18.06.2017

Die böse deutsche Leitkultur

Ich gestehe, dass ich mich noch nie heimisch gefühlt habe; ich habe in meiner Jugend das gemacht, was man so als Jugendlicher macht, wenn man nicht hier sein will und nicht weiß, wo ein Dort sein soll: ich habe mich in Bücher geflüchtet. - Heimat und heimische Kultur ist für einen Menschen, der schon immer eine gewisse Befremdung mit sich herumgetragen hat, ein schwieriges Wort; in den Worten bestimmter Menschen, wie etwa Beatrix von Storch, werden sie zur Beleidigung. Begehen wir, auf recht flüchtige Art und Weise, den Ort des Verbrechens.

Karl May

Apachizität

Und diese Bücher meiner Flucht waren zuerst die Bücher von Karl May. Rückblickend erscheint dies komisch, sind dessen Romane doch voller folkloristischem Unsinn, bis hin zu krudesten rassistischen und sexistischen Aussagen. Der Apache war genau das, was Karl May sich darunter vorstellen wollte. Reale „Indianer“ lernt man in diesen Romanen nicht kennen.
Der französische Philosoph und Semiologe Roland Barthes hat in seinem „Das Reich der Zeichen“ den Begriff der Japanizität geprägt. Er bezeichnet damit jenen Charakter, den Japan unter dem Blick eines Zugereisten annimmt und der herzlich wenig mit dem „realen“ Japan zu tun hat. Und so gesehen findet man bei unserem großen sächsischen Volksdichter viel Apachizität und auch Muslimizität (Hadschi Halef Omar!), aber wenig reale indianische Kulturen und ebenso wenig arabische, kurdische oder türkische.
In gewisser Weise ist Karl May aber auch exemplarisch für die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, und die Probleme, die in dieser Auseinandersetzung entstehen. Die Sehnsucht nach Reise und Abenteuer führt einen inhaltlich in die Fremde, doch formal in die eigene Kultur, oder zumindest in so etwas wie die eigene Kultur, denn jene Zeiten, in denen May seine Romane geschrieben hat, als sogenannte Kolportage-Romane, waren zu meiner Zeit seit hundert Jahren vorbei.

Lesen und lachen

Wenn man so in der Gesellschaft vor sich hin lebt, bleibt es nicht aus, dass man gelegentlich Frauen kennenlernt. Bevor ich zu zwei ganz anderen Frauen komme, möchte ich von diesen beiden berichten, als ein weiterer Beitrag der persönlichen Erfahrung.
Bei der einen handelt es sich um die Mutter meines Patenkindes. Wir konnten uns von Anfang an nicht gut unterhalten. Als ich einmal erzählte, dass ich als Jugendlicher gerne Karl May gelesen habe, wurde ich, ungeachtet meiner damals schon lange sehr kritischen Einstellung, als Rassist und Sexist bezeichnet. Die Auseinandersetzung mit solchen Büchern, gerade auch, wenn man sie in der Vergangenheit gerne gelesen hat, halte ich allerdings für wichtig; nicht nur erlernt man am mehrfachen Lesen eine Distanz zu den Texten, sondern auch zu den kulturellen Inhalten, die damit gefördert werden.
Im Übrigen ist gerade auch May ein Schriftsteller, der zwar dem Rassegedanken angehangen hat, aber nicht dem Unwert fremder Rassen. Bei ihm gibt es immer gute und schlechte Vertreter einer Rasse; man findet unter den Apachen wie unter den Türken, unter den Brasilianern und Chinesen, den Mexikanern und den Deutschen Helden und Lumpenhunde. All das ist primitiv, aus heutiger Sicht, und in gewisser Weise auch fremdartig. Auf der anderen Seite aber ist es nicht jener denunzierende und mörderische Rassismus, der in faschistischen und rechtsnationalen Kreisen vertreten wird.
Eine wesentlich bessere Auseinandersetzung hatte ich auf ganz andere Art und Weise mit einer Schülerin vor drei Jahren. Diese hat die Romane von Karl May heiß und innig geliebt, insbesondere die Romane mit Winnetou. In den Lesestunden hatte sie dann auch regelmäßig eines der Bücher dabei. War sie deshalb unkritisch? Keineswegs. Sicherlich war sie zu jung, fünfte Klasse, um hier eine tiefgründige Analyse zu liefern. Doch der Keim war da, und so konnte ich durch gelegentliche Hinweise und einen gewissen sanften Spott (so werden bei May sehr häufig Frauen zu Fabelwesen umbenannt, wenn sie im künstlichen Licht, sei es Gas, sei es Petroleum, erscheinen, als ob dieses Licht eine Verwandlung bewirken würde) zu einer bewussteren Lektüre anleiten.
Gelegentlich, wenn eine Stelle gar zu albern war, haben wir herzlich gelacht, diese in der Klasse vorgelesen und erklärt, was daran so doof war.
Und wohl gemerkt: meine Schülerin ist keine Feministin, vor allem keine selbst ernannte; der Mutter meines Patensohnes dagegen war es sehr wichtig, dass sie eine seriöse Feministin sei.

