23.04.2017

Sie ist nicht ganz so einfach zu haben, diese Wissenschaft

Nein, das ist sie nun wirklich nicht.
Gestern hat in Berlin der March for Science - insbesondere wohl auch gegen die AfD - stattgefunden. Prinzipiell ist das zu begrüßen. Nicht, dass ich sonderlich viel von Parteiprogrammen halte, und es ist nun nicht so, als wären wissenschaftliche Patzer der CDU, CSU, FDP, Grünen, etc. fremd. Aber dieses wüste Konglomerat, welches sich die AfD als Parteiprogramm geleistet hat, zudem die pointierte Abwertung wissenschaftlicher Forschung zugunsten populistischer Ansichten, all dies lässt sich auf Böses umdeuten.
Auch, was die Darstellung der Wissenschaftsvermittlung in den letzten Jahrzehnten angeht, liegt einiges schief. Die Debatte um das gender-Mainstreaming wurde mit heißer Nadel hinter kaltem Ofen gestrickt; und auch wenn es dieses wissenschaftliche Fundament gibt, so ist doch ein gewisses Verständnis dafür aufzubringen, dass sich einige Menschen schlichtweg überfordert fühlten und jetzt von ihrem trotzigen Dagegen-sein nicht mehr abrücken wollen.
Aber beginnen wir mit etwas ganz anderem.

Das liebe Hirn

Hirn in Mode

Vorbei sind die Zeiten, da gefühlt jede dritte Spiegel-Ausgabe in knallig buntem Gepräge die neuesten Sensationen der Hirnforschung verkündete. Die Rückkehr der Geopolitik ist die neuere Dringlichkeit. Wie bei Moden üblich, ist der Nachlass dieser Erregung nicht begutachtet worden. Er ist, und das war er eigentlich schon immer, deutlich nüchterner, als dies die Hochglanzbilder mitzudeuten schienen.
Als Manfred Spitzer vor fünfzehn Jahren eine feindliche Übernahme der Pädagogik durch die Neurophysiologie prophezeite, war das sogenannte Jahrzehnt des Gehirns frisch vorüber (so nannte man das letzte Jahrzehnt des ausgehenden Jahrhunderts). Um die Jahrtausendwende kamen noch verfeinerte bildgebende Verfahren hinzu, deren ansprechende Darstellung wohl die Phantasie der Bevölkerung ähnlich ansprach, wie Anfang der 80er Jahre die kolorierten Julia-Mengen (die Seepferdchen-Grafiken).

Ikonografie des Denkens

Natürlich blieb die Auffassung Spitzers nicht unwidersprochen. Gerhard Roth schreibt, dass die Lehr-Lern-Forschung nicht durch die Neurophysiologie ersetzt werden könne (in: Bildung braucht Persönlichkeit). Noch schärfer greift er allerdings das hirngerechte Lernen an: diese Gebrauchsbücher seien zumindest teilweise "obskur", "teilweise falsch verstanden, teilweise irreführend dargestellt" (278).
Ebenso scharf stellt Sigrid Weigel in ihrem letzten Buch Grammatologie der Bilder die neueren populären Interpretationen so genannter brain scans dar. Bei brain scans handelt es sich eben um jene farbig aufgeputzten Bilder von arbeitenden Gehirnen. Weigel stellt diese Interpretationen in eine Reihe mit der Phrenologie, die nicht erst seit ihrer Wiederbelebung im III. Reich unter wissenschaftliche Ächtung gefallen ist, sondern lange vorher bei Lichtenberg und Goethe. Lichtenberg wandte gegen den "Großmeister" der Phrenologie - Lavater - ein, der Charakter eines Menschen ließe sich besser an dessen bewegtem Mienenspiel als an dem Profil seines Antlitzes erkennen. Ebenso ergeht es dem neuroimaging: die farblich kodierten Flächen weisen auf transitorische Zustände hin, auf Zonen der Weiterverarbeitung, nicht aber auf festzulegende Inhalte. Das Gehirn ist kybernetisch organisiert, nicht manifakturiell.
So erzeugen die Bilder, obwohl sie bei richtiger Lesart durchaus aufschlussreich sein können, bei einer falschen ein sehr statisches, und, zum Teil, wenn darauf weitere irrige Schlüsse aufgepackt werden, rein esoterisches Denkbild.
Was nun einen heimlichen Motor all dieser Missdeutungen ausmacht, so darf man den polemisch gemeinten Spruch Albert Einsteins als eine der Quellen ansehen, wir würden nur 10% unseres geistigen Potentials nutzen. Dieser ist, kombiniert mit brain scans, dann z. B. von Scientology aufgegriffen worden. Die ruhenden Teile des Gehirn sollten hier als Beweis dafür dienen, dass das Gehirn nicht 100%ig aktiv sei. Aber auch dies verwendet das Bild falsch. Um seine Funktionalität zu erfüllen, muss das Gehirn Muster bilden. Auch wenn die Aktivitätsbilder nur den Energieverbrauch angeben, verweisen diese doch auf ein spezifisches Muster. Genau dies stellt aber die Frage nach den Gehirnteilen anders, die in diesem Zustand wenig Energie verbrauchen. Denn das Muster bildet sich nur als Differenz zwischen starker und schwacher Aktivität, und nur als solches scheint es nützlich zu sein. Damit werden die schwach genutzten Hirnteile gerade dadurch wirksam, als sie, gleichsam als Außenseite, an dem Aktivitätsmuster teilhaben. Die Leistung des Gehirns wird dann auch weniger durch eine größtmögliche gleichzeitige Aktivität erlangt, als durch einen "geschickten" Wechsel der Aktivitätsmuster, was auch immer hier "geschickt" dann bedeutet.

