versucht. Einfach sind dabei Erzählungen, die dicht an der weltlichen Materie entlang geschrieben worden sind. Tolkien, Karl May und Simon Beckett lassen sich recht problemlos zergliedern; Alice Munro und Judith Hermann sind schon schwieriger; am problematischsten allerdings sind politische Artikel und Bücher. Nun ist mir ein solcher Satz bei Martha Nussbaum, Politische Emotionen, untergekommen. Dieser lautet wie folgt:
Fürsprecher der Armen, die sich an dem Plan zunehmend störten, dachten gemeinsam darüber nach, wie die Ausstellung Vorstellungen von Chancengleichheit und Opfern miteinbeziehen könnte.
S. 311 f.
Nun ist dieser Satz nicht schwierig zu verstehen, selbst wenn man den Kontext nicht wirklich kennt. Zumindest scheint sein Verständnis einfach, aber ich werde zeigen, dass dieser Satz keineswegs unschuldig oder leichtgängig ist. – Im folgenden aber möchte ich zunächst den Kontext vorstellen und einige Ideen und Probleme zum Begriff des Patriotismus'.

Die Stellung im Buch

Dieser eine Satz findet sich relativ am Anfang des dritten großen Abschnitts aus dem Buch von Nussbaum. Dieses Buch ist in drei Abschnitte, einem Vorspiel (in der das Thema des Buches problematisiert wird) und einem Anhang gegliedert; der erste Abschnitt ist der Geschichte der politischen Emotionen gewidmet, bzw. des Denkens politischer Emotionen, der zweite stellt die Ziele einer liberalen Gesellschaft in Bezug auf Emotionen vor, ebenso die Mittel für „gute“ politische Emotionen, und schließlich die „radikal bösen“ politischen Emotionen. Der dritte Abschnitt nun soll die bisherigen Analysen auf „reale Gesellschaften“ (S. 305) anwenden. Nussbaum bezeichnet diesen dritten Abschnitt als zum Teil semi-theoretisch, zum Teil als Überzeugungsarbeit (S. 308).
Konkreter findet sich der Satz im achten Kapitel, der dem Patriotismus gewidmet ist. Diesen Patriotismus, einem liberalen, fügt Nussbaum zwei Werte bei (bzw. eigentlich drei): Liebe und kritische Freiheit; ob man „kritische Freiheit“ so eng verbunden sehen darf, bleibt dahingestellt. Kritik ist, wie ich in einigen früheren Artikeln geschrieben habe, eine äußerst seltsame Praxis, die sich der Politik nicht leicht eingemeinden lässt, obwohl beides auch in gewisser Weise notwendig zusammengehört.
Werden wir noch konkreter, dann finden wir den Satz zum Beginn des achten Kapitels, inmitten einer Anekdote, die den „janusköpfigen Charakter des Patriotismus“ (S. 310) illustrieren soll.

Von vergoldeten Frauenstatuen und ...

Die Anekdote, die Nussbaum erzählt, ist nicht irgend eine Anekdote. Sie erzählt, mit einem deutlich anderen Schwerpunkt als der dazugehörige Wikipedia-Eintrag, das Schicksal vom öffentlichen Gelöbnis zur amerikanischen Fahne im öffentlichen Raum und in den Schulen. Dieses ist wiederum eng verbunden mit der Weltausstellung, die 1892 in Chicago stattgefunden hat; sie ist unter dem Namen Columbian Exposition bekannt, und gilt, wie man aus dem Wikipedia-Eintrag ersehen kann, als eines der großen Zeichen für die Modernität, Weltoffenheit, aber auch die Führungsrolle in der Welt, die sich die USA damit zuschreibt.
Die ganze Geschichte ist, so Nussbaum, in drei Akte einteilbar.
Der erste Akt ist die Weltausstellung selbst. Im Gegensatz zu der offiziellen Darstellung bezeichnet Nussbaum sie als „Fest der ungezügelten Gier und des hemmungslosen Egoismus“ (S. 310 f.). Schon der einleitende Satz ironisiert die Rolle, die diese Weltausstellung in der Geschichte der USA spielt, indem sie von ihr spricht, als sei es eine unter vielen, und als würde sie in Vergessenheit geraten, wenn man nicht von ihr gelegentlich spräche und daran erinnerte, dass es sie gegeben habe. In diesem ersten Akt spricht Nussbaum auch von der Verschleierung der Ungleichverteilung der Lebenschancen und der Verbannung allen Lustigen, Chaotischen und Lauten auf einen Grasstreifen außerhalb der offiziellen Ausstellung.
Besonders ironisch wird sie aber gegen Schluss dieses Abschnitts, als sie von der vergoldeten Frauenstatue spricht, die eigens für diese Ausstellung erschaffen wurde: diese »Statue of the Republic« ersetzt nicht nur die „realen Menschen, die in ihrer Heterogenität und Gebrechlichkeit störend wirken“, sondern trägt auch eine Art von parodierten Insignien der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches: einen Stab (Nussbaum nennt ihn Zepter) und eine Kugel, wobei die Kugel hier als Welt (und nicht als Reichsapfel) dargestellt wird, während das Zepter eher ein länglicher Stab ist, der weder als Wanderstab taugt, noch als Fahne für den lieu tenant, also als Markierung innerhalb einer Schlacht.