Sehr geehrte Frau von Storch

Volk ohne Kultur

Ein Depp ist, so der Volksmund, wer gegen den Wind pinkelt. Wer diesen Spruch noch nicht kennt, darf überlegen, wieso. Man kann sich auch, metaphorisch gesehen, ans eigene Bein pinkeln. Wie man dies macht, lernt man bei Beatrix von Storch. Nachdem Aydan Özoğuz im Tagesspiegel unter dem Titel Leitkultur verkommt zum Klischee des Deutschseins einen Beitrag zur Debatte um die Integration geliefert hat, hat Frau von Storch diesen in einer „Videobotschaft“ heftig kritisiert. Dass diese Kritik nach hinten losgeht, hat sie wohl selbst nicht begriffen, und genauso wenig ihre begeisterten Anhänger.
Darin wirft sie Özoğuz vor, diese hätte behauptet, die Deutschen hätten keine Kultur. Nun gibt es von dieser Entgegnung aus zwei Möglichkeiten, eine solche Behauptung zurückzuweisen. Die erste, die ich zunächst im Blick hatte, würde dem Begriff der Kultur in den Kulturwissenschaften nachgehen. Dieser hat dort eine mindestens doppelte Bedeutung: einmal als Forschungsfeld der Kulturwissenschaftler, und insofern ist der Begriff der Kultur hier ohne starke Differenzen eben alles, was das mehr oder weniger alltägliche Leben Menschen inmitten ihrer Erzeugnisse ausmacht; und zum anderen dient der Begriff der Kultur als die Hypothese von abgrenzbaren Einheiten innerhalb der Weltgesellschaft und wird zumeist in einem Kompositum oder durch Adjektive stärker spezifiziert. So gab es im 19. Jahrhundert eine Pariser Caféhaus-Kultur oder in den achtziger Jahren eine Kultur der Ökopunks. In den südlichen Gebieten von Tunesien findet man stark von der Berberkultur geprägte Familien (in denen die älteste Frau eine gewichtige, man könnte sagen: regierende Rolle spielt); und in Neu-Mexiko trifft man auf Mennoniten, einer christlichen Gemeinschaft, die den modernen Medien und der popkulturellen Politisierung abgeschworen hat.
Kultur ist, so wäre am Ende zu lesen, ein unscharfer Begriff, der natürlich dann auch das Forschungsfeld betrifft: dieses sei unscharf; damit auch die deutsche Kultur.

Die philologische Tradition Deutschlands

Der zweite Weg der Kritik ist methodischer Natur. Er verpflichtet sich zu Verfahrensweisen, die auch in der deutschen Wissenschaftskultur eine wichtige Rolle gespielt haben und eigentlich immer auch noch spielen sollten. Dies ist die Philologie, ein Gebiet, in dem deutsche Autoren nach wie vor eine herausragende Position einnehmen, sagen wir zum Beispiel, um zwei bekannte zu nennen, Leibniz und Kant. Die Philologie ist meist unter kulturspezifischeren Namen bekannt, als Germanistik für den deutschsprachigen Raum, als Romanistik für die romanischen Sprachen oder als Sinologie für die chinesische Kultur. Der Begriff der Kultur wird hier selbstverständlich häufig gebraucht, aber eher als eine gewisse erste Orientierung, denn als ein präzise definierter Begriff.
Was Philologen machen, das ist schwieriger zu erklären. Es gibt einen gewissen Grundkonsens, den man in die drei Gebiete Grammatik, Kritik und Hermeneutik einteilen kann, nämlich die Strukturen kultureller Phänomene, die Wertung und Wertschätzung und schließlich die Deutung und Auslegung. Dass alle diese drei Begriffe undeutlich sind, heißt aber nicht, dass es keine methodischen Richtlinien gibt. In Bezug auf Texte heißt dies, diese Wort für Wort und Satz für Satz zu lesen, sodass jede übereilte Interpretation durch ein gründliches Studium ausgebremst wird.

