24.09.2017

Diskursanalyse

Letzten Endes geht es in der Diskursanalyse um diskursive und nicht-diskursive Strukturen. Diskursive Strukturen sind Strukturen des Sprechens, oder vielmehr Strukturen, durch die Sprechen stattfindet. Das Sprechen ist empirisch, die diskursive Struktur die nicht-empirische Zutat und das quasi-transzendentale Regelsystem. Dagegen sind die nicht-diskursiven Strukturen darauf gegründet, dass jedes Wissen irgendwo gewusst wird, und dass das Wissen und der Ort, an dem es gewusst wird, sich eng miteinander verknüpfen. Grenzen, Filter und Geschwindigkeiten charakterisieren solche Institutionen, Maschinen und Archive.

Sprechen als Konstellieren

Sprechen bedeutet konstellieren. Nicht nur erschafft sich der Satz Subjekt und Objekt, so dass das Subjekt eine grammatische Fiktion ist; das Verb darinnen qualifiziert dieses Verhältnis je verschieden. Unterschiedliche Verben trennen und verbinden Subjekt und Objekt unterschiedlich. Schließlich aber ist der Satz nicht nur eine Konstellation von Subjekt und Objekt, sondern bezieht Räume, Zeiten, Hilfsmittel, Modalitäten usw. mit ein. Er ist zur „reinen“ Dialektik nur gelegentlich und nur in engen Grenzen fähig.
Konstelliert der einzelne Satz für sich schon immer eine unscharfe und offene Logik, so verkompliziert sich das Verhältnis, sobald andere Sätze dazu treten. Diese Verhältnisse können wiederum in Sätzen abgebildet werden, sofern man formulieren kann. Diese neu hinzutretenden Sätze, diese Kommentare von Satzbeziehungen, verweisen auf Übereinstimmungen, Brüche, Widersprüche. Sie zu sammeln, zu gruppieren und zueinander anzuordnen ist eine Aufgabe, die sich die Diskursanalyse gestellt hat. Sie beschäftigt sich mit Aussagen zu Migranten, zur Mülltrennung, zur Operationalisierung mathematischer Kompetenzen oder zum Motiv des bewaldeten Berges (Tannhäuser, Rübezahl, Der Rattenfänger von Hameln, aber auch: Rose Ausländers Gedichte während ihrer Ghettoisierung).

Konstitution von Orten

Aus der Romantheorie weiß man, dass ein Ort immer ein besessener Ort ist. Die Küche ist der Ort der Großmutter, der Keller mit dem Unkenpfuhl der Ort der verwunschenen Fee, der Gulag im fernen Sibirien der Ort des sadistischen Lagerleiters. Der Venusberg gehört der Frau Venus, das fliegende Schiff dem Holländer. Doch letzten Endes ist jeder Raum der Raum von irgendwem, und sei dieser auch in einer abstrakten Figur aufgehoben wie der der modernen Kunst oder der Gerechtigkeit.
Die Grenze markiert diesen Ort der Besessenheit und letztlich den Wechsel der Besessenheit. Man tritt von der Straße in das Halbdämmer eines namenlosen Gerichtsgebäudes, in dessen unendlichen Gängen und Fluchten aus Speichern man sich verirrt. Genauso tritt man in den Ramschladen mit seinen Düften aus schlecht verschlossenen Gewürzpackungen und Räucherstäbchen.
Die Filter wiederum laden ein oder weisen ab. Das Tor am Eingang der Schule lässt die Schüler und die Eltern durch, versperrt aber dem zufälligen Passanten den Weg. Und sollte er sich dennoch im Gebäude verirren, wird er gefragt und rasch wieder nach draußen gebeten. Orte setzen sich auch aus verschiedenen Geschwindigkeiten zusammen. Der Unterricht läuft als heißes System; innerhalb einer Stunde werden zahlreiche Ideen produziert, zahlreiche Möglichkeiten ergriffen und wieder verworfen. Die Institution dagegen wandelt sich langsam. Es dauert Jahre, bis im Schulgesetz entsprechende Änderungen eingetragen werden, das Curriculum modernisiert wird, die Genehmigung für Computer im Klassenraum abgesegnet ist.
Geschwindigkeiten im sozialen Raum entstehen durch die Ballung von Entscheidungen. Wenn ein Lehrer die Kompetenzen seiner Schüler tagtäglich überprüft und wertschätzt, muss er seinen Unterricht in anderer Art und Weise verräumlichen, als wenn er nur alle vier Wochen durch eine Klassenarbeit oder einen Leistungstest beurteilt. Ein offener und diagnoseorientierter Unterricht verhält sich zum klassischen Frontalunterricht wie ein Hochgeschwindigkeitszug zu einem Dreirad.
Was nicht entschieden werden muss, nicht entschieden werden kann, nicht entschieden wird, ist von Dauer. Es verlangsamt sich. Schließlich fällt es aus den Gedanken und Handlungen heraus, weil es jene stabile Verlässlichkeit gibt, innerhalb derer wir unser Tagwerk verrichten. Die Fenster eines Raumes sind von Dauer; aber das Wetter erfordert jeden Tag neu die Entscheidung, welche Kleidung ich anziehen werde.