… über ein öffentliches patriotisches Ritual …

Nun sind die Ausstellungsmacher nicht nur von Nussbaum kritisiert worden, sondern auch von Zeitgenossen. Der oben von mir zitierte Satz leitet den zweiten Akt dieses Lehrstücks über den Patriotismus ein. Das Treuegelöbnis zur Fahne wurde keineswegs von „konservativen“ Kräften initiiert, sondern von einer „Gruppe christlicher Sozialisten“, die die „moralischen Werte“ in den Mittelpunkt rücken wollten. Mit diesem Gelöbnis sollten „alle Amerikaner als gleichwertig und gleichberechtigt“ bestimmt sein und „das Land auf mehr als auf individuelles Unternehmertum verpflichtet“ werden. Wie man aus der Geschichte weiß, ist dieser Treueeid so günstig aufgenommen worden, dass er heute ein feststehendes Ritual im öffentlichen amerikanischen Leben spielt.

… und Jehovas Zeugen

Erst viele Jahre später, annähernd fünfzig Jahre, zeigte sich der Pferdefuß dieses Gelöbnisses sehr deutlich. Nussbaum schreibt dazu:
Wie es oft bei patriotischen Gefühlen der Fall ist, erwies sich das Gelöbnis bald als eine Formel sowohl der Inklusion als auch der Exklusion.
(S. 312)
Inmitten des zweiten Weltkrieges bekam das Gelöbnis den Charakter eines Schibboleth für den »guten Amerikaners«; es musste täglich aufgesagt werden. Wer dies nicht tat, geriet in Verdacht, mit den Nazis und den Feinden der USA zu sympathisieren. So erging es z.B. den Zeugen Jehovas, die den Fahneneid als eine Art Götzenanbetung ansahen und ihn deshalb aus religiösen Gründen ablehnten. Obwohl die Zeugen Jehovas auch im Dritten Reich verfolgt und kaserniert wurden, kam es in den USA zu tätlichen Angriffen und Lynchmorden gegen sie.
So wurde aus dem Versuch, über eine gemeinsame Verpflichtung auf gemeinsame Werte zu einer moralisch vorbildlichen Gemeinschaft zu werden, eine Legitimation zur Verfolgung und Ermordung religiös Andersdenkender.

Oppositionen im Patriotismus

Nach innen und nach außen gerichteter Patriotismus

Am Ende dieser Anekdote überrascht uns Martha Nussbaum mit einer Unterscheidung, die in nicht nur einer Weise als äußerst schwierig und, sofern man darin eine liberale Aussage sehen möchte, auch als sehr blauäugig gelten darf:
Jede Theorie öffentlich wirksamer Emotionen muss sich mit den komplexen Aspekten von Patriotismus auseinandersetzen. Er ist nach außen gerichtet und weist das Ich mitunter auf die Pflichten gegenüber anderen Menschen und auf die Notwendigkeit hin, für das Gemeinwohl Opfer zu bringen. Aber ebenso eindeutig ist er nach innen gerichtet und fordert diejenigen, die sich als »gute« oder »echte« Amerikaner betrachten, auf, sich von Außenseitern und Umstürzler zu unterscheiden, was zur Ausgrenzung ebendieser Außenseite führt.
(S. 313)
Bei genauem Hinsehen ist die leitende Unterscheidung, die zwischen innen/außen, eine nicht vertretbare. Denn was hier als nach außen gewendet erscheint, wird sofort wieder an eine Hineinwendung ins Innere gekoppelt (das Ich verpflichtet sich), während das nach innen Gerichtete nur unter der Bedingung funktioniert, dass es zugleich nach außen eine Grenze zieht, was also nicht nur heißt, dass der nach innen gerichtete Patriotismus dazu führt, sich selbst als »echter« Amerikaner zu sehen, sondern auch mitbedenkt, dass alles andere als »nicht-echter« Amerikaner oder »echter« Nicht-Amerikaner wahrgenommen werden sollte.
Am letzten Teilsatz sieht man bereits, was das Zitat insgesamt erahnen lässt: Nussbaum hantiert mit Begriffen, die eine mehrfache, und zum Teil recht unterschiedliche Verneinung benötigen, um an Kontur zu gewinnen. Nun kann ich die ganze Konsequenz dieser ersten Unterscheidung nicht in einem kurzen Artikel diskutieren, weise aber darauf hin, dass mit der scheinbar neutralen und selbstverständlichen innen/außen-Differenz ein zentrales Problem von Nussbaums Argumentation gelegt worden ist. Sie selbst versucht dies durch die beständige Thematisierung, wie zwiespältig der Patriotismus doch ist, zugleich aufzuzeigen und auszuschließen. Es wird ihr nicht wirklich gelingen. Aber das ist nun ein anderes Feld.