Eine nicht identifizierbare Kultur

Woran gerade mal wieder die Wellen dümmster „nationaldeutscher“ Empörung hochschlägt, ist jener Satz, den Özoğuz im Tagesspiegel-Artikel geäußert hat:
Kein Wunder, denn eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.
Nun wird daraus eben jener Satz, es gäbe keine deutsche Kultur. Sieht man sich jedoch Özoğuz' Satz genauer an, so behauptet er gerade nicht, was die philologisch unterbelichtete Fraktion unserer Kultur zu unterstellen meint. Özoğuz sagt zum Beispiel, dass das spezifische an unserer Kultur unsere Sprache ist. Erst jenseits der Sprache ist diese spezifisch deutsche Kultur nicht identifizierbar. Sie sagt auch nicht, dass es keine deutsche Kultur gibt, sondern nur, dass keine spezifisch deutsche Kultur vorliegt. Sie begründet dies auch.
So sagt sie zum einen, dass es bestimmte Werte gibt, die in Deutschland hochgehalten werden, ob zurecht oder zu Unrecht, davon sagt sie nun nichts; aber sie wendet ein, dass dies keine spezifisch deutschen Werte sind, da es auch andere Kulturen gibt, in denen diese Werte eine wichtige Rolle spielen, zum Beispiel das Leistungsprinzip oder die Bildung. Und hier muss man ganz direkt auch darauf hinweisen, dass sie damit auch sagt, dass diese Werte natürlich in unserer Kultur eine Rolle spielen, nur nicht als spezifisch deutsche.
Zum anderen wendet sie ein, dass es in Deutschland eher regionale Kulturen gab und gibt, die sich, aber dies ist dann schon meine Deutung, kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Übrigens gilt dies dann auch für die deutsche Sprache. Und wer mir jetzt nicht glaubt, dass in den deutschen Kulturraum das Hochdeutsche nicht als unbedingter Kern unserer nationalen Identität gehört, der darf gerne mal zu den Alemannen fahren, ein ausgesprochen fröhliches und trinkfestes Völkchen aus den Voralpen. Wenn die alemannisch reden, versteht eine Beatrix von Storch genauso wenig wie eine Aydan Özoğuz. Aber trinken kann man mit denen, und das ist ja auch schon was.

Kultur ohne Leitbild?

Hat sich Frau Özoğuz damit von einem kulturellen Leitbild verabschiedet? Genau hier wird nämlich die ganze Causa Özoğuz leicht absurd. Man darf ihr durchaus vorwerfen, dass sie sich widerspricht, und das nicht zu knapp. Es soll kein deutsches Leitbild geben, sagt sie, nur um dann zu äußern:
Hat unsere Verfassung also keine Erwartungen, keine Zumutungen an ihre Bürgerinnen und Bürger, eingewandert oder einheimisch? Doch, aber sie liefert uns kein kulturelles, sondern ein politisches Leitbild. Sie gibt eine politische Kultur vor, die allen zugänglich ist und zugemutet werden kann und muss. In diesem Sinn können und müssen sich natürlich auch Eingewanderte in die politische Kultur einleben, ein geschichtliches Verständnis von der neuen Heimat und deren Verfassungsprinzipien entwickeln, Respekt haben vor einer lebendigen Streitkultur, die auf Widerspruch, Meinungsvielfalt und Verständigung setzt.
Fragen wir als erstes: was, um Gottes willen, ist denn der Unterschied zwischen einem kulturellen und einem politischen Leitbild? Das Leitbild ist tot, es lebe das Leitbild? - Denn die Politik ist doch, insofern sie sich ihres philosophischen Rückhalts versichert, die Lehre vom guten Zusammenleben der Menschen, also von deren Kultur.