Eine Formel der Diskursanalyse?

Wissen ist satzförmig und verankert im Ort, wo es gewusst wird. Dies zu sammeln, zu gruppieren und in Beziehung zu setzen ist Aufgabe der Diskursanalyse.
Dies ist keine endgültige Formel, und letzten Endes durchzieht eine solche Analyse immer auch eine Problematisierung von fraglos gewordenem Wissen, von fraglos besessenen Räumen. Als roter Faden jedoch mag diese Formel eine Zeit lang tauglich sein. Wie jede Formel, die sich auf einen komplexen Sachverhalt bezieht, strukturiert sie die Auseinandersetzung, bis diese die Formel überwuchert und durch komplexere Modelle und vielfältige Erfahrungen ersetzt.

Die mathematische Linie

In der Mathematik der Grundschule sind die Fehler der Kinder das Interessanteste. Natürlich dürfen diese nicht sein, aber zunächst darf man an den Fehler nicht mathematisch herangehen, sondern muss ihn operativ und entwicklungspsychologisch verstehen.
Doch auch dies reicht nicht. Vorher ist es sinnvoll, eine phänomenologische Analyse des mathematischen Phänomens anzufertigen. Jedes Phänomen muss aus verschiedenen Blickrichtungen betrachtet werden. Heidegger nannte dies besinnliches Denken. Durch dieses bleiben wir nicht einseitig an einer Vorstellung hängen, sondern wechseln immer wieder die "Richtung". Erst dieses entbirgt das Seiende – das Phänomen – in seinem Sein. Die vielfältige Perspektivierung führt so zu einer Wahrheit, die nicht einträchtig, aber „im Ding versammelt“ ist. Dieses kreisende Denken hat der französische Philosoph Gilles Deleuze auf andere Art und Weise ebenfalls eingefordert. Das schlimmste Labyrinth, so schreibt er, sei die Gerade.

Trennen und Verbinden

Linien tauchen beständig in der Mathematik auf, mehr sogar noch in offensichtlicher Art und Weise in Grundschulbüchern. Sie trennt und verbindet und strukturiert dadurch den Raum und orientiert die Wahrnehmung.
Über die Linie hinweg entsteht der Zusammenhang von zwei Seiten. Meist ist die eine Seite spezifisch, die andere unspezifisch, so dass die Linie auf einen mehr oder weniger präzisen Innenraum verweist. So findet sich in Mathefreunde 3 (Lehrwerk aus dem Cornelsen-Verlag) auf jeder Seite eine Form, in der eine Aufgabe oder ein Bündel von ähnlichen Aufgaben steht. Doch schon die Schrift beruht auf diesem Prinzip. In ihr ist die Linie als solche nicht mehr sichtbar; jedoch stehen die Buchstaben auf einer virtuellen Linie hintereinander.