Politische Begriffe

Unter den Begriffen finden sich verschiedene Arten, die sich vor allem dadurch unterscheiden, dass sie auf verschiedene Art und Weise „hergestellt“ werden. So gibt es solche Begriffe, die sich durch Abstraktion bilden; abstrahieren bezeichnet das Weglassen und Zusammenfassen von Merkmalen, und als Merkmale gelten hier nur die rein sinnlichen.
Politische Begriffe dagegen gehören zu den Ideen. Ausgangspunkt einer Idee ist eine Verhältnisgleichheit, die sich oftmals über eine symbolische Opposition bildet. Man kann dies sehr gut an grundlegenden politischen Begriffen sehen, wie z.B. an dem Begriff des Leibes. Die symbolische Opposition dazu ist jenes innen/außen. Und wenn man der Psychoanalyse Glauben schenkt, dann ist die erste Tätigkeit, die zunächst zur Konstitution der symbolischen Opposition führt, dann aber auch zur Konstitution des Leibes, die Lust/Unlust-Opposition.
Laut der Psychoanalyse nimmt der Säugling zunächst keine Objekte wahr. An seinem Hungerbedürfnis und an dessen Befriedigung bildet sich dann aber ein erstes, rudimentäres Objekt heraus, welches die Psychoanalyse (recht unglücklich übrigens) als Mutterbrust bezeichnet. In den Fantasien des Säuglings beherrscht dieser die Mutterbrust und meint, sie herbeirufen zu können, wann immer es die Befriedigung eines Bedürfnisses braucht.
Erst in der Folge nimmt es dann auch wahr, dass dieses Objekt sich nicht beherrschen lässt und dass es gelegentlich fehlt. Dadurch wandelt sich das Objekt in ein gutes und ein schlechtes, eines, das befriedigt, und eines, das die Befriedigung vorenthält. An dieser Differenz zwischen einem guten und einem schlechten Objekt konstruiert sich über die Handlung des Herbeirufens und des Wegstoßens eine erste Differenz zwischen Leib und Welt; aber erst mit zunehmender Körperbeherrschung und der Möglichkeit, Objekte dauerhaft im Gedächtnis zu behalten (auch wenn diese der Wahrnehmung entzogen sind), bildet sich Idee des Leibes entlang der innen/außen-Differenz. Diese Art des Denkens bleibt dann auch beherrschend für spätere und feinere Denkvorgänge. Auch wenn schließlich der Leib gut gegen die Umwelt abgegrenzt wird, überträgt sich die Schablone, die dazu geführt hat, in die Denkvorgänge, mit der die Umwelt gesehen wird.
Es liegt also nahe, Ideen aus grundlegenden Denkmethoden abzuleiten. Sollten diese sich tatsächlich dann immer auf semantische Oppositionen stützen, die durch Analogieschluss übertragen werden, müssen wir davon ausgehen, dass politische Begriffe nicht nur der Umstände halber, etwa durch eine schlechte Argumentation, vage bleiben, sondern dass sie wesentlich daraus gebildet werden und dass jede Materialisierung die Idee verfehlen muss.

Aufgaben der politischen Philosophie

Daraus ergeben sich einige Aufgaben der politischen Philosophie: Herausarbeiten der grundlegenden semantischen Oppositionen, Genealogie der analogisierenden Ableitungen, Genealogie der Materialisierungen samt ihrer (akzidentellen) Ursachen und Wirkungen.
Dabei muss das Wort akzidentell eigentlich im Mittelpunkt stehen: Analogien werden nicht durch Kausalitäten gebildet; und sie gehorchen auch nicht einer arithmetischen Argumentation. Stattdessen entstehen sie durch Wechselwirkungen; im Mittelpunkt muss die geometrische Argumentation stehen, also eine solche, die durch Ränder, Zonen, Nachbarschaften, durch Strategien des Tausches und der Abgrenzung ihre logische Wirkung entfaltet. Letzten Endes sind dies biologische oder quasi-biologische Argumentationsweisen, die sich auf die Evolution und Ökologie berufen.

Schluss

Kehren wir zu Nussbaum zurück, so müssen wir an diesem einen Satz, auf den ich mich bezogen habe, all jene semantischen Oppositionen herausarbeiten, die diesen Satz als politische Aussage ermöglichen.
Dies werde ich im folgenden Artikel machen.
An dieser Stelle möchte ich auf die Schwierigkeit zurückkommen, mithilfe eines Computerprogramms politische Begriffe zu untersuchen. Die Analogiebildung kann zwar vom Computer geleistet werden, insofern man ihm den Vergleich von Mustern beibringt; aber es dürfte recht schwierig werden, solche Muster zu wesentlichen Aussagen zusammenzufassen.