Windige Rhetorik

Beatrix von Storch fragt also, worin sich die Migranten integrieren sollen. Und es wäre vielleicht lustig gewesen, wenn sie ihre Worte in ein schöneres Deutsch verpackt hätte, als sie gefragt hat, ob Frau Özoğuz damit das schlechte Wetter gemeint habe. Jan Böhmermann, oder vielleicht auch nur einer seiner Lohnschreiber, hätte das gekonnt.
Bezeichnend ist, dass Frau von Storch diese von mir zitierte Passage überlesen hat. Denn hier ist das Maß der Integration sehr deutlich und, wie ich finde, sehr weitreichend genannt.
Vielleicht wollte sie auch genau diese Stelle nicht ganz so genau verstehen, weil gewisse Teile der AfD und auch sie selbst in dieses deutsche Leitbild nur mit sehr viel Drücken und Quetschen hineinpassen würde. Oder vielleicht auch gar nicht. Jedenfalls darf sich Frau von Storch gerne mal mit der Rhetorik auseinandersetzen. Zu der gehört nämlich auch, dass man sämtliche Argumente des Gegner beachtet und sich nicht von diesen aushebeln lässt. Hier pinkelt sie entschieden gegen den Wind.

Erinnerungskultur

Es gibt da ja noch so einiges, worüber man schreiben könnte. Bleiben wir einmal bei dem Begriff der Erinnerungskultur. Natürlich haben wir diese Rituale, auch diese Denkmäler, und bestimmte Themen, die wir, warum auch?, nicht loswerden. Sagen wir mal: Goethe. Anderthalb Jahrhunderte galt dieser uns Deutschen als unser größter Dichter, bis uns aufgefallen ist: Wir lesen den gar nicht. Goethe ist genau das geworden, was ein Dichter nicht werden sollte: eine Institution.
Institutionen, also echte Institutionen, neigen dazu, ein eigenes Gedächtnis auszubilden, und sich dadurch von der Umwelt abzugrenzen. Sie haben immer einen Hang zur Segregation, und von außen betrachtet auch immer eine gewisse Wirklichkeitsferne, nämlich eine Ferne zu anderen genauso fernen Wirklichkeiten. Was Goethe mit seinen Schriften gemeint hat, werden wir heute nur noch annäherungsweise verstehen. Ihn lebendig zu halten, kann aber nicht durch Fetischisierung erreicht werden, sondern nur durch eine immer wieder neue, und bedingt auch wilde Interpretation. Um ihn herum eine unintelligible Filterblase aufzubauen, ist dagegen keine Lösung.
Was nun die Erinnerungskultur zum Holocaust angeht, so ist dessen Institutionalisierung schon vor langer Zeit umfassend kritisiert worden (zum Beispiel von Jacques Derrida). Aber gerade das macht nun das Gedenken an den Holocaust auch nicht aus. Wenn an die Reichskristallnacht, respektive Reichsprogromnacht, erinnert wird, dann um zu sagen und sich zu versichern, dass dies nie wieder zur deutschen Kultur gehören sollte. Die abwehrende Geste zeigt auch darauf, dass sich umgekehrt der Kern einer lebendigen Kultur nicht genau bestimmen lässt, und dass der Kampf um die vielfältigen Möglichkeiten immer auch ein Streit um dessen Grenzen sein wird. Doch auch das ist keine typisch deutsche Erinnerungskultur; man findet diese in Frankreich und den USA, und wahrscheinlich auch jedem anderen Land auf dieser Erde, sofern sie nicht despotisch oder faschistisch regiert werden.

Kritik will wohl gelernt sein

Gegen Kritik ist erst mal nichts einzuwenden. Aydan Özoğuz ist nicht vom Himmel gefallen. Hier habe ich sie verteidigt. Aber ich kann nicht alle ihre Äußerungen gutheißen; und werde mir natürlich auch das Recht herausnehmen, dies in Zukunft nicht zu tun.
Der Anspruch einer guten Kritik sollte sein, den kritisierten Text vollständig wahrzunehmen. Die Kritik Storchs wird aber gerade durch den kritisierten Text widerlegt und rangiert damit unter dem üblichen Larifari der AfD.
Lesen ist wohl keine einfache Sache. Lesen muss nicht zu eindeutigen, ewig währenden Ergebnissen führen. Doch nicht umsonst gilt es als basale Kulturtechnik. Wer Kultur und Kultiviertheit für sich beansprucht, sollte das mit einer gewissen "Eleganz" tun können. Kann jemand, der so fragwürdig und lächerlich agiert wie die Storch, wirklich Kultur, gar deutsche Kultur für sich beanspruchen?