Gerichtetheit

In der Schrift findet sich damit eine Gerichtetheit, die auch bei vielen Mathematikaufgaben eine zentrale Rolle spielt, etwa bei einfachen Additionen wie 3 + 7 = __. In dieser Mathematikaufgabe ist die Linie nach dem Gleichheitszeichen ein Platzhalter, der durch Gewohnheit den Raum darüber strukturiert. Zunächst scheint diese Beobachtung banal: die virtuelle, nicht gezeichnete Linie weist von links nach rechts; die gezeichnete dagegen auf den Raum darüber. Doch auch das müssen Kinder erst lernen. Die Richtung der Linie als orientierendes Nacheinander und die Linie als begrenzender Raum werden so schon in einfachsten Beispielen beständig kombiniert.
Beidesmal entsteht aber die Strukturierung nicht alleine aus der Linie heraus, sondern durch begleitende Erklärungen oder durch Vorbild und Nachahmung. So schreibt der Lehrer das Wort »Leo« an die Tafel und liest dieses Wort von links nach rechts, indem er sein Lesen mit dem Finger begleitet.
So ist die Linie eine Grenze, eine Verbindung, eine stillgestellte Bewegung, ein Umriss oder Teil eines Musters. Dort, wo sie in stärkeren Kurven verläuft, gewinnt sie Figürlichkeit.

Vielfalt der Linie

Diese Vielfalt muss man beachten. In der Arithmetik treffen Kinder auf die Schwierigkeit, dass die Zahl einmal eine Menge und einmal den Platz in einer Reihe bezeichnet. Das Kind sieht fünf Kastanien; dies ist die Menge. Zugleich aber kann es eine Kastanie wegnehmen oder eine weitere hinzufügen und hat damit eine Abfolge erstellt, die in der Gesellschaft gelegentlich zu anderen Abfolgen parallelisiert wird: sieben Sternchen für gutes Betragen zu sammeln ist besser als vier Sternchen; mehr Geld ist besser als weniger Geld. – Erst wenn eine Zahl in beiden Möglichkeiten verstanden wird, ist die Grundlage für das Rechnen gelegt.
Und ähnlich muss eine Linie mal als Grenze, mal als Verbindung, mal als Bewegung betrachtet werden. Wann und wie eine Betrachtung richtig und wann falsch ist, ist für Kinder gelegentlich verwirrend.

Die Linie als Symbol

Linien sind kulturelle Produkte und damit Zeichen. Insofern sie vielfältig gedeutet werden kann, besteht nur ein loser, willkürlicher Zusammenhang zwischen Anschauung und Bedeutung. Damit ist die Linie ein Symbol (genauer: ein semiotisches Symbol, denn in der Literaturwissenschaft ist das Symbol etwas ganz anderes; das semiotische Symbol verbindet materielle und ideelle Seite durch Gewohnheit, nicht durch Notwendigkeit oder Kausalität). Da sich die Bedeutung der Linie auch aus dem Kontext ergibt, muss es eine Grammatik geben, die die grundlegenden Elemente miteinander verbindet und ordnet: eine geometrische Zeichnung besteht damit nicht nur aus Elementen, sondern auch aus geordneten Verbindungen von Elementen (die dann den Sätzen eines Textes entsprechen) und aus der Ordnung geordneter Verbindungen (also aus einer Ordnung von Sätzen, die man dann Text nennt).

Ikonizität der Linie

Zugleich besitzt jede Linie aber auch eine minimale Ikonizität. Als Linie der Begrenzung verweist sie auf den Rahmen, als Linie der Verbindung auf den Weg. Faltet sich die Linie durch Kurven, kann der Betrachter mehr oder weniger rasch Figuren dazusehen. Eine Linie ist kein Weg, kann aber das Schema eines Weges sein. Sie ist dann der Weg in seiner abstraktesten Form. So wie der Weg zwei Orte verbindet, verbindet die Linie zwei Punkte; sie sind sich darin ähnlich. Weiter reicht diese Ähnlichkeit nicht.
Das Ikon ist der Zusammenhang zwischen einer Vorlage und einer Darstellung. Der Zusammenhang wird genauer als Ähnlichkeit bestimmt. Das Maß der Ähnlichkeit nennt sich auch Ikonizität. Die Linie, die einen Weg abbildet, besitzt eine niedrige Ikonizität, das Foto eines Gesichts dagegen eine relativ hohe.

Spur und Absicht

Schließlich ist die Linie auch eine Spur. Derjenige, der die Linie gezeichnet hat, besaß eine Absicht. Die Absicht ist in ihrem vollen Umfang verschwunden. Da sie aber keine natürliche Ursache hat, zeigt sie sogleich, dass sie nicht ganz ohne Absicht gezogen wurde. Im Zweifelsfall besteht diese Absicht also rein formal. Sie kann zwar nicht zurückgewiesen werden, aber um sie zu bestimmen fehlen die notwendigen Anhaltspunkte. In Lehrwerken der Mathematik muss der Lehrer zunächst diese Absicht übernehmen und seinem Unterricht „hinzufügen“.
Die Linie ist also auch ein Indice.
So vereint die Linie alle drei grundlegenden Zeichentypen, Symbol, Ikon und Indice.