15.10.2016

Motivanalysen

Bei Iser findet sich die Unterscheidung zwischen digitalen und analogen Unterschieden (Das Fiktive und das Imaginäre, S. 472f.). Offensichtlich sieht er einen Unterschied (!) zwischen jenen Unterschieden, die durch eine Markierung deutlich voneinander getrennt sind, während analoge Differenzen aufgefüllt und expliziert werden können.
Nun, wozu erzähle ich das? Ich bin seit gestern abend auf der Suche nach einigen Begriffsklärungen, das fading steht im Mittelpunkt. - Zunächst ist das fading mit der strukturalen Psychoanalyse verknüpft. Bei Lacan bezeichnet es das unaufhörliche Zurückweichen des Subjekts in den Riss, den der Signifikant durch und nach seiner Aktualisierung hinterlässt. Der aktuelle Signifikant ist exzentrisch, der vergangene verlischt und erzeugt in diesem Verlöschen eine Ahnung vom Subjekt.
Auf das fading bin ich über die Figuration gestoßen. Bei Iser ist der Wechsel zwischen digitalem und analogem Unterschied der zwischen einer scharfen, aber leeren Markierung und einer Figuration. Ihm zufolge ist dieses beständige Kippen erst die Bedingung, das Imagination wie Symbolisierung möglich ist; soll wohl heißen: indem sich "Bild" und "Sprache" gegeneinander ausdifferenzieren, kommt das Spiel von Phantasie und Realität erst in Gang.
In diesem Sinne ist auch das Zerstückeln von Romanen keineswegs unnütz, sondern eine Möglichkeit, seine schriftstellerische Phantasie zu erhöhen. Ich sage das hier, weil ich in letzter Zeit wieder gelegentlich Motivanalysen mache, solche, die dem Alltag (meinen Alltag) betreffen, und solche, die sich auf Literatur beziehen. Mit Literatur ist alles Geschriebene gemeint. Motivanalysen (die keine echten Analysen sind, sondern eher Bemerkungen, weil ihnen das Systematische fehlt) sind entstanden zu: Politische Emotionen, einigen Zeitungsartikeln, zu einer Kurzgeschichte von Alice Munro.
Warum aber Motivanalysen? Nun, ich bin eigentlich immer noch an der Programmierung einer Applikation, die mir Texte semantisch untersucht, d.h. in diesem Fall eine Aktantenanalyse macht. Dabei bin ich auf das Problem gestoßen, dass sich zahlreiche Aktanten nicht aus dem Satzkontext bestimmen lassen. Man muss über den Satz hinaus in den Text hinein schauen. Freilich macht man das wohl als Leser automatisch; und hierbei könnte man es belassen, wenn es nicht im große Datenmengen und um regelhafte Musterbildung ginge. Denn während ich derzeit für einen kurzen Absatz mit der Aktantenanalyse immerhin 3-5 Minuten brauche, bestimmt der Computer diese mir (wenn auch noch mit Fehlern) in einem ganzen Kapitel innerhalb eines Sekundenbruchteils.
Nun scheint mir gerade die Motivanalyse, wenn sie etwas systematisiert wird, als eine gute Möglichkeit, eine Aktantenanalyse quer zu den einzelnen Sätzen und damit über diese hinaus zu programmieren. Da die in den Satzteilen aber noch fehlerhaft und unvollständig ist, werde ich wohl weiter nach guten Algorithmen suchen müssen. Und gelegentlich vom Kurs abweichen und etwas ganz anderes machen, wie eben seit gestern abend.

13.10.2016

Wie sprechen?

Manchmal ist es (eigentlich) ganz einfach: mit Unbehagen sehe ich einer Ausweitung des Volksentscheids entgegen; Volksentscheide garantieren noch nicht eine Demokratisierung. Unbestritten dürfte sein, dass sich wissenschaftliche Ergebnisse (selbst, wenn diese sich später doch wieder als falsch erweisen) nicht durch Mehrheitsentscheide widerlegen lassen, weder der Klimawandel, noch die gender-Theorie oder die Verbrechen im Dritten Reich. Über Meinungen lässt sich natürlich streiten, aber über Tatsachen nicht.
Wichtiger als der Volksentscheid ist doch, dass die Begriffe diskutiert werden, dass ihr Für und Wider abgewogen, ihre praktische Relevanz erschlossen wird: vor der "demokratischen" Wahl kommt die Aufklärung; und mehr als die Wahl ist die Aufklärung das Wichtige an der Demokratisierung.

Julia Schramm und Hagen Grell

Mir ist eigentlich schleierhaft, warum Hagen Grell Julia Schramm so unsympathisch findet. Sie sind sich eigentlich ziemlich ähnlich. Gut, die Analysen von Grell sind schlechter als die von Schramm, dafür ist der Vernichtungswahn, der sich in manchen Aussagen von Schramm findet, greller als bei Grell. Dass die beiden inhaltlich zufälligerweise auf verschiedenen Seiten gelandet ist, machen sie durch eine ähnliche Struktur ihres teils pöbelhaften, teils sich elitär gebärdenden Redens wieder wett. Beide jedenfalls meinen etwas über das Deutsche und das (der/die) gender zu sagen zu haben.

Guter und schlechter Patriotismus

Mich treibt, ich hatte es ja schon geschrieben, seit etwa zwei Wochen das Buch Politische Emotionen von Martha Nussbaum um. Dazu mag ich noch gar nichts sagen, da ich viele Sachen von ihr noch nicht gelesen habe. Ich hatte auch schon geschrieben, dass ich ihr Buch „irgendwie“ wunderbar, aber unrealistisch finde. Es ist zu blauäugig (oder ich selbst bin bereits zu resigniert). Jedenfalls sieht Nussbaum im Patriotismus ein zwiespältiges Phänomen. Weder ist er von sich aus gut, noch von sich aus schlecht: er ist eben unter bestimmten Bedingungen gut, unter anderen schlecht.
Als eine erste Gefahr sieht sie die falscher Werte.

Verzerrte Männlichkeitsnormen

Das Attribut verzerrt

Man muss genau lesen. Etwas, was vielen Deutschen leider fehlt, Pisa lässt grüßen. So, wie Judith Butler nicht das biologische Geschlecht leugnet (was ihr aber oft vorgeworfen wird), findet sich bei Nussbaum keineswegs eine Ablehnung von Männlichkeitsnormen. Als falsche Werte listet sie nicht die Männlichkeit an sich auf, sondern „verzerrte Männlichkeitsnormen“, wobei unklar bleibt, was hier verzerrt und was nicht (was zum Teil aber auch daran liegt, dass ich dieses Buch noch sehr unvollständig gelesen habe, und, wie bereits oben gesagt, auch andere Werke von ihr noch nicht).