06.06.2017

Wirre Weltbilder

Die Demontage der 68er-Generation und der Frankfurter Schule war schon immer ein Lieblingsthema Konservativer. In den letzten Jahren hat sie aber deutlich zugenommen. Nun wäre all dies keines Achselzuckens wert. Sofern man sich für einen kritischen Menschen hält und dieses auch mit einer gewissen Pflicht praktiziert, gehören Demontagen zum täglichen Brot. Und insofern man in einem praktischen Beruf steckt, der die tägliche Auseinandersetzung mit Menschen aus vielerlei Lebensverhältnissen erfordert, misstraut man den großen Worten sowieso: große Worte leisten vor allem Vernebelung bis hin zur Blindheit.
Befremdlich allerdings wird es dann, wenn »hohler Bombast« durch sich selbst ersetzt werden soll. Dann wähnt man sich einen ganz andersartigen Gegner, doch nein: nieder mit dem Bodennebel, es lebe der Bodennebel.

Symbiosen

Solch einen hohlen Bombast prangert der Chefredakteur des Cicero – Christoph Schwennicke – an; und schafft sich damit selbst verklärende Phrasen. So etwa wirft er dem Spiegel vor, eine symbiotische Beziehung zur RAF gehabt zu haben; und bedenkt man, was Schwennicke dort eigentlich sagt, so kann man sich nur an den Kopf greifen: er wirft der Presse vor, recherchiert und berichtet zu haben. Wollte man dies weiterspinnen, so müsste man ihm selbst vorwerfen, mit der RAF in einem innigen Verhältnis zu stehen.
Freilich entsteht ein solcher Eindruck immer; und wer ist schon frei davon, Ereignisse zum eigenen Vorteil zu instrumentalisieren? Man sehe sich nur den Empörungskitsch und die Katastrophengafferei der AfD an: man bekommt den Eindruck, dass diese nur noch für den nächsten islamistischen Terrorakt leben. Eingestehen werden sie das aber nicht.

Das historische Wesen

Imposant kommt Schwennicke in folgender Stelle daher:
„Um sich als geschichtliches Wesen besser verstehen zu können, muss man bereit sein, bestimmte Vorstellungen über sich selbst aufzugeben“, schreibt Bude. Das habe nichts mit Selbstleugnung zu tun; es geht allein darum, sich selbst in der geschichtlichen Andersheit zu begreifen, damit man am Ende nicht im Beharren auf eine eigene Identität zur lächerlichen Figur wird.
Ich unterschreibe Passage ausdrücklich. Sie passt allerdings nicht ganz zu dem Wertekonservatismus der Nationalisten, die ihr Heil gerade in einem solchen Beharren suchen. Anders gesagt funktioniert diese Stelle nur dann, wenn man sie paranoid liest, also mit einem expliziten Freund/Feind-Denken: nur der andere ist in seiner beharrlichen Identität lächerlich. Nichts trifft also auf Schwennicke besser zu als sein Verdikt über die 68er:
Und in ihrer Halsstarrigkeit und Selbstgefälligkeit erinnern sie auf ihre alten Tage sehr an das Gebaren derer, die sie einst bekämpft haben.

Angekommen, aber gescheitert

So wird der Artikel zum Schluss auch vollkommen hohl: angekommen seien sie, „unsere Helden von 68“, „aber dennoch gescheitert“. Wen genau der Autor damit meint, wird nicht gesagt. Rainer Langhans wird vorher herbeigeredet, ebenso Uschi Obermeier. Rudi Dutschke und Bommi Baumann. Ein wenig Rio Reiser. Konkret ausgeführt wird aber nichts davon. Dass Rainer Langhans sich lächerlich macht, wirft vielleicht Fragen über seine Person auf, kann aber doch keineswegs exemplarisch für die vielfältigen Auswirkungen der damaligen Zeit stehen. Und dass Menschen scheitern ist nun kein Vorrecht der ehemaligen Studentenbewegung. Das ist wohl der Lauf der Dinge; oder man könnte Friedrich II. vorwerfen, er sei mit seinem aufgeklärten Monarchismus gescheitert, weil die Menschen heute in einer anderen Staatsform leben.