Man steigt niemals in den gleichen Selbstfluss

Thomas Metzinger schreibt in seinem Buch Der Ego-Tunnel von dem Riss zwischen NCC und PSM. NCC, dies bedeutet neural correlate of consciousness, also das Bewusstsein, nicht, wie es aus der Sicht eines Psychologen oder Phänomenologen beschrieben wird, sondern aus der eines Neurophysiologen, nämlich als organisches Substrat; PSM ist das phänomenale Selbstbild (phenomenal self model), also jenes Bild, welches wir in jedem Moment unseres Bewusstseins von uns selbst besitzen.
Nun ist leicht einzusehen (was Metzinger dann wesentlich präziser beschreibt), dass dieses phänomenale Selbstbild beständig fließt:
Es gib ein spezielles NCC für einzelne Bewusstseinsinhalte (eines für die Röte der Rose, ein anderes für die Rose als eine Ganzheit und so weiter), und es gibt auch ein globales NCC.
Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. München 2014, S. 79
Nun hängt das PSM innig mit dem NCC zusammen, obwohl sie nicht dasselbe sind; und so verändert sich das PSM mit den Bewusstseinszuständen beständig mit. Es fließt, um diesen Ausdruck des alten Heraklit mit dem moderneren freudschen Konzept des Unbewussten und Latenten zu verbinden. Dass das nicht nahtlos im NCC aufzufinden ist, liegt nun wieder daran, dass es in Erscheinung tritt. Und damit gehorcht es einem grundlegenden Mechanismus der neuronalen Weltkonstruktion: dem Kohärenzprinzip. Das Gehirn schließt die Lücken dieser Welt oder überblendet sie (aber das sind alles nur Metaphern), um uns und - insbesonders - unserer Handlungsfähigkeit, eine Ordnung zu erschaffen, die sich sinnvoll verändern lässt. So ist unser Selbstbild pragmatisch geprägt.

Die Wahrheit in der Physik

Dies führt uns zu zwei weiteren Aspekten. Einmal verweist uns das "Alles fließt" auf die Mechanik des 19. Jahrhunderts und ein essentielles Problem der Physik, welches durch Einstein dann so blitzhaft wie kongenial gelöst wurde. Zum anderen wird uns dies an das Problem der gender-Theorien heranführen und wo diese ihre biologischen Grundlagen findet. - Beginnen wir zunächst mit der Physik, mit zwei kurzen Anmerkungen.

Atome in der Schule

Wie jedermann weiß, wird in der Schule das Bohrsche Atommodell gelehrt. Dieses ist mittlerweile, als Ikon, als Architektur, in das Bildgedächtnis der (westlichen) Kultur eingegangen. Um einen aus mehreren ineinandergeknäulten Kugeln gebildeten kugelförmigen Haufen kreisen zwei oder drei kugelförmige Elektronen auf einer Kreisbahn. In nichts aber ähnelt dieses Modell den modernen Berechnungen von Atomen. Die Nähe zum Sonnensystem dagegen ist augenfällig. Man kann also nicht davon sprechen, dass überkommenes Wissen beiseite gelassen wird; immer noch lernen es die meisten Menschen in ihrem Physikunterricht kennen und sehen es als wahr an.
Tatsächlich hat sich in dieses Modell aber ebenfalls ein Pragmatismus, eigentlich sogar ein doppelter Pragmatismus eingeschlichen. Zum einen wäre es für Lehrer und Schüler eine Überforderung, das Atom nach Maßgabe der modernen Quantenphysik zu erlernen. Hier nimmt die Darstellung Rücksicht auf den pädagogischen Prozess. Zum anderen taugt das Atommodell und das sich relativ unkompliziert daran anschließende Modell von den Elektronenbesetzungen auf den "Schalen", um daran grundlegend die Verbindungen von verschiedenen Atomen zu Molekülen zu erklären. Dieses Wissen ist sicher, und das Modell reicht, obwohl es an Genauigkeit zu wünschen übrig lässt, für diese Erklärung vollkommen aus. Dies ist die Rücksicht der Darstellung auf weiterführende Erklärungen, die dann im Chemieunterricht eine wichtige Rolle spielen.
Wir sehen also, dass die Wissenschaft durchaus auf gewisse Praktiken reflektiert und sich dabei reduziert oder anähnelt.

Flüchtige Nullpunkte

Einstein wiederum hat sich dadurch berühmt gemacht, dass er ein lange ausgehecktes Problem der Physik praktisch über Nacht gelöst hat. Die Mechanik stützte sich im 19. Jahrhundert (und den Jahrhunderten davor) auf das Prinzip des panta rhei, des Alles fließt. Demnach gab es keinen Fixpunkt und keine Null-Geschwindigkeit. Der Elektromagnetismus wiederum hatte rechnerisch dargestellt, dass er einen Fixpunkt brauchte, um bestimmte Phänomene mathematisch begründen zu können. Dafür postulierte dieser dann ein nicht nachgewiesenes Element, den Äther. Nun widersprach der Fixpunkt scheinbar dem verbotenen Nullpunkt, und damit entwickelten sich Mechanik und Elektromagnetismus zunehmend auseinander. - Einstein kam nun auf den Gedanken, dass der Fixpunkt gar keine Untergrenze der Geschwindigkeit sein müsse, eben jene Geschwindigkeit Null, sondern auch eine Obergrenze sein könne, also eine höchste, nicht steigerbare Geschwindigkeit. Diese nannte er Lichtgeschwindigkeit. Damit waren größere Teile des Elektromagnetismus revisionsbedürftig.
Keine Frage: das Postulat des Äthers hatte über hundert Jahre seine Zwecke gut erfüllt und die Physik in diesem Bereich weitergebracht, obwohl es sich dann als falsch erwies. Die Wahrheit ist nicht so einfach zu haben; und wer will heute und angesichts der zahlreichen Umbrüche und Revolutionen in der Wissenschaft, behaupten, die Wissenschaft würde uns die Wahrheit lehren?