Werte und Normen

Ich weiß nur nicht, was solche Männlichkeitsnormen sein könnten. In den letzten Jahren bin ich einen anderen Weg gegangen: entlang der Unterscheidung von Werten und Normen bin ich zu Aristoteles zurückgekehrt. Niklas Luhmann bezeichnet Werte als Konstruktionen, die ein bestimmtes Verhalten als „gut“ hervorheben, Normen dagegen als Grenzen, ab denen bestimmte Sanktionen stattfinden.

Probleme mit Werten: Begründung und Konkretisierung

Beide Begriffe haben ihre Schwierigkeiten. So sind Werte nicht einfach nur „gut“, sondern werden mit verschiedenen Attributen belegt, die als gute gelten, z.B. schön, nützlich, human, patriotisch, usw. Und natürlich sind solche Werte nicht aus sich heraus gut: Sie brauchen eine gewisse Legitimation, also einen Begründungsvorgang; und auf der anderen Seite würden sie nicht so überzeugen, wenn es nicht eine gewisse Konkretisierung gäbe, die sie vermutlich zugleich ungebührlich einschränkt (man denke nur an die Schönheit, die von unterschiedlichen Menschen sehr unterschiedlich beurteilt wird).

Probleme mit Normen: Egoistische Wurzeln

Genauso kritisch sind Normen zu sehen: diese bilden nicht nur absolute Grenzen, sondern finden sich häufig abgestuft: und je nachdem gibt es schwächere und stärkere Sanktionen. Zudem bilden viele dieser Normschwellen keinen juridischen, noch nicht einmal einen ansatzweise gerechten Tatbestand, sondern sind schlichtweg egoistisch. Nur bei Normen mit starken Sanktionen greift zunehmend der Staat ein und entzieht seinen Bürgern die Macht, Sanktionen auszuüben. Aber jemanden nicht zu beachten: das geht häufig.

Männliche Werte: biologisch und nicht-biologisch

Ich weiß, dass das nur ein Streit um Begriffe ist, aber ich möchte hier bei meinen Begriffen bleiben: es geht um Werte, bzw. um Tugenden (und nicht um Normen), mithin um praktische Werte, auch für so etwas wie die Männlichkeit. Nur kann ich mich an dieser Stelle nicht mit dem Begriff der Männlichkeit anfreunden. Entweder meint man die biologische Männlichkeit; die kann aber nicht tugendhaft sein, weil sie vor dem Bewusstsein und damit auch in gewisser Weise jenseits des Bewusstseins liegt.
Männlichkeit dagegen als Tugend zu bezeichnen, wird immer in gewisser Weise darauf hinauslaufen, dem bestimmte Tugenden zuzuschreiben, die eben nicht unbedingt männlich sind, sondern nur in einem losen Zusammenhang damit stehen (auch wenn man behaupten würde, diese seien bei Männern statistisch wahrscheinlicher). Damit wird aber die Berufung auf eine nicht-biologische Männlichkeit bei Tugenden genauso obsolet wie sie es für die biologische Männlichkeit sein muss. Es reicht hier schlichtweg, bestimmte Tugenden zu vertreten und zu leben.
Dasselbe gilt übrigens auch für „deutsche Tugenden“ – das Attribut deutsch ist dabei überflüssig.

Fehlgeleiteter Patriotismus

Nussbaum geht davon aus, dass der Patriotismus fehlgeleitet sein kann. Sie zählt dazu, wie eben gesagt, die falschen Werte, den Gewissenszwang und die unkritische Homogenität; etwas später fügt sie dem noch die verwässerte Motivation hinzu. Bilden die ersten drei Gefahren das, was ich gleich aus einer semiotischen Sicht mit Roland Barthes erläutern möchte, so ist die letzte Gefahr die eines Laissez-Faire, oder, wenn man so will, einer Politikverdrossenheit; jedenfalls ist dies die Dummheit oder Faulheit, sich nicht in aktuelle Diskurse einzumischen, oder sich in einer solchen Art und Weise einzumischen, dass die Dummheit und Faulheit einen starken Tenor dazu geben.

Dogmatisches und terroristisches Sprechen

Häufig hat mich an der offiziellen (und oftmals „feministischen“) Rede über Männer in Bezug auf Frauen die Undifferenziertheit gestört: wie ich oben dargelegt habe, spielt das Geschlecht in Bezug auf gelebte Tugenden nur eine locker assoziierte Rolle; nichts spricht dagegen, diese noch weiter aufzulösen. Der umgedrehte Fall erscheint dann, wenn bestimmte Tugenden nur mit einem aus den Hinterbühnen hervorgezauberten Geschlechtsmerkmal funktionieren. Roland Barthes hat hier zwei verschiedene Arten des ideologischen Sprechens unterschieden: den dogmatischen und den terroristischen Diskurs.

Dogmatisches Sprechen

Der dogmatische Diskurs besteht, grob gesagt, darin, dass jegliches Sprechen auf eine bestimmte Vorstellung (ein Signifikat, um es semiotisch zu sagen) bezogen wird, sei es in der positiven Aneignung des eigenen Sprechens, oder in der negativen Abwehr fremden Sprechens. Dies kann man im Moment sehr gut an den Neokonservativen und den Rechtspopulisten (wobei ich mich frage, was Linkspopulismus sein soll) studieren: deren Rede ist keinesfalls einheitlich, zum Teil sogar zutiefst gebrochen und widersprüchlich, manchmal geschmacklos wirr und manchmal einfältig monoton, aber das scheint alles keine Rolle zu spielen, solange man sich nur genügend zu einer gewissen, nicht näher definierten Idee, der des Deutschtums, bekennt. Es gibt dabei kein einheitliches Signifikat, obwohl dieses immer wieder behauptet wird.

