25.11.2016

Postfaktisch

Jens Berger macht sich über den Begriff ›postfaktisch‹ Gedanken; zurecht kritisiert er, dass dieser als Kampfbegriff gebraucht wird, zudem noch von jenen, für die Fakten (auch) nichts gelten.
Nun macht man sich, wenn man dem täglichen Schlachtenlärm lauscht, so seine Gedanken. Meine sind, seit zwei Wochen, der Meinungsfreiheit zugewandt. Ich folge Kant durch seine Werke hindurch, wie sich dort Fakten und Meinungen zueinander stellen.

Tatsachen

Begriffe sind keine Tatsachen. Tatsächlich gibt es bei Kant zwei sehr verschiedene Arten von Begriffen, einmal die Verstandesbegriffe und einmal die Vernunftsbegriffe. Eine Tatsache ist formal durch eine konkrete Zeit und einen konkreten Raum bestimmt, inhaltlich ist sie sinnlich, bzw. anschaulich. Sie ist mit Sinnen wahrnehmbar und verweist auf eine sinnliche Wahrnehmung, wenn diese mitgeteilt wird; zugleich liegt in ihrer formellen Definition, dass ein Fundort und eine Fundzeit angegeben werden muss. Sofern eine Tatsache oder eine Folge von Tatsachen auch nicht-sinnliche Bestandteile enthalten, müssen diese geschieden werden.

Verstandesbegriffe

Tatsachen sind aus einer Mehrzahl sinnlicher Einzeldaten zusammengesetzt. Von diesen Merkmalen kann man so abstrahieren, dass etwas Allgemeines entsteht, was auf eine Vielzahl von Tatsachen zutrifft. So lassen sich bei allen weiblichen Säugetieren Milchdrüsen finden; weiterhin lässt sich gesetzmäßig beobachten, dass diese zur Nährung der Jungen bezweckt sind, so dass sich, egal ob es sich um einen Elefanten, eine Maus oder eine Ginsterkatze handelt, das Wort Säugetier rechtfertigt. Ein solches von Besonderheiten bereinigtes Wort heißt Verstandesbegriff, der Prozess zu diesem ist die Abstraktion: diese scheidet das Allgemeine vom Besonderen.

Vernunftsbegriffe

Werden dagegen ideale Verhältnisse vorgestellt, die (zumeist) konkrete Phänomene zueinander in ein Verhältnis bringen, handelt es sich um einen Vernunftsbegriff oder Idee. Die Idee stellt so eine Struktur dar, die verwirklicht werden muss. Man kann also sagen, dass die Wirklichkeit die Idee illustriert.
Nehmen wir zum Beispiel die Idee vom Pädagogen als Gärtner; dort sät der Lehrer in die leeren Felder die passenden Samen, umsorgt und umhegt sie und lässt den einzelnen Pflanzen ihrer Art nach das Benötigte zukommen; zu gegebener Zeit werden die Früchte reif und dienen der Gemeinschaft als Nahrung.
Diese Idee wird in der Wirklichkeit unterschiedlich gut verwirklicht. Betrachtet man den Gedanken genau, so beginnt sie mit einer tabula rasa (den leeren Beeten); dies kann aber mit der Evolutionstheorie widerlegt werden. Ebenso widerlegt die Entwicklungspsychologie, dass im ausgestreuten Samen (dem vermittelten kulturellen Gut) schon die Frucht angelegt sei (der gelebten Kultur).
Ohne hier weiter Einzelheiten aufzuzählen lässt sich sagen, dass eine Idee gelegentlich recht wirklichkeitsfremd sein kann und dass das Scheitern einer Idee nicht daran liegen muss, dass man bei der Verwirklichung schlampig gewesen ist.
Trotzdem muss man eben an dem Realitätsgehalt festhalten, denn der Pädagoge gibt etwas in die Klasse hinein und beim einzelnen Schüler entwickelt sich etwas.