Gender-Theorien

Der Nicht-Fluss

Der Lesende wird richtig liegen, wenn er/sie vermutet, dass ich durchaus biologische Grundlagen für die gender-Theorie sehe und diese mit eben jenem phänomenalen Selbstbild verknüpfe, welches ich oben vorgestellt habe. Mehrere Aspekte stützen die kulturelle Produktion von Geschlechtern. All diese Aspekte sind nicht in der anatomischen Ausstattung zu finden, sondern in den Mechanismen des Gehirns. Um also zu einer biologischen Grundlegung der gender-Theorie zu kommen, dürfen wir uns nur zweitrangig mit der biologischen Zweigeschlechtlichkeit befassen. Allerdings darf diese auch nicht außer Acht gelassen werden. Ich werde gleich erklären, warum sie weiterhin eine zentrale Rolle spielt.
Zunächst können wir feststellen, dass das NCC beständig im Fluss ist, und damit auch das PSM. Nun unterliegt das PSM dem Kohärenzprinzip, dem die ganze neuronal erzeugte Welt gehorcht, weshalb es anscheinend still steht, während es sich doch von Moment zu Moment wechselt (soweit ich bis jetzt mit meinen Nachforschungen gekommen bin, etwa 15 mal pro Sekunde!). Man merke auf: sowohl der Fluss als auch der Nicht-Fluss des Selbstbildes sind keine körperlich-statischen Zustände, sondern Konstruktionen des Gehirns. Was immer an Körper dahinter liegt: es lässt sich nicht direkt erreichen. Übertüncht wird der Körper also nicht durch philosophische Werke, nicht von Judith Butler, nicht von Luce Irigaray und nicht von Martha Nussbaum, sondern durch kooperierende biologische Funktionen des Hirns.

Der Skandal der biologischen Grundlagen

Nun steht dieses Postulat (mehr gibt der Metzinger für mich zur Zeit nicht her) auch in einem gewissen Widerspruch zu dem, was die gender-Theorien sagen. Da ich dieses Wort im Plural benutze, und da ich mich noch nicht in der Lage sehe, hier eine bestimmte herauszupicken und daran meine Kritik genauer darzulegen, werde ich nur einige grundlegende Bedenken formulieren:
1. Der fließende Charakter des Selbstbildes und sein vorgetäuschter Stillstand machen eine Klassifizierung von Sexualitäten trügerisch. Nimmt man nämlich einen solch fließenden Charakter zugleich mit seiner spontanen Feststellung an, muss die gender-Theorie dem Rechnung tragen. Wie dies aussehen soll, weiß ich nicht vorzustellen. Sie müsste aber so etwas wie ein erlebtes kulturelles Geschlecht und ein diskursives kulturelles Geschlecht auseinanderdividieren.
2. Die Klassifikation in drei, sieben, achtundsiebzig Geschlechter mag vielleicht offen und revolutionär klingen, oder zumindest hinreichend anstößig. Aber die Geste der Einordnung und Unterwerfung unterscheidet sich nur wenig von der Klassifizierung in zwei Geschlechter. Damit stellt sich die Frage, ob man durch eine Vermehrung der Benennungen überhaupt der patriarchalen Deutungsmacht entkommt (so man ihr denn entkommen will, was bei den gender-Gegnern recht klar verneint, bei einigen der Pro-gender-Stimmen aber durchaus bezweifelt werden muss).
3. Drittens ist die spontane, und wie man bei Metzinger gut nachlesen kann, an Sinnliches gekoppelte Neubildung des NCC durchaus nicht immer sexuell zu nennen. Die Frage, ob und wie sich im NCC überhaupt ein "sexuelles" PSM anzeigt, bleibt ein großes Rätsel. Zumindest auf dieser Ebene ist die Forschung wenig bis gar nicht aussagekräftig.
4. Natürlich gibt es andere Modelle, wie kulturelle Sexualität hergestellt wird. Diese sind allerdings nicht biologisch, sondern orientieren sich mehr oder weniger an der sprachlichen Verfassung, die sich der Mensch gibt und geben muss, indem er an der Kultur teilhat. Zumindest zwei Räume können wir hier eröffnen. Der eine ist der politische Raum, nämlich jener, der die Fragen des Zusammenlebens sowohl im Kleinen wie im Großen zu beschreiben und zu ordnen sucht. Die politische gender-Theorie untersucht die Probleme, die sich ergeben, wenn ein Mensch in seiner Sexualität "abweicht" und damit eventuell in seinem politischen Status. Dies ist zum Beispiel das, was Judith Butler immer wieder aufgreift (bzw. aufgegriffen hat). Der andere ist der ethische Raum, der, so darf man das wohl heute sagen, seine Ableitung aus dem politischen Raum erfährt: dieser stellt die Frage nach der Sorge um sich, nach der Askese, der Selbstdisziplin, nach der ästhetischen Lebensführung und nach den Arten des Widerstands.
All dies sind aber eben einzelne Sphären; ihr Zusammenhang ist damit noch nicht gegeben. Zumindest in einem stimme ich den Gegner der gender-Theorie deshalb hiermit zu: eine gender-Theorie, die sich nicht um das biologische Substrat kümmert, kann keine weitreichenden Forderungen stellen. Dass das biologische Substrat nicht vorrangig in der Anatomie und zuallererst im Gehirn zu suchen ist, habe ich oben begründet.