Terroristisches Sprechen

Fast komplementär tritt dann der terroristische Diskurs auf: dieser entsteht dann, wenn es nur um die Wiederholung von Signifikanten geht, mit der Inklusion/Exklusion legitimiert wird. Der Signifikant ist ein materieller Zeichenträger, eine Fahne, ein Symbol, ein bestimmtes Wort oder ein Idiom. Glücklicherweise kenne ich das noch nicht vom Deutschsein, soweit sind wir noch nicht, und es besteht doch Hoffnung, dass wir nie so weit kommen werden. Aber ich fühle mich gelegentlich schon zu einem anderen Signifikanten hingedrängt, den zu wiederholen ich mich gezwungen sehe, gerade dann, wenn ich ihm den Status eines Begriffes zugestehen möchte, und das ist nun leider das Wort „gender“.

gender-Terror?

Ich hoffe schon, dass ich genügend deutlich gemacht habe, dass ich an diesem Begriff und an seinen theoretischen Bezügen generell nichts auszusetzen habe; dass ich ihn legitim finde. Und dass ich mich im Moment noch nicht dazu gedrängt fühle, gegenüber Rechtspopulisten damit vorsichtig umzugehen. Aber ich äußere doch gelegentlich schon recht deutliche Kritik daran, was darunter so alles verstanden wird, und jedes Mal sehe ich mich wieder dabei, dass ich zuerst – gebetsmühlenartig – ein Bekenntnis dazu schreibe, bevor ich Kritik äußere. Man muss die Feinheiten dabei hören: weder mag ich mich dem dogmatischen Diskurs einer naturalisierten Geschlechterdifferenz hingeben, noch möchte ich mich von dem terroristischen Diskurs einer rein signifikanten gender-Rede disziplinieren lassen.

Symbolische und ikonische Ressentiments

Sowohl der dogmatische als auch der terroristische Diskurs sind von Ressentiments durchzogen, die man symbolische Ressentiments (bestimmte Sachen dürfe man nicht sagen) und ikonische Ressentiments (bestimmte Sachen müsse man zeigen) nennen könnte. Beide sind vor allem an Normen gebunden und an die Abwehr „fremder“ Werte. So ist es in gewisser Weise nicht richtig, wenn Martha Nussbaum von ausgrenzenden Werten spricht; es handelt sich vielmehr um eingrenzende Unwerte, über die sich rachsüchtige und destruktive Werte (das Re-Sentiment) bilden und bei manchen Menschen nur auf diese Art und Weise bilden zu können scheinen (Hagen Grell und Julia Schramm sind dafür nur zwei Beispiele).

Das schöpferische Sprechen

Was bleibt?
Wie jede Sprache, so ist auch das, was man unter der „deutschen Sprache“ und der „deutschen Kultur“ versteht, ein heterogenes, unabgeschlossenes, zerfranstes Projekt. Will man dies nur in die Vergangenheit hinein verlängern, sich also auf Tradition und Bewahrung von Beständen stützen, müsste man mit dem Wahnsinn der Zerstückelung umzugehen lernen; ein, wie ich befürchte, recht mühsames, geistloses und unbefriedigendes Geschäft. Dies verlängert sich hinein in die Abwehrkämpfe, die im Namen der deutschen Kultur gegen fremde Kulturen und deren Einmischung ausgeführt werden.
Angstvoller, als dies die AfD in ihrem Parteiprogramm ausdrückt, kann man es wohl nicht sagen: „Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit.“ (S. 47) – Geschichtsblind allerdings ist, dass die modernen Werte, wie sie in den letzten 30 Jahren gelebt wurden, auf vielerlei Weise aus der europäischen Tradition entstanden sind, und trotzdem zu einer Heterogenität geführt haben, die weder einen Anschluss an das 18. Jahrhundert und damit z. B. an Kant und Mendelssohn einfach möglich machen, noch an Epochen, die noch weiter zurückliegen. Geradezu diffus widersprüchlich wird das Programm dort, wo es von einem „stets veränder[t], aber dennoch ... einzigartig[...]“ spricht, als gäbe es ein geheimnisvolles großes deutsches Wesen.
Was bleibt also? Der schöpferische Rest: man müsste und sollte, ungeachtet des biologischen Geschlechts und ungeachtet einer Rücksicht auf zumeist doch nur mythische Traditionen dem Vorgefundenen jene Lust abgewinnen, die zu eigenen Werken und einer eigenen Kultiviertheit führt. Kant oder Goethe sind dabei relativ egal; oder wer sich sonst noch so als bevorzugter Stern am deutschen Kulturhimmel tummelt. Zumindest daran sollte man sich ein gewisses Beispiel an den Neonazis nehmen: die sind mit Sicherheit nicht in der Lage, ein solches Werk wie die Kritik der reinen Vernunft auch nur ansatzweise zu verstehen. Und es muss ja auch nicht verstanden werden. Aber wenn es eine Tradition geben sollte, dann vielleicht genau diese. Warum soll man die Latte niedrig hängen, wenn sie schon einmal so hoch gehangen hat?
Für alle anderen sei noch einmal jene Empfehlung gegeben: schafft entlang den Tugenden, und nicht entlang der Ressentiments.
  • Barthes, Roland: Lust/Schrift/Lektüre. in ders.: Die Körnung der Stimme. Frankfurt am Main 2002
  • Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt am Main 1986
  • Nussbaum, Martha: Politische Emotionen. Frankfurt am Main 2016

03.10.2016

Heute schon ein bisschen Weltkrieg gehabt?