Abschließende Bemerkung

Zunächst mag es albern erscheinen, einem so simplen Phänomen wie der Linie eine so umfangreiche Betrachtung zukommen zu lassen. Tatsächlich aber ist sie sogar ausgesprochen kurz. So hat Sybille Krämer in Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie der Linie als Figur des materialisierten Denkens eine umfassende Betrachtung zukommen lassen, die trotzdem sehr exemplarisch bleibt. Auch Stefan Rieger legt mit Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte der Kurve ein kluges und amüsantes Buch über die gekrümmte und durch Linien vermessene Linie vor.
Die Schlichtheit einer Erscheinung korrespondiert zugleich mit ihrer Offenheit und ihrer vielfältigen Verwendung. Sie wird damit anfällig für Grammatik und Grammatiken. Genau darin beruht wieder die Komplexität der Linie.
Um die Leistung von Kindern zu verstehen, die sich von der ersten Kritzelei bis hin zu komplexen geometrischen Beweisen fortbewegen, ist eine Kenntnis dieser zahlreichen Aspekte ebenso notwendig, wie um ein Gespür für die Fehler zu entwickeln, die ihnen dabei unterlaufen.

19.09.2017

Aggro-Frauen

In Berlin ist ein Taxifahrer von vier Frauen bedroht und um seinen Verdienst geprellt worden.
Mein dumpfnationalistischer "Liebling" Michael Vogel (der selbstverständlich nur "besorgt" ist), veröffentlichte diesen Text auf facebook.
Und was soll man sagen? Eine Stammkommentiererin von Vogel, Ulrike Cudak, zeigt sich auf ganz friedliebende Weise empört:
Auf die Schnauze hauen, zackbumm. Dumpfe Tussen.

Hetero-Rabbatz

Mit der Analyse ist das so eine Sache. Auf der einen Seite soll diese wesentliche von unwesentlichen Merkmalen trennen, auf der anderen Seite bringt aber erst die Analyse die Möglichkeit hervor, zu einer solchen Einschätzung zu kommen. So wird die Analyse manchmal breit gestreut, Merkmale aufgelistet oder erforscht, von deren Relevanz man noch keine Ahnung hat. Und das ist eben Forschung. Am Anfang der Forschung steht immer die Bekenntnis: „Ich habe keine Ahnung!“

Ein Fragekatalog

Über zwei wissenschaftliche Institutionen, der Humboldt-Universität und der Sigmund-Freud-Privat-Universität, ist eine online-Befragung herausgegeben worden. Diese ist vom Senat Berlin, genauer der Senatsbildungsverwaltung, in Auftrag gegeben worden. Die Befragung ist freiwillig und anonymisiert. Darin findet sich die Frage, welche sexuelle Orientierung der Lehrer habe.
Ganz so skandalös, wie dies gerade in (rechten) Medien diskutiert wird, kann dieser Fragebogen allerdings nicht gewesen sein, denn er ist freiwillig und, wie gesagt, "anonymisiert". Obwohl, und dies zu hinterfragen wäre Sinn und Zweck einer "Skandalisierung", sich natürlich die Frage stellt, was diese Qualität des Anonymen sei.
Zudem stellt sich die Frage, warum die Frage nach der sexuellen Orientierung heikler sein sollte als die nach dem Parteibuch. Wie Hildegard Bruns von der BZ suggeriert. Ist nicht beides gleich heikel, bzw. gelegentlich auch unheikel, wenn es niemanden interessiert, ob ein Lehrer nun hetero- oder homosexuell ist; oder beides mit gleich unmaßgeblichem Interesse aufgenommen wird?