Kontrafaktisch also

Eher selten geschieht, dass in der Politik Fakten zur Sprache kommen. Oft sind es Statistiken, die als Beweis herhalten müssen. Günstigstenfalls sind diese reine Abstraktionen, so dass sich aus der Datenerhebung ein Verstandesbegriff ergibt. Oftmals liegt aber schon der Datenerhebung einer Statistik eine Reihe von Vernunftsbegriffen zugrunde, weshalb diese dann auch keine Allgemeinheit, sondern "nur" eine Verhältnisgleichheit/-verschiedenheit ausdrücken.
Auch der Bezug auf Meinungen ist nur bedingt faktisch; dies ist wohl in der Politik eine der häufigsten Bezugnahmen auf die Wirklichkeit - und natürlich eine grundsätzlich notwendige. Aber dass eine Meinung faktisch geäußert wurde, macht ihren Inhalt nicht faktisch.
Eine der großen Herausforderungen politischer Kritik war und wird wohl immer bleiben, den Anspruch der Wirklichkeit gegen den Anspruch auf ein Zusammenleben geltend zu machen. Und umgekehrt.
Derzeit herrscht aber eine solche Verwirrung der Begriffe und der Zuordnungen, ebenso wie der Umgang mit diesen in ein babylonisches Durcheinander sich aufgelöst hat, dass eine gute Beschäftigung mit der grundlegenden Logik sehr hilfreich wäre. Und insofern könnte man dem Postfaktischen das Postkonzeptionelle (concept = Begriff) beiseite stellen.

11.11.2016

Ein Mann, der in keinster Weise auffällig war

So, müsste man sagen, fangen gute Kurzgeschichten an:
Between the silver ribbon of morning and the green glittering ribbon of sea, the boat touched Harwich and let loose a swarm of folk like flies, among whom the man we must follow was by no means conspicuous - nor wished to be.
Chesterton, Gilbert Keith: The blue cross

The blue cross

Der Satz ist nicht so einfach, wie man schon beim ersten Lesen erfasst.
1. Als erstes fällt auf, dass das Band zuerst mit einer Tageszeit zusammenhängt, dann mit einem räumlichen Phänomen. Beide sind aber räumlich und beide dürften in etwa denselben Ort bezeichnen, nämlich den Übergang vom Meer zum Himmel. Bedenkt man, dass Erzählen bedeutet, einem Geschehen Raum und Zeit zu geben, dabei aber den Horizont - die weitergehende Bedeutung - mitzuschreiben, zeigt dieser erste Satz bereits die wesentlichen Elemente der Erzählung an.
2. the boat touched - to touch wird hier als Verbalmetapher gebraucht.
3. to let lose - Das aktive Verb verweist auf eine Person, und, da es sich um einen unbelebten Gegenstand handelt, um eine Personifikation.
4. like flies - Dies ist ein (wenn auch recht gewöhnlicher) Vergleich.
5. we must follow - Hier wird die Erzählsituation direkt angesprochen. Allerdings bleibt die Notwendigkeit ein Rätsel: es ist nicht klar, warum wir diesem Mann folgen müssen.
6. was by no means conspicuous - nor wished to be - Tatsächlich wird der Erzählzwang und die Willkür des Erzählers in dicht gedrängter Weise ironisiert. Wendet sich 5. an den Leser in direkter Art und Weise, zeigt 6. dies auf indirekte Art und Weise: indem der Autor sich als allwissend gibt (er sieht den Protagonisten von außen und von innen), zeigt er dem Leser, dass er auch verborgende Hinweise aufdecken kann. Der verborgende Hinweis führt zusammen mit 5. den Protagonisten als ungewöhnlich ein, auch wenn zunächst das Gegenteil behauptet wird. Doch erstens wäre eine Kurzgeschichte ohne einen ungewöhnlichen Protagonisten (oder zumindest einem Protagonisten, der Ungewöhnliches erlebt hat) nicht erzählenswert, und zweitens ist in Geschichten die exponierte Verneinung meist ein Zeichen dafür, dass das Gegenteil gilt.
Und tatsächlich: der erste Absatz führt einen Mann ein, der zunächst durch Gegensätze gekennzeichnet ist: the holiday gaiety of his clothes / the official gravity of his face; lean face / seriousness of an idler. Schließlich werden drei verborgende Details angesprochen: a loaded revolver, a police card, one of the most powerful intellects in Europe.
Am Ende des Absatzes kennen wir dann auch die Absicht, mit der der Protagonist nach London gekommen ist: to make the greatest arrest of the century.