Insistieren

Daran möchte ich zwei weitere Fäden knüpfen. Den einen hatte ich bereits angekündigt: wie man sich die Zweigeschlechtlichkeit vorzustellen hat; daran lässt sich gut die Erklärung anhängen, welchen Sinn der Spruch Butler hat: the sex is always already gendered.
Was die Zweigeschlechtlichkeit angeht, so wird diese im weitesten Sinne zunächst als Eingeschlechtlichkeit des eigenen Körpers erlebt. Dies ist nicht immer so, aber durchaus die Regel. Der eigene Körper wird nun nicht direkt erfahren, sondern erst im Gebrauch erlernt das Kind ein Körperselbstbild zu haben und dieses situativ zu seinen Gunsten zu nutzen. Dies ist nun eine recht komplexe Sache, da es sich immer um eine Erfahrung des Körpers in einer bereits kultivierten Umwelt handelt. Inwieweit die Kultur hier Geschlechterrolle und Körperselbstbild prägt, ist ungewiss. Man darf sowohl individuelle Dispositionen, evolutionäres Erbe als auch den kulturellen Nahbereich als Wirkungen annehmen und damit feststellen, dass dieses Bild heteronom ist, also aus vielen Quellen gespeist.
Wichtiger ist aber, dass dort, wo diese Quellen zusammenfließen, nämlich in den momentanen Konstruktionen des Selbstbildes, dies nicht in direktem Kontakt entsteht. Denn tatsächlich erfährt das Gehirn seinen Körper nur über Nervenimpulse, also immer wieder aufgelöst in bereits vorverarbeitete elektronische Impulse. Ein direkter Zugriff ist nur scheinbar und nur aufgrund der trügerischen Kohärenz, die uns unser Gehirn vorgaukelt, möglich. Trotzdem gibt es eine Art Hartnäckigkeit, mit der sich unser Körper meldet. Es ist diese Hartnäckigkeit, die uns lehrt, wie wir unseren Körper so gebrauchen, dass wir ihn zur Befriedigung unserer Bedürfnisse einsetzen können.
Die körperlichen Reize insistieren also. Aber sie geben uns kein exaktes Bild. Erst dadurch, dass wir (oder besser: unser Gehirn) sich darauf verlassen kann, dass es schließlich, durch bestimmte Bewegungen, diese Reize auch willkürlich hervorrufen kann, beherrscht es nach und nach seine Bewegungen und die Manipulation der Umwelt. Damit können wir noch einmal feststellen, dass ein solches Körperbild rein praktischer Natur ist, aber nicht irgendeiner naturalistischen Abbildtheorie gehorcht. Wir lernen unseren Körper nur insofern kennen, als wir mit ihm praktische Bewegungen ausüben, die uns zu irgendwelchen wünschenswerten Zielen führen, oder, indem wir Hindernisse zu überwinden suchen, die uns von solchen Zielen abhalten.

The sex is always already gendered

Wir können uns nun kurz fassen. Es mag sein, dass es eine wie auch immer genau geartete Zweigeschlechtlichkeit gibt. Der direkte Zugriff auf sie ist ebenso verwehrt, obwohl manche Behauptung darlegt, wir könnten uns dieser annähern. Die Heteronomie des eigenen Leibbildes können wir im Abstrakten, aber nicht im Konkreten analysieren. Jede Selbstbeobachtung kommt erstens zu spät und unterliegt zweitens ebenfalls diesen vielfältigen evolutiven, dispositionellen und situativen Einflüssen.
Dass sich die Zweigeschlechtlichkeit nicht verleugnen lässt, hängt damit zusammen, dass wir typischen Bildern aufsitzen. Wir erleben die Geschlechter eher ikonisch; die Biologie stützt und verwissenschaftlicht diese. Aber all dies sind unpolitische Bilder (oder politische Bilder derart, dass sie uns als Nicht-Politik vorschweben), die uns nichts über das Zusammenleben der Geschlechter sagen. Den eigenen Körper erleben wir als eingeschlechtlich; und sofern wir diesem gegenüber sensibel und aufmerksam sind, als eine Art heterogene Eingeschlechtlichkeit, die zugleich Insistieren des biologischen Körpers, Erfolg und Misserfolg des embodied minds (verkörperten Geists) bei seinen Unternehmungen und diskursive Verortung im politischen Feld ist.
Der sex, der von Butler keineswegs ausgemerzt wird, ist lediglich auf eine Weise verzerrt, dass die Analyse und die Politik des Körpers ohne diese unbiologischen Einflüsse nicht zu haben und von diesen nicht zu scheiden ist. Wir empfangen unser Geschlecht immer als Koordinate in unserer Kultur.

Verwissenschaftlichung

Die Afd hat in ihrem Parteiprogramm postuliert, die gender-Theorie sei unwissenschaftlich. Diese Bemerkung verdient eine Entgegnung. Wie ich oben gezeigt habe, hatte auch die Physik lange Zeit mit einem recht hartnäckigen Problem zu kämpfen. Darf man den Geschichtsbüchern Glauben schenken, so war die Debatte oft hitzig, immer mal wieder wütend, gelegentlich ausfällig.
Wissenschaft ist auch, wie das Beispiel des Atommodells zeigt, nicht auf den neuesten Stand der Erkenntnis angewiesen, solange ein gewisser Pragmatismus genügt.
Ein ganzes Forschungsgebiet zurückzuweisen, dies einfach per Akklamation zurückzuweisen, das ist allerdings eine Einmischung, die so widersinnig, so antiaufklärerisch ist, wie es nur geht. Es mag sein, dass sich in Zukunft die gender-Theorie tatsächlich als falsch erweisen wird. Aber sofern dies geschieht, dann nicht durch politische Parolen, sondern durch Prozesse der Verwissenschaftlichung. Und diese liegen nun nicht in der Hand von obskuren Politikern, sondern von gewissenhaften Wissenschaftlern. Die Afd praktiziert den Obskurantismus selbst, den sie bei anderen zu entdecken meint. Ähnliche Gesten wiederholt sie in ihrer Kulturpolitik, die von einem wüsten Konglomerat aus Evolutionstheorie und Hegelscher Dialektik geprägt zu sein scheint, und in einer Schulpolitik, die dem Nachhinken der Institution Schule hinter neuesten wissenschaftlichen Erkenntnis nicht Abhilfe schafft, sondern alles nur noch viel verschlimmert (sie geht mit dem Rufe "Vorwärts!" nämlich rückwärts).
Wenn und sofern es eine Kritik an den gender-Theorien gibt, dann nur in dem Maße, in dem wissenschaftliche Argumente die bisher bestehenden aushebeln können. Dazu aber müsste man die entsprechenden Theorien kennen und - argumentieren können. Beides fehlt der AfD von der Spitze bis zur Basis.