Hyperbeln, wir wollen Hyperbeln

Nun ja. In Asterix und die Schweizer findet sich dieser wundervolle Running Gag, dass die dekadente Oberschicht Orgien einfordert, mit dem Ruf (dem Schlacht- und Kampfruf): Orgien, wir wollen Orgien. Die Orgie ist so etwas wie die Übertreibung eines sowieso schon parasitären Lebensstils. Diesen zur Forderung zu erheben verweist auf die Irrealität gewisser Bevölkerungsgruppen.
Rund um die gender-Forschung hat sich seit Jahren ein ähnliches Spektakel etabliert, welches sich parasitär an die Frage nach dem kulturellen Geschlecht dranhängt, dieses aber komplett ablehnt und mit Übertreibungen wie „Frühsexualisierung“ oder „Verschwulung“ nach maximaler Aufmerksamkeit heischt.
Plattgewalzt werden dagegen sämtliche Begriffsschärfen, ja die gesamte Bildung von Begriffen selbst und damit jegliche wissenschaftliche Argumentation. Denn ob es nun gender sein muss oder nicht, eine Disziplin entsteht nicht nur aus Inhalten, sondern auch aus Methoden. Die methodischen Ansätze der gender-Forschung mögen kritisierbar sein, aber sie sind eben nicht zugleich mit den Inhalten aus der Welt zu schaffen.
Genau dies leistet sich aber der Widerstand gegen die gender-Forschung. Zugleich mit den Inhalten werden auch die Methoden gekippt, Methoden, die in anderen Bereichen hervorragendes geleistet haben und für die Wissenschaftlichkeit notwendig sind. – Man muss hier also zwischen zwei Aspekten trennen, zwischen zwei Sphären der Legitimation. Ob der sachliche und inhaltliche Bereich einer Disziplin legitim ist, muss ganz anders kritisiert werden, als wenn man die Methoden, mit denen diese Disziplin „erschaffen“ wurde, kritisieren möchte.
Dieses Herumschmeißen von maximaler Empörung und minimaler Begriffsarbeit, dieses Fest der Hyperbeln, diese Orgie der Extrapolationen führt dann, jenseits einer Kritik an der gender-Theorie, vor allem zu einem: der Begriffsverwirrung und der Entwissenschaftlichung des öffentlichen Diskurses, mithin in die Anti-Aufklärung.

Martenstein

Unser guter Martenstein hat sich nun dieses Ereignisses bemächtigt. Empörungskonform titelt die Berliner Zeitung daraufhin Hetero oder nicht? Sex-Schnüffelei an Berlins Schulen. Martenstein selbst ist nicht ganz so überdreht. Er verweist zunächst darauf, dass Lehrer nicht nach ihrer Gesinnung beurteilt werden dürfen.
Ganz so richtig ist allerdings die Aussage nicht. Lehrer mit rechtsradikaler, linksradikaler oder religiös-fundamentalistischer Gesinnung werden schon zur Verantwortung gezogen, sofern die Gefahr besteht, dass diese Gesinnung den Verlauf des Unterrichts beeinflusst und damit den Auftrag der Schule untergräbt, Demokratie, wissenschaftliche Praxis und Bildung zu vermitteln.
Das Problem, das Martenstein anspricht, ist ein tatsächliches. Da in dem Fragebogen die Adresse der Schule, Alter und Dienstjahre abgefragt werden, ließe sich aus einem Datensatz relativ leicht eine Person herauskristallisieren, denn wie oft mag es einen 56-jährigen Geographie- und Englisch-Lehrer mit 30 Dienstjahren an einer mittelgroßen Schule geben? Selbst wenn es tatsächlich einmal zwei sein sollten, ist die Anonymität damit noch lange nicht gewährleistet.
Nun ist Anonymität Anonymität und nicht gender-Forschung. Der Skandal wäre, wenn überhaupt, ein „datenpolitischer“.
Zudem, und das ist ein ganz anderes Problem, gilt neben dem Datenschutz auch der Schutz vor Diskriminierung. Nicht nur darf ein Arbeitgeber nicht nach seiner sexuellen Orientierung gefragt werden; er darf auf nicht dazu gezwungen werden, dies zu verschweigen und zu verheimlichen. Nicht nur muss ein Lehrer seinen Schülern die Meinungsfreiheit zugestehen, die im demokratischen Spektrum möglich ist, sondern er selbst muss auch als Teilnehmer an demokratischen Prozessen erscheinen dürfen.