Wilder Reduktionismus

Nicht die Kritik an den damaligen Phänomenen stört mich, sondern die Selbstgefälligkeit, mit der hier eine sehr vielfältige und teilweise auch sehr widersprüchliche Kultur auf einen Nenner gebracht wird. Die sieht man zum Beispiel auch an der fadenscheinigen Argumentation, mit der die Sekundärtugenden verteidigt werden:
Der Wille zur Leistung und der Wunsch nach Kindern sind zwei Dinge, die fehlen in Deutschland eingangs des 21. Jahrhunderts. […] Sekundärtugenden hätte das ein ehemaliger SPD-Vorsitzender genannt, sicherlich. Aber wie das Determinativkompositum schon andeutet, bei dem bekanntlich die Bedeutung auf dem zweiten Teil des Wortes liegt: Sekundärtugenden sind vor allem Tugenden. Und nicht vor allem sekundär.
Das Problem ist allerdings, dass Schwennicke nicht dadurch recht hat, indem er aufzeigt, dass ein ehemaliger SPD-Vorsitzender Unrecht hat. So ist erstens nicht einzusehen, warum der Kinderwunsch eine Sekundärtugend sein soll. Oder ob dies überhaupt dazu taugt, als Tugend bezeichnet zu werden. Oder ob der ehemalige SPD-Vorsitzende (es war Oskar Lafontaine) überhaupt den Kinderwunsch mitgemeint hat. Zweitens ist der Leistungswille, wenn überhaupt, eine methodische Tugend, wie viele der Sekundärtugenden. Anders gesagt: die Erfüllung einer sogenannten Sekundärtugend ist etwas anderes als diese Tugend selbst. Und dies in einem Beispiel erläutert: der 50 Millionen Streichhölzer akribisch parallel nebeneinander ordnet, darf wohl als fleißig und gewissenhaft bezeichnet werden — sinnvoll ist das Ganze nicht. Und je nachdem kann der Leistungswille auch Unterordnung bis hin zu Selbstaufgabe bedeuten oder Rücksichtslosigkeit bis hin zur Grausamkeit. Sekundärtugenden tragen ihr moralisches Dilemma in sich und sind deshalb nicht als Primärtugenden tauglich.

Hemmungsloses Zitieren

Zweimal zitiert Schwennicke implizit, einmal die „Banalität des Bösen“ (so Hannah Arendt in Bezug auf Eichmann) und einmal „unlesbare Bücher über den eindimensionalen Menschen“ (Der eindimensionale Mensch ist ein Buch von Herbert Marcuse). Beide Male irrt Schwennicke. In Bezug auf Arendt irrt er sich moralisch: denn Arendt weist mit dieser Formulierung auf die zunächst unerklärliche biedere Buchhaltermentalität eines Joseph Eichmanns, die in so krassem Widerspruch zu den Taten steht, an denen er maßgeblich beteiligt war. Ein solches Rätsel bietet uns Bommi Baumann nicht; er verdient nicht eine solch treffende, Augen öffnende rhetorische Figur.
Was Marcuse angeht, so bedient sich der Rechtsnationalismus durchaus recht hemmungslos aus seinen Schriften; diese entspringen einer radikalen Kulturkritik. Ein Satz wie
Wir unterwerfen uns der friedlichen Produktion von Destruktionsmitteln, der zur Perfektion getriebenen Verschwendung und dem Umstand, dass wir zu einer Verteidigung erzogen werden, welche gleichermaßen die Verteidiger verunstaltet wie das, was sie verteidigen.
(Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Springe 2004, S. 11)
könnte vom Sinn her, wenn auch nicht vom Satzbau und der Wortwahl, dem »Deutschland schafft sich ab«-Lamento zugehören. Der notwendig erscheinende Widerstand gegen das „System“ ist so links- wie rechtsradikal. — Mit dem Unterschied, dass Marcuse durchaus lesbar ist und durchaus bedenkenswert; und dass sein Buch nichts an Schärfe verloren hat, wenn auch viel berechtigte Kritik daran geübt wurde. Es hat, aber das ist natürlich eine ungerechte Aussage angesichts des unterschiedlich langen Argumentationsganges, wesentlich mehr politische Substanz als der Artikel von Schwennicke.

Fazit

„Verwirrte geben Verwirrung weiter“, so zitiert der Autor Sloterdijk. Man kann angesichts dieses Artikels dem Satz nur zustimmen. Er ist, schon in meiner oberflächlichen Analyse, widersprüchlich und misstönend. Er kritisiert nicht, er feindet nur an. Bleiben schließlich die journalistischen Tugenden: die konkrete Darstellung, das Vermeiden aufgeblähter Wörter (so Wolf Schneider). Da ist Schwennicke, sekundär wie primär, geradezu tugendfrei.
Der gründlichste Tod für hohlen Bombast ist eben immer noch die konkrete, sachliche Darstellung und nicht eine weitere verwirrte Ideologie.