Schluss

Der march of science ist sicherlich wohlmeinend gedacht. Ich bezweifle, dass er die Gesellschaft wirklich ändert. Zu wenig werden wissenschaftliche Werke gelesen. Zu häufig werden populäre Darstellungen wissenschaftlicher Erkenntnisse noch mehr popularisiert, so dass sich am Ende einer Stille-Post-Kette eine völlig verdrehte Aussage finden lässt, die mit dem ursprünglich ausgegebenen Argument nur noch wenige Vokabeln teilt, keinesfalls aber die Struktur oder den argumentativen Gang.
Die Kultur der Massenmedien hat, gerade auch durch das Internet, die inszenierten Skandale für sich entdeckt. Die ruhigeren, ausführlicheren Darstellungen sind zwar auch zu finden, aber sie ziehen nicht die Massen an, und wer sie sucht, muss lange suchen. Ursprünglich war das Internet zur besseren Verbreitung wissenschaftlicher Artikel, zur besseren wissenschaftlichen Kommunikation gedacht. Dies war blauäugig. Das Gegenteil ist wohl der Fall. Einzelfälle, wie etwa der Holocaust-Leugner David Irving, oder, im deutsche Raum, der "Nahost-Experte" Udo Ulfkotte, haben seit langer Zeit ihre alternativen Fakten präsentiert. Das Internet hat diese Tendenz verstärkt. Unter anderem liegt das auch daran, dass die echten Wissenschaftler so wenig im Netz präsent sind. Für Klaus Jäger, Mitinitiator des Berliner march of science, bestehe die Aufgabe der Wissenschaftler nicht nur in der Forschung - so er gegenüber der Zeit; sie "seien auch Berater, Lehrer und Vermittler." Und "Forscher könnten das Misstrauen vieler Menschen abbauen, wenn sie sich mehr in die Öffentlichkeit wagten."
Dem ist wenig hinzuzufügen. Es wäre längst an der Zeit. Es wäre, unter anderem, auch die Aufgabe von gender-Beauftragten an der Uni, statt Vorschläge für eine geschlechtersensible Sprache zu unterbreiten, erst mal den Boden dafür zu bereiten, warum und aus welchen Gründen eine solche Sprache angemessen sei. Dies ist vielen Menschen nämlich nicht klar, und, wie ich befürchte, auch manchen gender-Beauftragten nicht. Dann aber wäre die Erstellung solcher Kataloge zum gendersensiblen Sprechen kaum mehr als eine Beschäftigungstherapie. Das wäre schade, denn das Problem, was dahinter steckt, ist durchaus ein ernsthaftes und allgemein wissenswertes.

11.04.2017

Das ist jetzt ein Scherz, oder?

Aufgrund befürchteter massiver Proteste gegen ihren Parteitag in Köln hat die AfD Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier um einen Appell gebeten. "Rufen Sie öffentlich zur Mäßigung auf", heißt es in einem der Nachrichtenagentur AFP vorliegenden Schreiben des AfD-Bundesvorstandes an Steinmeier. Er müsse einem gegen den Parteitag mobilisierenden Bündnis deutlich machen, "dass Demokratie von Meinungsvielfalt, Meinungsbildung und dem offenen Diskurs lebt". Die AfD will ihren Bundesparteitag am 22. und 23. April in einem Kölner Hotel abhalten.
Das sind aber schon noch dieselben Leute, die von der Lügenpresse und Wirtschaftsasylanten aus Kriegsgebieten reden, Boateng nicht als Nachbarn haben wollen, Homosexuelle mit Päderasten gleichsetzen, usw. usw. oder habe ich da was verpasst?
Sehr geehrter Herr Steinmeier!
Rufen Sie nicht zur Mäßigung auf. Meinungsfreiheit darf nicht an einem Zaun enden, der zugleich das Brett vor den Köpfen gewisser Leute ist, nicht bei gewaltbereiten Islamisten und nicht bei einer Partei, die recht unverhohlen rechtem Terror die Stichworte und die (stillschweigende) Duldung liefert.
Fundstelle hier

07.04.2017

Knapp vorbei: Zu viel zur Analogie

Ich habe ein Problem. (Mal wieder!)
Vor einigen Jahren, ich glaube 2008 oder /09, bin ich auf eine Doktorarbeit über angewandte Mathematik in der Schule gestoßen. Darin gab es einen langen Abschnitt über die Verbindung zwischen Modell und Schema, der mich begeistert hat, und dann über einen langen Zeitraum hinweg geführt und angeregt hat. Mehrmals hatte ich euch dann versprochen, dazu etwas Grundsätzliches zu schreiben, aber wie das mit dem Grundsätzlichen bei mir so ist: bei der Arbeit darüber bin ich auf andere Aspekte gestoßen, habe mich von diesen einfangen lassen und - das war's mit den guten Vorsätzen und den nicht ganz so guten Versprechen.
Neulich habe ich meinen Zettelkasten durchforstet. Da suite101 seit längerer Zeit offline ist, ich aber viele Artikel von meinem Blog dorthin verlinkt habe, dachte ich mir, es wäre ganz gut, wenn ich diese aktualisiere und dann hier veröffentliche. Der Einfall kam mir zu dem Stichwort Analogie, der für die Hyperbel und - das war mein eigentlicher Aufhänger - den Humor wichtig ist. Die Analogie bildet für diese eine der Grundlagen. In meinem Zettelkasten habe ich dann zig Notizen zur Analogie gefunden, die mich zum Modell, zur Geometrie, zur Literaturwissenschaft, zur gender-Theorie, und und und geführt haben.
Daraus sind zahlreiche weitere Aufzeichnungen entstanden. Diese systematisiere ich im Moment. Eine Veröffentlichung ist aber noch nicht in Sicht. Um mit ihnen besser arbeiten zu können, wäre es sinnvoll, sie in den Zettelkasten einfließen zu lassen.
Und dort kommt nun mein eigentliches Problem in Reichweite. Seit Monaten programmiere ich an meinem eigenen Zettelkasten herum. Grundzüge stehen, aber immer wieder begebe ich mich auf neues Terrain, probiere dieses und jenes aus, schreibe kleine Zwischenprogramme, oder auch ganz abseitig davon, einfach aus Lust am Programmieren. Und sehe dabei, wie ich mir einen neuen, mir bequemeren Zettelkasten erstellen könnte. Nur: ich kann diesen noch nicht zu Ende führen. Immer sind es irgendwelche Bedenken, die mich davon abhalten.