Holzwege der Wissenschaft

Nun ist natürlich die Frage, was die Wissenschaft mit einem solchen Fragekatalog anfängt, und ob hier der ethische Anspruch des Forschungsvorhabens entsprochen wird, nicht der Politik dienstbar zu sein, sondern der Aufklärung. Diese Nicht-Dienstbarkeit besteht darin, nicht der Politik die Antworten zu liefern, die sie hören will, nicht die Daten zu liefern, die der Politik Zugriff auf Einzelpersonen aufgrund deren Lebensweise oder Gesinnung ermöglicht. Die Frage also in diesem Fall ist, inwiefern die Nicht-Kommunikation zwischen wissenschaftlichem Institut und politischem Auftraggeber den Gesetzen entspricht.
Ein ganz anderer Aspekt dagegen ist, ob diese Studie sinnvoll ist. Das aber lässt sich nur hinterher beantworten. Wenn man vorher schon wüsste, was die Antwort ist, dürfte es nicht Forschung oder Studie heißen. Demnach wird eine Forschung mit einer Fragestellung begonnen, mit einer Hypothese, und, sofern man dies etwas frei ins Deutsche übersetzt, eben mit einem Vorurteil. Vorurteile, so lässt sich an allen Ecken und Enden lesen, seien nicht gut. Doch das stimmt nicht. Problematisch wird ein Vorurteil nur dann, wenn man jeden Zweifel daran, jede Widerlegung zurückweist, oder sich sogar weitreichendere Brüche durch Erfindung von Verschwörungstheorien erklärt oder gleich mit der Verurteilung von Gegnern jeglichen Anspruch auf wissenschaftliche Kommunikation aufgibt.
Die Wissenschaft hat viele Forschungen angestellt. Sie ist auf viele Holzwege geraten. Doch bisher hat sie es auch immer wieder geschafft, diese Irrwege zu hinterfragen. Sie hat neue Forschungen entworfen, hat neue Fragen aufgestellt und neue Hypothesen entwickelt.

Forschungsdesign

So wäre nun der nächste Schritt, sich das Forschungsdesign anzusehen, und hier insbesondere die strittige Frage, welche Daten nun dem Bildungssenat in die Hände gegeben werden. Diese Frage allerdings wirft Martenstein nicht auf. Und damit ist noch lange nicht gesagt, wie der Bildungssenat mit diesen Daten umgeht. Diese Frage ist zwar für den Datenschützer relativ uninteressant, da diese bereits lange vorher warnen und zu warnen haben, aber ob die Ergebnisse der Studie, anonymisiert oder nicht, zu Repressalien führen, ist noch lange kein Automatismus. Genau dieser wird aber mittlerweile im öffentlichen Diskurs unterstellt. Und der Tenor geht wiederum in Richtung Verschwulung Berliner Schulen; die Repressalien werden also vor allem gegen heterosexuelle Lehrer gefürchtet, zum Teil sogar als gewiss hingestellt.
Datenschutz ist nun das eine. Dieser muss funktionieren; das Individuum ist zu schützen. Dass dies funktioniert, wenn auch nicht immer ganz so großartig, wie man sich das wünscht, sieht man an den Ärzten, die ja auch sehr intime Daten von ihren Patienten besitzen und selbstverständlich diese nicht weitergeben und weitergeben dürfen. Sie könnten es, aber sowohl die Berufsethik wie die Gesetzeslage verhindern das (wenn auch nicht immer). Warum also sollten Wissenschaftler nicht mit dem selben Anspruch ihre wissenschaftlichen Forschungen betreiben, auch wenn der Auftraggeber aus der Politik kommt? Hier müsste man sich eben tatsächlich das Forschungsdesign genauer ansehen und inwiefern die Anonymität gewahrt wird.