Da haben wir es also wieder, wer nicht liest, ist gezwungen, die allergrößten Dummheiten zu wiederholen. Fräulein Franziska, derzeit amtierende Päpstin, hält die gender-Theorie für gefährlich. Diese sei ein Feind der Ehe; sie führe einen Weltkrieg, um die Ehe zu zerstören. Nun wissen wir (oder auch nicht), wie das mit Judith Butler und der Pornographie ist: eine Übertreibung kann in beide Richtungen weisen, sie kann eine Norm zersetzen oder eine Norm stabilisieren, je nachdem, wie man sie liest. Und so scheint es auch derzeit dem guten Franziskus zu gehen. Die einen fühlen sich bestätigt, die anderen machen sich über ihn lustig.
Ich jedenfalls bin mal wieder erstaunt, was so alles in die gender-Theorie hineininterpretiert wird. Dort ist die Ehe nur gelegentlich und am Rande ein Thema, nämlich genau dann, wenn innerhalb der Ehe Ausbeutungsverhältnisse bestehen, wenn also die Ehe nicht individuelle Freiheiten ermöglicht, sondern beschränkt. Aber das ist wohl eher ein Thema des Feminismus, den man von der gender-Theorie deutlich abgrenzen muss.
Es fällt mir also schwer, Franziskus ernstzunehmen. Und es zeigt wieder einmal, dass die gender-Theorie, so wie sie bekämpft wird, ein selbst erschaffnes Feindbild ist, bei dem sich die katholische Kirche, der Rechtspopulismus und „reaktionäre Kräfte“ in ihrer Leichtgläubigkeit einig sind. Man bekämpft den Mythos, den man sich selbst erschaffen hat.
Aber natürlich ist das auch ein Trick, um sofort in diese subjektlose Projektion all diejenigen einzugemeinden, von denen man glaubt, sie würden diese Theorie vertreten; und damit glaubt man, nun auch die Menschen bekämpfen zu dürfen. Man könnte das Verzweiflung nennen, wenn man von den Folgen absehen könnte, die ein solches Freund/Feind-Denken verursacht.

Das mit Judith Butler und der Pornographie könnt ihr natürlich deshalb nicht wissen, weil der entsprechende Artikel zusammen mit der Plattform, auf der ich diesen veröffentlicht habe, verschwunden ist. Vielleicht sollte ich alle meine Artikel von dort für meinen Blog neu schreiben.

Inhaltsanalysen und anderes mehr

Lange Zeit habe ich hier nicht mehr geschrieben; sogar ein Mensch, der mir eigentlich nicht sonderlich nahe steht, hat nachgefragt. Was unter anderem aber auch daran liegt, dass eine gewisse Person vor einigen Jahren behauptet hat, ich sei gestorben. Und seitdem hält sich das Gerücht meines kurzfristigen Ablebens doch hartnäckig.
Was habe ich gemacht?

Bücher, Bücher, Bücher

Žižek und Scrum

Natürlich habe ich gelesen. Gelesen habe ich z.B. Žižek. Das ist nichts Neues. Allerdings habe ich mich etwas ausführlicher mit seinen Büchern Die Metastasen des Genießens und Parallaxe beschäftigt. Nebenher lese ich Bücher über Lacan, den Widmer (Subversion des Begehrens) und Borch-Jacobsen (Lacan - Herr und Meister) und Bowie (Lacan). Sehr fasziniert war ich auch von dem Buch Soziologie der Praktiken von Robert Schmidt, insbesondere von dem Kapitel über Scrum. Dazu muss man wissen, dass Scrum eine Organisationsform des Programmierens ist, die mit der früher üblichen Organisationsform deutlich bricht und eine „flache Hierarchie“ und metakognitive Kompetenzen in den Mittelpunkt stellt. Die metakognitiven Kompetenzen, daran erinnert ihr euch vielleicht, haben mich über einige Jahre hinweg ziemlich beschäftigt, und da ich mich im Moment hauptsächlich mit dem Programmieren beschäftige, habe ich hier einen schönen Anknüpfungspunkt gefunden.