So bin ich fleißig, geradezu überproduktiv, und doch fühle ich mich ausgebremst.
Nebenher verfasse ich fleißig weitere Notizen zu Sybille Krämer, bzw. ihrem Buch Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Gerade habe ich das Descartes-Kapitel zu Ende gelesen, ein großartiges Kapitel, überaus mathematisch, sehr präzise und sehr distanziert geschrieben, so dass man beides zugleich bekommt: ein Gespür für das, was Descartes' Texte antreibt, aber auch für das, was über diese hinausgeht. Das ist eine großartige Weise, Kritik zu üben: aus dem Gedankengebäude heraus arbeitet die Autorin die Brüche und Missklänge nach und nach heraus. Zudem passt Vieles, was Krämer schreibt, in das Thema des visuellen Modellierens.
Nun würde ich gerne systematischer werden. Mir fehlt mein Zettelkasten. Ich möchte nicht in meinen alten weitere Zettel hineinarbeiten, weil ich diesen mehr und mehr nicht mehr passend finde, weil ich weiß, dass es demnächst (nur wann genau?) einen neuen, mir bequemeren, von mir leichter veränder- und anpassbaren geben wird.
Unglücklich bin ich damit aber nicht. Eher fiebrig.

Und à propos fiebrig: die letzten zwei Tage war ich ziemlich trübe im Kopf. Das lag wohl daran, dass ich, nachdem ich am Montag mehrere Stunden wie im Fieber mich durch eine ganze Reihe von Büchern durchkommentiert habe (angefangen mit Wittgenstein), danach noch Stunden über zwei Programmen gesessen habe, und dann war es irgendwie Mittwoch, ich bin mir nicht ganz sicher, wie das passiert ist. Jedenfalls musste ich danach sehr lange schlafen.

02.04.2017

Kartographischer Impuls

Am Donnerstag sollte ich das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun anwenden. Das ist mir nicht so gut gelungen, wie man es aus meiner langjährigen Erfahrung damit annehmen sollte. "Schuld" daran war - unter anderem - das Buch Figuration, Anschauung, Erkenntnis von Sybille Krämer; dies hatte mich noch am Abend vorher zu einigen längeren Anmerkungen zum Kommunikationsquadrat veranlasst, von denen mindestens zwei meinen Blick auf dieses Modell deutlich verschieben dürften. Mit dieser vagen Ahnung im Hintergrund habe ich mit einigem Zögern diese kleine Kür (die Anwendung) über die Bühne gebracht.
Auch bei anderen Modellen schleicht sich jetzt, nach und nach, eine Deplatzierung ein, die ich als ungemein fruchtbar empfinde. Noch einmal ein Lob auf dieses Buch; ich befinde mich derzeit auf Seite 146, methodisch schreibe ich mir nur, Seite für Seite, Hauptbegriffe heraus, lese also noch nicht intensiv oder systematisch.
Einer der interessantesten Vorhaben dieses Buchs ist nun, die Erkenntniskraft der Linie herauszuarbeiten. Mithin geht es um so etwas wie eine Rhetorik der Linie, wobei mit Rhetorik hier nicht die "dunkle", sondern die "erhellende" Seite der Rhetorik gemeint ist. Darin spielt der Begriff »kartographischer Impuls« eine wichtige Rolle.
Krämer geht davon aus, wie das heute allgemein üblich ist, dass Wissen durch Handlungen angeeignet wird. Mithin versteckt sich unter der Formulierung ›Erkenntniskraft der Linie‹ die Frage, wie eine Linie eine Handlung strukturiert und leitet. Der kartographische Impuls wird von ihr dabei folgendermaßen definiert:
Die Projektion von Gegenständen des Erkennens auf quasi-räumliche Strukturen wird als eine Anordnung zur Orientierung der Erkenntnisbewegung selbst genutzt.
(Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Berlin 2016, S. 146; Hervorhebung von mir)
Es ist klar, dass die Erkenntnisbewegung sehr unterschiedlich ausfallen kann. Oftmals aber ist sie eine des Sammelns und Vergleichens, oder eine des Nachvollziehens/Nachkonstruierens oder Austestens. Bei der Aneignung eines Diagramms spielt die Beschreibung, das heißt die Übersetzung in ein anderes Medium, ebenfalls eine wichtige Rolle.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Verkleinern (wie etwa die Karte eine Landschaft „verkleinert“). Dazu schreibt der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss in seinem berühmten Buch Das wilde Denken:
Welche Kraft verbindet sich also mit der Verkleinerung, mag sie nun den Maßstab oder die Eigenschaften betreffen? Sie resultiert, so scheint es, aus einer Art Umkehrung des Erkenntnisprozesses: wenn wir das wirkliche Objekt in seiner Totalität erkennen wollen, neigen wir immer dazu, von seinen Teilen auszugehen. Der Widerstand, den es uns entgegenstellt, wird überwunden, indem wir die Totalität teilen. Die Verkleinerung kehrt diese Situation um: in der Verkleinerung erscheint die Totalität des Objekts weniger furchterregend; aufgrund der Tatsache, dass sie quantitativ vermindert ist, erscheint sie uns qualitativ vereinfacht. Genauer gesagt, diese quantitative Umsetzung steigert und vervielfältigt unsere Macht über das Abbild des Gegenstandes; durch das Abbild kann die Sache erfasst, in der Hand gewogen, mit einem einzigen Blick festgehalten werden.
(Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt am Main 1973, S. 37; Hervorhebung von mir)

01.04.2017

Hof eines "Literaturskandals"

Ich fühle mich gelegentlich missverstanden, jawohl! Und warum?