Offene Fragen

Der Diskurs springt aber über solche Fragestellungen hinweg. Er vermischt Datenanonymität mit der Infragestellung der gender-Forschung. Er vermischt Forschungsdesign und politische Praxis. Weder Martenstein, noch die Berliner Zeitung, noch Heiko Melzer (CDU) trennen die Sphären und etablieren und vertiefen genau damit die unheilige Vermischung von Wissenschaft und Politik.
So ist es gerade kein Skandal, wenn die Bildungsverwaltung den Inhalt der Studie nicht kennt. Denn im Sinne der Anonymität geht dieser den Senat tatsächlich nichts an. Genau dies aber bemängelt Hildegard Bentele (CDU). Da der Auftrag der Studie allerdings recht explizit ist („Wie viel Vielfalt verträgt die Schule?“), ist natürlich eine gewisse Kenntnis des Inhaltes schon vorhanden. Ansonsten wäre das ja, als würde man einem Handwerker den Auftrag geben, etwas zu bauen, und sich hinterher zu wundern, dass man statt des gewünschten Einfamilienhauses einen Zeppelin bekommen habe.
So läuft es letzten Endes immer wieder darauf hinaus, inwiefern die Methoden und die Inhalte einer Wissenschaft in der Kritik getrennt werden, inwiefern interne Zwecke einer Forschung von den externen Leistungen für die Politik und die Öffentlichkeit geschieden werden. Dass ein regionaler CDU-Politiker, zumal kurz vor der Bundestagswahl, dieses Ereignis ausgeschlachtet, sollte nicht verwundern. Dass eine zunehmend radikalisierte Öffentlichkeit an solchen Feinheiten keinen Gefallen findet, auch nicht.
Wer sich allerdings noch dem aufklärerischen Diskurs in irgendeiner Art und Weise verpflichtet fühlt, sollte gerade diese Fragen stellen. Unter den Hyperbeln und Extrapolationen tauchen nicht nur viel dringlichere und viel realere Fragen auf; sie setzen auch dem Einheitsbrei des Skandalisierens die Vielfalt scharfer Begrifflichkeiten und strenger Argumentationen entgegen.
Nicht ist also nur zu fragen, wie viel Vielfalt die Schule vertrage, sondern wie viel Vielfalt der öffentliche Diskurs. Und diese Vielfalt zu ertragen wurzelt wesentlich darin, wie sehr auf eine solche Klarheit hingearbeitet wird und nicht jede Unschärfe oder jeder Widersinn zu flächendeckendem Geplärre genutzt wird.
Dass sich sofort, in hirnlosem Automatismus, sexistische, homophobe, anti-intellektuelle Töne in die - tatsächlich notwendige - Auseinandersetzung einmischen, das ist nun wirklich der typische Hetero-Rabbatz. An dem Martenstein diesmal, ausnahmsweise, wenig Anteil hat.

17.09.2017

Wirkfähigkeit und Kompetenz

Neben allen möglichen anderen Büchern lese ich seit drei Jahren erneut, und seitdem immer wieder, Dynamik in Gruppen von Eberhard Stahl. So weit ich weiß, ist das ein Klassiker, ein moderner Klassiker allerdings, der Gruppendynamik.
Auch meine Anmerkungen dazu beschäftigen mich seitdem immer wieder.

Kompetenzen

Jeder Begriff lässt sich aufbrechen, spalten, in neue Begriffe aufteilen. Anders als ihn einfach abzulehnen macht das aber Arbeit. Dass ich mich gelegentlich wieder um den Begriff der Kompetenz bemühe, ist nicht unbedingt meine Wahl gewesen, sondern kommt mit der modernen Pädagogik automatisch dazu. Die von den rot-grünen Landesregierungen Änderungen in den Schulgesetzen sind prinzipiell ein Fortschritt. Anders übrigens als die AfD meint und anders als deren Vorschläge für das Schulsystem. Läge mir nur die Schule am Herzen, würde ich sogar die Grünen wählen (was ich aber nicht tue).
Trotzdem hege ich Vorbehalte gegen den Begriff der Kompetenz. Allerdings kann ich dieses Unbehagen nur bedingt auflösen.

Evolutionsfähigkeit

Bei Stahl finde ich einen anderen Begriff wieder, der mich bisher noch wenig beschäftigt hat, der aber gerade für die Willensbildung eine wichtige Komponente bildet. Konkreter merkt Stahl an, dass ...
... [die] Leistungsfähigkeit [einer Gruppe] [,] sich nicht einfach daran bemessen lässt, über welche Fähigkeiten und Mittel zur Zielerreichung ihre einzelnen Mitglieder verfügen (inhaltliche Kompetenz).
(S. 47)
Abgesehen davon, dass neben den inhaltlichen auch die methodischen Kompetenzen für die fachliche Auseinandersetzung relevant sind (was Stahl hier unterschlägt), so zeigt er als ergänzende Bedingung für eine funktionierende Gruppe auf deren "Evolutionsfähigkeit". Gruppen verändern sich; und sie verändern sich in Wechselwirkung zu ihrer Umwelt. Ändert sich die Gruppe nicht, verliert sie den Kontakt nach außen.