Politische Emotionen

Manchmal trifft man aber auch auf Bücher, denen man kein Wort glaubt, die einem aber in der Seele so gut tun, weil sie alles, worüber man resigniert, trotzdem behaupten. Ein solches Buch habe ich mit Politische Emotionen von Martha Nussbaum gefunden. Das erste, was mir an dieser Frau imponiert, ist, dass sie unglaublich belesen ist. Außerdem kann sie über weite Strecken dermaßen scharf argumentieren, dass ich mich kaum dieser blendenden Faszination entziehen konnte; ich war gefesselt, ich konnte mich nicht satt lesen. Und trotzdem. Ähnlich wie bei Hannah Arendt taucht auch bei Nussbaum in mir sofort Widerspruchsgeist auf, und ich würde mich jetzt gründlichst danach fragen, ob dies nicht daran liegt, dass ich es hier mit einer Autorin zu tun habe, also mit einer Frau, die Philosophie treibt, und dann auch noch politische Philosophie. Mich beruhigt, dass meine Reaktion auf Judith Butler und Luce Irigaray ganz anders gewesen sind.
Was beunruhigt mich nun an diesem Buch? Mich beunruhigt, dass die Emotionen hier ausschließlich politisch gelesen werden. Meine Auffassung von Emotionen ist deutlich durch die Evolutionsbiologie geleitet und dann vor allem auch durch die Aussage, dass man seinen Emotionen Widerstand leisten müsse, um zu einer gewissen Freiheit zu gelangen. Dieses letzte Argument stütze ich, wenn auch noch recht dürftig, zum einen auf Vygotsky, bzw. eigentlich noch auf Pawlow, der eine „Freiheitsreaktion“ in Bezug auf das eigene instinktive Handeln behauptet hat; und zum anderen auf die (ethische) Forderung der Psychoanalyse, sich der Gegenübertragung zu widersetzen, also sich nicht zum Spielball ansteckender Emotionen zu machen.
Das ist aber nur der eine Vektor, der mich gegenüber Nussbaum misstrauisch macht. Ein anderer Aspekt ist, dass sie deutlich all jene Emotionen bevorzugt, die Guilford als synthetische Emotionen beschreibt. Guilford hat die Emotionen in zwei große Kategorien eingeteilt, die synthetischen und die analytischen. Letzten Endes, so möchte ich behaupten, sind die analytischen Emotionen grundlegend für ein wissenschaftliches Neugierverhalten; und insofern kann ich den Ausführungen von Nussbaum nur bedingt folgen, da für mich die Wissenschaftlichkeit höher steht als demokratische Prozesse (die Nussbaum im Sinn hat).

Programmieren

Im Auftrag der Inhaltsanalyse

Habe ich noch mehr gelesen? Auf jeden Fall. In den letzten Wochen habe ich, wie ich schon einmal geschrieben habe, an einem Programm zur Analyse von semantischen Rollen gearbeitet. Eine semantische Rolle ist zunächst eine Kategorie, die man auf Satzteile anwendet. Es geht also um die Analyse eines Satzes, allerdings nicht in einem rein grammatischen Sinne, sondern in Bezug auf die Bedeutung des Satzes, wobei die Grammatik allerdings eine wichtige Rolle spielt. Ich hatte mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. Und am Anfang hat es so ausgesehen, als würden sich diese Probleme einfach nur vervielfachen, und keines davon lösen lassen. Doch jetzt, einige Wochen später, konnte ich zumindest ein paar Annäherungen programmieren, die mich nicht vollständig verzweifeln lassen.
Befriedigend sind meine Lösungen allerdings noch nicht. Erstens stöbere ich (wie ein Wahnsinniger) in meinen linguistischen Büchern herum, immer auf der Suche nach Anregungen, wie ich meine Probleme noch lösen könnte. Zweitens habe ich mittlerweile ein Programm geschrieben, das wahrscheinlich dermaßen viele Wiederholungen und ähnliche Programmteile enthält, dass ein erfahrener Programmierer die Hände über den Kopf zusammen schlagen würde. Ich habe, in Bezug auf das Programmieren, noch keine vernünftige Ordnung gefunden, auch wenn das Programm mittlerweile hinreichend gut funktioniert.

Wozu programmiere ich das überhaupt?

Ziel ist so etwas wie eine Inhaltsanalyse, wobei es hier, bei mir, um ganz spezifische Techniken der Datenerfassung geht. Meine Idee ist, dass das Programm die semantischen Rollen von Satzteilen erfasst, und darauf eine Analyse ähnlicher und unterschiedlicher Muster aufbaut. Ich möchte also das, was ich an einzelnen Textabschnitten gezeigt habe, durch ein Programm systematisieren. Die Interpretation wird natürlich weiterhin den Menschen überlassen bleiben; die Auswahl der Muster sollte allerdings, soweit es möglich ist, von einem Computerprogramm geliefert werden.
Die nächste Herausforderung dabei ist allerdings, solche Muster überhaupt festzustellen, d. h. einen Algorithmus zu definieren, der bestimmte Muster herausarbeitet und auf andere Situationen überträgt. Damit bewege ich mich aber deutlich im Bereich der Künstlichen Intelligenz, einem Bereich, der für mich (noch) unerreichbar scheint.
Irgendwann soll dieses Programm folgendermaßen funktionieren: ich gebe eine Menge an Daten ein (Textdateien oder Internet-Adressen), die dann auf Muster hin durchsucht werden; schließlich werden diese Muster in verschiedenen Weisen grafisch dargestellt, sodass der Benutzer direkt auf diese zugreifen kann, und seine Interpretation darauf aufbauen kann.

Alice Munro

Schon lange wollte ich Kurzgeschichten von Alice Munro lesen, die den Nobelpreis für Literatur 2013 zugesprochen bekommen hat. Bisher hatte ich dazu keine Zeit. Jetzt habe ich es geschafft. Und aus den beiden Büchern – Tricks und Liebes Leben – immerhin eine Kurzgeschichte gelesen. Ganz bezaubernd. Wenn es von mir abhängen würde, aufgrund meiner doch sehr reduzierten Leseerfahrung, würde ich Munro tatsächlich den Nobelpreis der Literatur zusprechen. Andere waren schneller und klüger. C'est la vie, c'est la merde.