Sachstand

Vor fünf Wochen hat Stefanie Sargnagel zusammen mit zwei anderen Autorinnen einen satirischen Text veröffentlicht. Das ist, wie vieles, erst mal an mir vorbeigegangen; genauer: ich kannte die Autorin bis dahin gar nicht. Kurz nach der Veröffentlichung des Textes hat eine österreichische Boulevard-Zeitung einen Schmäh-Artikel darüber veröffentlicht, aber nicht verstanden, dass dieser Text ein satirischer ist. Daraufhin folgte ein Shitstorm, während dem Mord- und Vergewaltigungsdrohungen gegen Sargnagel geäußert wurden.
All das ist aber bereits in zahlreichen Artikeln aufbereitet worden, zumeist mit deutlichem Unmut über jene Boulevard-Zeitung und den mehr oder weniger anonymen (und das heißt auch: sehr feigen), zumeist männlichen Hetzern und Rechtsverächtern.

Literaturskandal oder Fehllektüre?

Ich fand nun den Text, aus dem die ganze Debatte entstanden ist, eher mäßig, die Bezeichnung der Debatte selbst als Literaturskandal falsch: der Text ist alles andere als skandalös, skandalös ist nur die Fehllektüre. Gelegentlich finde ich mich recht konservativ; aber so recht ins konservative Lager passe ich dann doch nicht: ich hoffe, dass ich einer solch falsch-oberflächlichen Lektüre nicht fähig bin.
Jedenfalls hat ein Freund den Artikel herumgeschickt, in dem das Wort Literaturskandal auftaucht; ich habe dieses Wort kritisiert — und wurde beklatscht. Von wem? Ganz genau habe ich die politische Orientierung nicht herausbekommen, aber es waren wohl „Nationalisten“ oder diesen ähnliche Menschen.

Rechts oder links

Was ich mittlerweile in der öffentlichen Diskussion ganz erbärmlich finde, das ist diese Einteilung in rechts und links, in konservativ und sozialistisch, und was es dergleichen mehr gibt. Diese Kritik ist nicht neu; von mir erfunden wurde sie schon gar nicht. Trotzdem sei noch mal an die Prüfung erinnert, ob ein Begriff die nötige Tiefen- und Trennschärfe mit sich bringt, um mit ihm eine ordentliche Diskussion zu führen. Links und rechts besitzen diese Schärfe nicht. Konservativ bin ich auch, da ich von gewissen althergebrachten Werten nicht abweichen mag; Wissenschaftlichkeit, zumindest der Prozess der Verwissenschaftlichung gehört z.B. dazu, oder dass jeder Mensch, der schreibend tätig ist, ein gewisses Maß an philologischen Werkzeugen – Quellenangaben, Markierung von Zitaten, Begriffsbildung, oder die Trennung von Tatsache und Meinung – selbstverständlich verwendet. Im sogenannten konservativen Lager tummeln sich mir zu viele Menschen, die diese Präzisionsinstrumente nicht benutzen oder sie direkt missachten. (Aber das heißt natürlich nicht, dass nur diese Autoren kritisierenswert seien.)

Autorinnen in Marokko

Kaum einer der Artikel, sei es pro oder contra, setzt sich genauer mit dem tagebuchartigen Beitrag auseinander, den Stefanie Sargnagel und ihre beiden Mitstreiterinnen veröffentlicht haben. Dazu möchte ich, wenn auch nicht mit gebotener Gründlichkeit, einige literaturwissenschaftliche Anmerkungen bringen. Der Text ist eine Satire; als eine solche lebt er von der Übertreibung, von der Missachtung von Höflichkeiten, und vom Palimpsest.

Das Palimpsest

Das Palimpsest ist eine Textform, die den Stil eines Autoren oder einer Menschengruppe nachahmt, aber neue Themen benutzt. Sargnagel & Co. schreiben einen recht prolligen, angeberischen Text, der sich sehr bewusst auf dem Niveau von Menschen bewegt, die in ein fremdes Land reisen, um sich daneben zu benehmen. Dementsprechend ist der Text auch vollgestopft mit nichtssagenden Sätzen („Die haselnussbraunen Augen des Taxifahrers erinnern mich an Haselnüsse.“) und folkloristischen Klischees („Heute bin ich auf einem Kamel geritten, als wäre ich eine von ihnen [gemeint sind die Marokkaner].“).

Die Hyperbel

Die Hyperbel, oder auch Übertreibung, bildet die Grundlage für die meisten humoristischen Texte. Sie kann explizit oder implizit verwendet werden. Explizit ist eine Hyperbel dann, wenn sich die Übertreibung deutlich in einem Wort oder einer Wertung verdichtet („Schenkel so dick wie ein Walfischbaby“); implizit ist sie dann, wenn sie einen Text mit unstimmigen oder verfremdenden Wörtern und Metaphern anreichert, oder ein zutiefst banales, lächerliches, störendes oder unhöfliches Bild mehrfach wiederholt (der Running Gag). Explizite Hyperbeln gibt es im Text einige („Wenn ich groß bin, möchte ich wie André Heller sein, nur schlimmer.“), zum Teil ironische („Ich habe mein Handy im Taxi zum Flughafen liegen lassen und es tatsächlich in letzter Minute wiederbekommen. Das war nicht sehr authentisch.“). Implizit sind Hyperbeln dort, wo sie beständig in unterschiedlichen Kontexten genutzt werden, hier z.B. das Kiffen und der Muezzin (dieser taucht ein letztes Mal in folgendem Satz auf: „Maria hat mit dem Muezzin geschmust.“).