Die rhetorische Schicht

Wenn man die Aktantenrollen in Sätzen analysiert, ist eine der größeren Probleme, den Text von seinen rhetorischen Besonderheiten zu isolieren, einmal, um zu einer "eigentlichen" Satzbedeutung zu kommen, einmal, um das Verhältnis zwischen rhetorischen Figuren und semantischen Rollen deutlich erfassbar machen zu können.
Würde man zum Beispiel was by no means conspicuous - nor wished to be wörtlich lesen, dann würde dieser Satz auf nichts vorausdeuten, was dann in der Geschichte passiert. Doch wir begreifen die Behauptung der Gewöhnlichkeit als ironisches Signal und damit als uneigentlich.
Der Anfang der Geschichte Chestertons ist zwar nicht hochpoetisch, aber doch raffiniert und zeigt eine wundervolle Weise, wie man mit wenigen, unaufgeregten Sätzen zugleich die Exposition bestreitet und Spannung aufbaut. - Ein Computerprogramm weiß von solchen Zwischentönen wenig (und ich befürchte sogar: gar nichts); genau das aber ist mein Problem: schon in recht einfachen und für die Menge geschriebenen Erzählungen (zu denen man Chesterton durchaus zählen kann) greift die rhetorische Schicht in alle Ebenen des Erzählens ein und verkompliziert diese. Das ist gut für den Leser, doch schlecht für den Programmierer.

10.11.2016

Archetypen

Auf dem Weg zu einer Analyse der semantischen Bedeutung von Texten ist die Analyse von kontextuellen Figuren zugleich eine der wichtigsten als auch eine der schwierigsten. Wie ich im letzten Artikel geschrieben habe, ist die Satzbedeutung natürlich grundlegend, und hier existiert (neben einigen anderen) mit der Analyse der semantischen Rollen von Satzteilen ein wunderbares, und recht einfaches Schema.

Sinnmuster jenseits des Satzes

Sobald man aber über den Satz hinaus geht, sieht man sich mit zahlreichen Problemen konfrontiert. Das eine oder andere Mal habe ich das schon angedeutet. So wird jeder erzählende Text von bestimmten Konventionen gestaltet; einige dieser Konventionen betreffen in sich abgegrenzte, aufeinanderfolgende Textmuster, so z.B. die Beschreibung, die Schilderung und der Dialog, auch wenn diese drei Textmuster in ihrer Reinform nicht existieren und fließende Übergänge und vermischte Typen nicht nur zulassen, sondern sogar fördern. Gleichzeitig wird ein erzählender Text aber auch von anderen Konventionen konstituiert: diese betreffen die Personen, die Orte, die Art und Weise der Handlung, oder sie betreffen z.B. die Wortwahl (ein amerikanischer hard-boiled nutzt andere Worte als ein französischer gentleman crime).
Nun ließe sich das hinnehmen, wenn sich diese Konventionen nach Schichten aufteilen ließen, wie dies für eine Menge rhetorischer Figuren möglich ist (dort gibt es rhetorische Figuren, die die phonologische Ebene betreffen, andere, die die syntaktische Ebene gestalten, und wieder andere, die auf der intertextuellen Ebene zu finden sind, und so weiter). Aber so einfach lässt sich die Erzählung nicht formalisieren.

Archetypen

Meine ersten Gehversuche

Ein Problem, was mich in den letzten Tagen beschäftigt hat, ist das des Archetyps. Das Interesse daran ist recht alt. Es fällt mit meinen ersten Gehversuchen als bewusst schreibender Mensch zusammen, dürfte also zwanzig Jahre her sein. Damals war es Carl Gustav Jung, den ich gelesen habe. Obwohl ich seine Bücher sehr mochte (und immer noch mag, wie ich gerade festgestellt habe), fand ich die Idee der Archetypen recht seltsam. Allerdings, so muss ich jetzt feststellen, ist meine Vorstellung davon sehr stark durch die esoterische Aneignung geprägt worden, die Jugendliche so an sich haben, wenn sie intellektualisieren.

