29.03.2017

Figuration, Anschauung, Erkenntnis - Sybille Krämer

Dass ich mich mit Wittgenstein beschäftige, ist nichts Neues. So langsam dringe ich in die "tieferen" Regionen der Philosophischen Untersuchungen ein; ich lasse mir Zeit, erfinde mir Beispiele drumherum, sammle Beispiele, kommentiere diese - ich versuche nicht nur die Inhalte des Wittgensteinschen Philosophierens zu verstehen, sondern dessen Praxis. Eine Nachahmung des Schreibstils gehört dazu. Sie kommt mir entgegen, als ich das fragmentierte, kommentierende Schreiben seit dreißig Jahren pflege.
Weil es nun dazugehört, sich mit anderen Autoren auseinanderzusetzen, die zu gleichen oder ähnlichen Themen arbeiten oder über Wittgenstein schreiben, ist mir Sybille Krämer aufgefallen. Ihr Buch Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie behandelt den Erkenntniswert von Diagrammen als auch, in einem Kapitel, dem neunten und letzten, Wittgenstein als wichtigen Autoren.
Mit dem Lesen komme ich langsam voran; ich befinde mich auf Seite 70, und das ist auch nur der Tatsache geschuldet, dass ich nicht aufhören kann zu lesen. Ob es ein kluges Buch ist, vermag ich nicht zu sagen. Dazu fehlt mir der Überblick, der mich in eine gewisse überlegene Position bringen würde. Anregungsreich ist es allemal. Ich bringe alles mit ein, was mich letztes und dieses Jahr beschäftigt hat: die Geometriedidaktik und UML, und die Jahre zuvor, vom Kommunikationsquadrat von Friedemann Schulz von Thun, über das Rubikonmodell Heckhausens und meine Abwandlung für die Erzählpraxis, das Intelligenz-Strukturmodell nach Guilford, und dann natürlich meine eigenen, kleinen und zahlreichen Skizzen, die ihren hypothetischen, nie zum Ende gelangenden Charakter nicht leugnen können.
Krämer nun beschreibt, welche Rolle Diagramme für die Entwicklung von Wissenspraktiken und Denkmöglichkeiten, für Beweiskraft und Erfindungshaltung, für kognitive Mobilität und kognitive Kreativität spielen. Beschreibung ist hier fast wörtlich zu nehmen, denn was die Autorin vorlegt, ist eine sich dicht an der Anschauung bewegende, sparsame Interpretation. Trotzdem, oder gerade deswegen, kann mich dieses Buch auch so begeistern: es liefert sich eben keinen Spekulationen aus, vor allem keinen unmarkierten. Unmarkierte Spekulationen sind heute gängige Praxis: man diskutiert sie als fake-news, als zugehörig zum postfaktischen Zeitalter. Spekulationen aber sind eben auch ein wichtiger Bestandteil der wissenschaftlichen Praxis, werden dort aber als z. B. Hypothesen ausgewiesen. Und auf der anderen Seite ist diese einfache, gelegentlich schlichte Beschreibung mit einer Sprengkraft versehen, die daraus entsteht, dass wir uns zu sehr an einen einseitigen Gebrauch von Diagrammen gewöhnt haben. Dass unser einseitiger Gebrauch überhaupt ein einseitiger ist, wird deutlich, wenn man geduldig die Merkmale und Bedingungen von Diagrammen herausarbeitet. Dies gelingt Sybille Krämer vorzüglich.
Natürlich kann ich noch nicht annähernd ein allgemeines Urteil zu diesem Buch abgeben. Es ist sehr klar geschrieben, aber mit Fachvokabular; ich kann mir vorstellen, dass es Menschen, denen die Kulturwissenschaft mit ihrem Begriffsapparat gar nicht geläufig ist, stellenweise Mühe haben werden, die Aussagen zu verstehen. Trotzdem ist es kein unverständliches, kompliziertes, mit Fachchinesisch verdunkeltes Buch: dazu ist es zu klar strukturiert; dazu ist auch der Anspruch, die Erkenntnisleistungen von Diagrammen in der Alltagskultur zu beschreiben, durch unsere Teilhabe an diesem Alltag zu vertraut: es gelingt rasch, die Beispiele mit eigenen Beispielen und damit mit (Weiter-)Denkmöglichkeiten zu ergänzen.
Meine Notizen, die ich gerade in meinem Arbeitsheft sammle, umfassen mittlerweile zahlreiche Seiten, genauer gesagt um die zwanzig. Insbesondere hat mir die Unterscheidung verschiedener Linien innerhalb von Diagrammen sehr imponiert. Linien, so Krämer, repräsentieren etwas, und dieses Etwas kann je verschieden sein. So einsichtig dieses Argument ist, so blind ist man dafür, dies beim Betrachten und Benutzen von Diagrammen deutlich und systematisch anzuwenden. Genau dies habe ich dann auch (zumindest ein Stück weit) in den letzten beiden Tagen nachgeholt. Und konnte einigen altbekannten Modellen (wie z. B. dem Kommunikationsquadrat) überraschende, neue Erkenntnisse abringen.
Mein bisheriges Fazit: ein wunderbares Buch. Selbst für diejenigen, die eher nicht mit Kulturwissenschaften zu tun haben, dürfte es sehr fruchtbar sein, denn natürlich befasst sich die Autorin auch mit mathematischen Diagrammen, geometrischen Beweisen, Zeichnungen von Maschinen, etc.; also kommt der Naturwissenschaftler nicht zu kurz, und findet hier, wenn ihm dies nicht naheliegt, doch einen Eingang in die Denk- und Argumentationsweisen einer kulturhistorischen und diskursanalytischen Betrachtung.

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