Die Missachtung von Höflichkeiten

Einer der Aufreger in diesem Text war folgende Stelle: „… und wenn wir uns spätnachts willig zu ihnen an den Strand setzen, wollen sie eingraucht UNO spielen. Der Kölner Hauptbahnhof hat echt zu viel versprochen.“ Das allerdings ist ziemlich grob, passt aber in den prolligen Tonfall der gesamten Satire.

Literarische Wertung

Wie ist dieser Text zu werten? Es ist kein großartiger Text; die Idee, eine patriarchale Sprachform zu usurpieren, ist nicht neu, verliert deshalb aber nicht an Charme. Die Nachahmung dieser Untiefen macht es natürlich schwierig, darin noch etwas Tiefes aufscheinen zu lassen. Trotzdem gibt es solche Texte; aber diese sind dann von größeren Autoren und Autorinnen, Heine etwa, oder Tucholsky, oder manche Briefe von Rosa Luxemburg.
Mir fehlt die dritte und vierte Bedeutungsebene unter der Oberfläche des Textes, also all jenes, was die launigen Albernheiten dann doch noch in etwas „Philosophisches“ verwandeln, oder zumindest in etwas „Lehrreiches“. Mit anderen Worten ist diese Satire ein Gebrauchstext, besser als viele Satiren, weil sie selbstironisch ist und mit einigen durchaus amüsanten Sinnbrüchen daher kommt. Es fehlt, wie gesagt, das Überalltägliche und Zeitlose. Der Text ist für einen kurzen Ausschnitt aus einer Epoche gedacht, nicht für die Epoche selbst (wie auch immer man diese nennen mag) oder über die Epoche hinaus. Schon die Skandalisierung durch die Kronen-Zeitung erweist ihm zu viel Ehre – oder zu wenig, wie man es nimmt.

Der Skandal der Skandalisierung

So ist die Satire keineswegs eine skandalöse. Sie wäre untergegangen in der alltäglichen Flut an Gebrauchstexten, wenn, ja wenn eben nicht die Kronen-Zeitung sich darüber ausgelassen hätte, bis hin zu dem Umstand, dass die Reise der Autorinnen mit einem Stipendium von 750 Euro gefördert worden wäre. Diesen Betrag muss man sich nun vorstellen! Es ist ja nun kein Geheimnis, dass ein Staat gelegentlich Steuergelder verschwendet, sei es aus Unkenntnis, sei es aus Misswillen. Ich muss die Beträge nicht nachgoogeln, um sagen zu können, dass darin 750 Euro den geringsten Teil des Übels ausmachen, wenn es denn ein Übel war.
Die Folgen des Kronen-Artikels sind bekannt: justiziable Drohungen, Veröffentlichung der Privatadresse der Autorin in einem nicht wohlgesonnenen Medium, Ermittlung der Staatsanwaltschaft und Polizei gegen die Straftäter wegen Aufruf und Bekundung zu schweren Rechtsverletzungen. Das ist dann tatsächlich skandalös. -
Der Autor jenes Artikels, der das Wort Literaturskandal ins Spiel gebracht hat, hat wohl das Richtige gemeint. Allein verstellt das Wort den Tatbestand: hier sind Teile der Bevölkerung dermaßen verroht und entkultiviert, dass sie ohne Zögern dem Terror dienen. Der islamische Terror, den viele befürchten, ist - zumindest als Terror, nicht als islamischer - längst in unserer Gesellschaft angekommen. Fragt sich da noch jemand, ob die Neonazis der IS vorzuziehen sei? Beide haben die Grenze des Zulässigen längst überschritten, beide sind Feinde der offenen Gesellschaft; und das Argument der islamischen Radikalisierung wirkt aus dem rechtsradikalen Mund so schal und verlogen wie deren Bekenntnis zur Meinungsfreiheit, zum Patriotismus und zur deutschen Kultur. Was dagegen ist, moralisch gesehen, ein satirischer Text, der keine Zeitlosigkeit beanspruchen darf?

Jörg Rüdiger Meyer

Ich twitterte also; und ein Jörg Rüdiger Meyer antwortete: „Das Problem der zeitgenössischen Linken ist, dass sie für alles sind, wogegen die Rechten sind. Eine Intellektuelle Einbahnstraße.“ Auf diese Antwort habe ich zunächst allergisch reagiert. Das Attribut „links“ wird heute von den „Rechten“ für all diejenigen verwendet, die nicht die „rechte“ Meinung bedenkenlos nachplappern; was dann auch Kant-Leser, Wittgenstein-Exegeten oder Altliberale im Sinne Dahrendorfs oder Whiteheads, Simmels oder Arendts mit einbegreift. Dazu gehören Fehllektüren der gender-Theorie oder der Politik der Grünen. Der Reflex, dieses nicht ernst zu nehmen, ist bei mir stark, weil eine entsprechende Begründung fehlt, weil sich noch nicht einmal Äußerungen ausmachen lassen, die über das Pejorativ oder die argumentationslose Zustimmung hinausgehen.
Zwei Gründe machen mir solche Plärrer höchst unsympathisch: ihr undifferenziertes Menschenbild samt seiner Folgen, und die Langeweile, die mich beim Lesen solcher Texte ergreift.
Nun gehört Meyer gerade nicht zu solchen Gruppierungen. Zwar nennt er sich „nationalliberal“, was mich in Habacht-Stellung bringt. Doch seine Artikel sind zumindest nicht langweilig, auch nicht undifferenziert.
Bei ihnen passiert mir das, was mir derzeit bei vielen politischen und politisch-philosophischen Texten passiert: ich komme zu keiner eindeutigen, noch nicht einmal zu einer tendenziellen Wertung. Allein: ich spüre eine gewisse Distanz. Meyers Texte sind im Vogelflug geschrieben. Ich bezweifle eine solche überhöhte Position, und es mag dahingestellt sein, ob diese schlichtweg nicht möglich ist oder einfach für mich (noch) nicht vorstellbar.