Das Mandala als Struktur

Carl Gustav Jung geht davon aus, dass es eine begrenzte Menge an Archetypen gibt, die sozusagen Schablonen für unsere Vorstellungsstrukturen bilden. Es sind in gewisser Weise Muster, in die sich die konkreten Vorstellungen dann einfügen; ein typisches Beispiel dafür ist das Mandala, welches sich von einem Zentrum zu einem Rand fortentwickelt, und dabei den Übergang zwischen entgegengesetzten Wertungen gestaltet: so steht im Mittelpunkt des Mandalas, in seinem Zentrum, z.B. häufig ein Garten oder ein Paradies, am Rand die Wildnis oder die Hölle; und damit wird der Übergang von Kultur und Natur, von Zähmung und Wildheit, von Gut und Böse zwar nicht erklärt, aber doch darstellbar.

Astronautenhelme

Meine Zweifel an diesen angeborenen Bildern wurden mir zum ersten Mal besonders durch Erich von Däniken bewusst; und dann noch durch eine etwas verrückte Religionslehrerin, die an meinem Gymnasium unterrichtete. Erich von Däniken hatte irgendwann, Ende der achtziger Jahre, noch einen seiner legendären Auftritte, in denen er anhand einer Figurine, deren Kopf einem Motorradhelm glich, „bewies“, dass dies eigentlich ein Astronautenhelm sei, und damit die Landung außerirdischer Intelligenz während der prähistorischen Zeit plausibilisieren wollte. Ich erinnere mich dann noch undeutlich daran, dass irgend ein Ethnologe die eigentliche Bedeutung dieser Figurine erklärte: dass dies eigentlich ein Penis sei, und dass das Männchen, welches einen Motorradhelm trage, ein Symbol für die Kraft sei, die dem Penis zugesprochen werde. Der Motorradhelm sei eigentlich die Eichel, und dass diese mit einem Fenster versehen sei, durch die man ein Gesicht sehen könne, sei der Rücksicht auf Darstellbarkeit geschuldet.

Fliegende Geschlechtsorgane

Die etwas verrückte Religionslehrerin könnte man heute vielleicht als ein Urbild für all die Personen darstellen, die vor den Anti-Genderisten als Beweis herhalten müssen, dass die gender-Theorie unwissenschaftlich sei. Diese Frau geriet während des Unterrichts des Öfteren in Rage und verglich unter anderem Straßenlaternen und Verkehrspoller mit Penissen und als Beweis für die Vorherrschaft einer völlig auf den Schwanz fixierten männlichen Kultur. Einmal hat sie eine Schülerin (jawohl!) aus dem Unterricht geschmissen; in einer ihrer Tiraden kritisierte sie scharf, dass Raketen penisförmig seien, worauf die Schülerin sie unterbrach und meinte, etwas Vulvaförmiges sei nicht stromlinienförmig genug, um abheben zu können. Offenbar kannten aber beide, sowohl Lehrerin als auch Schülerin, nicht den Film Alien und das obszöne, von Giger gestaltete Raumschiff, dessen Form an gespreizte Beine und dessen Eingänge an Vulven erinnern.

Strukturen der Welterfahrung

Jedenfalls waren das zwei Anekdoten, die mich immer wieder gedanklich beschäftigt haben. Und auch wenn ich Carl Gustav Jung danach kaum noch gelesen habe, haben mich die Archetypen nicht losgelassen. Tatsächlich habe ich dann irgendwann meine eigene Idee aufgeschrieben, warum das Mandala einen so zentralen Bestandteil unserer Erfahrung darstellt; das ist im Grunde ganz naheliegend: das Mandala spiegelt die körperliche Erfahrung von nah und fern wieder, und der Archetypus ist vielleicht nicht in dem Sinne angeboren, dass er sich irgendwo in unser Unbewusstes oder unser Stammhirn eingeschrieben hätte, sondern dadurch, dass wir alle körperliche Wesen sind, denen sich die Umwelt durch Nähe und Ferne strukturiert. So drängt sich die Struktur des Mandalas eventuell durch unsere Erfahrung der Welt auf, und dadurch, dass wir körperlich in ihr existieren.
Auch andere Archetypen lassen sich auf Erfahrungen zurückführen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens (zumeist der ersten drei Jahre) machen muss, und die keineswegs genetisch vererbt sein müssten.
In der Praxis dürfte dieser feine Unterschied allerdings kaum eine Rolle spielen.

Archetypen und Textstrukturen

Nun sollte klar sein, warum mich Archetypen interessieren: Sie sind eine andere Form, Strukturen im Text aufzufinden; und ginge man von dem Wort selbst aus, dann müssten sich diese in einer wichtigen Art und Weise in die Textgestalt einmischen. Archetyp, bzw. Archetypus, meint Urbild.
Allerdings gibt es gewichtige Gründe, warum solche Urbilder keineswegs vererbt werden, auch nicht auf dem Weg der Ontogenese, d. h. als natürliche und notwendige Struktur individueller Erfahrung. So scheint die Struktur des Mandalas im Bewusstsein der Großstadtmenschen nicht mehr vorhanden zu sein: es ist wohl eher die Erfahrung agrarischer Zivilisationen, bei denen die Bedeutung von Nähe und Ferne noch eine wichtige Rolle spielt.
Dementsprechend nennt Roland Barthes solche „Patterns“
Wiederholungen und keine Fundierungen; Zitat und keine Ausdrücke; Stereotypen und keine Archetypen.
Barthes, Roland: Der Stil und sein Bild. in ders.: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt am Main 2005, S. 145
Das wiederum verweist auf ein Problem, das für meine Analysen tiefsitzender ist: solche Patterns sind in Bewegung; sie sind historisch; sie mögen für weite Teile der Bevölkerung ein Raster dafür bieten, in welcher Weise sich die Ideen ihrer Texte bewegen, aber sie scheitern dort, wo die Texte individuell werden, wo sie ungekonnt geschrieben worden sind, wo sie pathologischen Idiosynkrasien gehorchen.

Agamben und das Paradigma

Am Hof des Despoten

Eine der interessantesten Variationen des Themas Stereotyp/Archetyp habe ich allerdings bei Agamben gefunden (bzw. ich habe mich an meine Lektüre aus dem September erinnert): Agamben zitiert Goethe; dieser, also Goethe, kritisiert zunächst den Aufbau von Systemen aus zu wenig Daten:
Man wird bemerken können, dass ein guter Kopf nur desto mehr Kunst anwendet, je weniger Data vor ihm liegen; dass er, gleichsam seine Herrschaft zu zeigen, selbst aus den vorliegenden Datis nur wenige Günstlinge herauswählt, die ihm schmeicheln, dass er die übrigen so zu ordnen weiß, dass sie ihm nicht geradezu widersprechen, und dass er die feindseligen zuletzt so zu verwickeln, zu umspielen und beiseitezubringen weiß, dass wirklich nunmehr das Ganze nicht mehr einer frei wirkenden Republik, sondern einem despotischen Hofe ähnlich wird.
Goethe, Johann Wolfgang von: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt. in GW XIII, München 1998, S. 16

Allseitigkeit

Agamben interessiert allerdings an diesem kurzen Aufsatz von Goethe etwas anderes. Goethe argumentiert nämlich weiter, dass Phänomene nicht isoliert existieren, und dass, wer ein Phänomen untersucht, dessen Nachbarschaften zu betrachten habe:
Dagegen werden wir finden, dass diejenigen am meisten geleistet haben, welche nicht ablassen alle Seiten und Modifikationen einer einzigen Erfahrung, eines einzigen Versuches nach aller Möglichkeit durchzuforschen und durchzuarbeiten.
Ebenda, S. 17
Schließlich führt dies Goethe zu einem Satz, der paradigmatisch für das ganze reifere Werk (also abgesehen der Jugendschriften) stehen könnte:
Da alles in der Natur, besonders aber die gemeinern Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, dass es mit unzähligen andern in Verbindung stehe, wie wir von einem freischwebenden leuchtenden Punkte sagen, dass er seine Strahlen auf allen Seiten aussendet.
Ebenda, S. 17 f.

Phänomen und Analogie

Daraus folgert Agamben, dass das Urphänomen, wie Goethe es nennt, der Ort sei,
an dem die Analogie in perfektem Gleichgewicht lebt, jenseits der Opposition zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen.
Agamben, Giorgio: Signatura rerum. Frankfurt am Main 2009, S. 36
So gibt es auch kein besonderes Element oder Phänomen in einem Paradigma, welches dieses Paradigma besonders gut erfüllt. Das Paradigma drückt sich durch ein paradigmatisches Ensemble aus und das paradigmatische Ensemble ist dem Paradigma immanent.
Im Bereich des Paradigmas gibt es keinen Ursprung und keine Arche. Jedes Phänomen ist Ursprung, jedes Bild archaisch.
Ebenda, S. 37

Familienähnlichkeit

Wittgenstein scheint etwas ähnliches zu meinen, wenn er von Familienähnlichkeit spricht. Tatsächlich ist dieser Begriff erst durch die Rezeption Wittgensteins zu einem Leitbegriff seines philosophischen Denkens geworden. Die Argumentation Wittgensteins verläuft in dem Abschnitt, in dem er den Begriff der Familienähnlichkeit einführt, ähnlich der Argumentation Goethes: auch Wittgenstein warnt davor, den Begriff über die Anschauung zu setzen. Und so lautet ein zweites, berühmtes Zitat aus jenem Abschnitt: Denk nicht, sondern schau!
Wittgenstein schreibt also:
Sag nicht: »Es muss ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ›Spiele‹« – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. in ders.: GW I, § 66/S. 277
Er fährt im folgenden Abschnitt (§ 67) fort:
Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort »Familienähnlichkeiten«; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Mitgliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. – Und ich werde sagen: die ›Spiele‹ bilden eine Familie.

Politisches Schlusswort

Man sieht immer häufiger die politischen Diskussionen von Begriffen beherrscht, denen jeglicher sinnlicher Gehalt fehlt. Man bekommt den Eindruck, als würden diese Menschen, die so argumentieren, den Dingen durch die Benennung ein Wesen zuschreiben können, das jenseits der Beschreibung und der Erfahrung liegt: rechts und links, konservativ, deutsch, völkisch – all das sind Begriffe, die sich im wissenschaftlichen Sinne gar nicht mehr als Begriffe bezeichnen lassen; Roland Barthes hat sie Mana-Wörter genannt und zu Recht mit dem Mythos verbunden (in: Mythen des Alltags).
Seltsamerweise ist genau dies ein Phänomen, das sich vor allem in der „konservativen“ und „rechtspopulistischen“ Sprechweise wiederfinden lässt. Neuerdings wird Sahra Wagenknecht gerne als Befürwortern der AfD und Vertreterin von AfD-nahen Gedanken beschrieben; betrachtet man allerdings die Begriffsbildung (und im Zuge dessen auch die Argumentationsweise), findet man einen eklatanten Unterschied: Wagenknecht vermeidet solche Mana-Wörter; stattdessen beschreibt sie (oft) konkrete Wechselwirkungen.
Der politischen Rede fehlt die Anschaulichkeit; Anschaulichkeit wird gerne verwechselt mit Schlichtheit; aber genau das Gegenteil kann der Fall sein, nämlich genau dann, wenn man, wie Wittgenstein (und Agamben und Goethe) von einer ganz anderen Logik ausgeht, einer Logik der Phänomene, nicht der pseudo-apriorischen Begriffe.

Persönliches Schlusswort

Und ich? Ich bin weiterhin auf der Suche nach Algorithmen, die die Aktantenrollen eines Satzes über den Satz hinaus fruchtbar machen; und eigentlich suche ich diese schon gar nicht mehr, denn ich befürchte, dass ich noch viele Jahre Programmiererfahrung sammeln muss, bevor ich das umsetzen kann, was ich zur Zeit mehr durch Intuition als durch Handwerk erfasse.