Wirkfähigkeit und Wirklichkeit

Dazu habe ich damals, vor etwa zwei Jahren, den Faden wie folgt weitergesponnen:
Ein Problem mit allzu statischen Beschreibungen seiner selbst, mit „ewigen“ Kompetenzen, ist, dass man sich nicht vorstellen kann, hier schwankend und nuanciert arbeiten; und zwar nuanciert auch in dem Sinne, unbewusst, nicht unbedingt greifbar passiert. Dann aber wird jede Reflexion über Gruppenverläufe ebenfalls statisch, man nur noch „ist“.
Darüber wird die eigene Wirkfähigkeit beschnitten, weil die Variation in dieser Wirkfähigkeit nicht mehr bedacht wird, bzw. die Reaktion des Gegenübers nicht hinreichend reflektiert werden kann: der andere erscheint als kompakte Einheit, nicht als dynamisches Wesen. Und damit ist es entweder kaputt oder ganz, funktioniert oder produziert nur Unsinn und Mangel.

Stabilität und Veränderungsbereitschaft

Auch das ist ein mythisch besetzter Begriff: die Stabilität.
Hier eine Reihe von Begriffen, die zu diesem Begriffsfeld gehören: Verlässlichkeit, fachliche Kompetenz (die damit zusammenhängt, Sicherheiten vorhergesagt und abgefedert werden können), Charakterstärke, usw.
Man könnte hier, entlang der vier Kompetenzbereiche, eine ganze lange Liste von Begriffen der Stabilität verfassen.
Und umgekehrt könnte man alle Begriffe auflisten, die Schwankungen beschreiben. Schwankungen verweisen auf einen engen Bezug zur sozialen Evolution. Sie sind damit nichts Schlechtes.
Man müsste solche Begriffe positivieren, zumindest funktionalisieren, und sie so aus dem Dunstkreis negativer Moralität (willensschwach, wankelmütig, opportunistisch) herausholen. (Eine vermutlich langwierige Aufgabe!)

Jetzt muss ich mir nur das ganze Buch durcharbeiten und dann, bei jeder neuen Gelegenheit, auch möglichst ganz durchkommentieren.

Mathematik und Gruppendynamik

Eigentlich sollte ich meinen Unterricht vorbereiten, mit dem ich mich zwar schon im Sommer lange und intensiv beschäftigt hatte: jedoch kommt es immer etwas anders, als man sich das denkt. Also bin ich wieder am „Herumbasteln“. Die Arbeit im Sommer hat mir trotzdem sehr gut getan. Zum Teil bin ich sehr intensiv auf einzelne Aufgaben und Übungen eingegangen und habe mir diese aus semiotischer, psychologischer und fachdidaktischer Perspektive recht gründlich angeschaut.

Figuration und Erkenntnis

Seit einigen Monaten liegt als wesentliches Arbeitsbuch Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie von Sybille Krämer auf meinem Schreibtisch. Krämer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Im weitesten Sinne könnte man ihren Forschungsbereich als Medienanthropologie bezeichnen, ähnlich wie der von mir ebenfalls sehr geschätzte Stefan Rieger. Beide arbeiten in mehr oder weniger großer Nähe auf der Grundlage von Michel Foucault und Niklas Luhmann, aber auch den amerikanischen Pragmatisten (Henry James, Charles Sanders Peirce, John Dewey). Krämer stellt in ihrem Buch die „Erkenntniskraft“ des Diagramms dar. Dabei kann man Diagramme überall dort finden, wo ein Bild nicht mehr reine Anschauung ist. Die Beispiele im Buch sind zwar wesentlich enger gefasst, aber letzten Endes könnte man sogar die Bilder von Salvador Dali – etwa Die Geburt des Narziss – als Diagramme auffassen, da sie auf ein Stück Theorie direkt Bezug nehmen und dieses in gewisser Art und Weise „abbilden“ (was mich an meine alte These denken lässt, dass Dali nicht malt, sondern schreibt).

Mathematik erlernen

In der Rechendidaktik (denn in der Grundschule lernt man eigentlich nicht Mathematik, sondern das Rechnen) werden nicht nur zahlreiche Modelle verwendet, sondern auch Sachaufgaben illustriert, bzw. Bezüge zwischen Diagramm und „echtem“ Material hergestellt. So ist ein wesentliches Arbeitsmittel die Hundertertafel, einer einfachen Tabelle von zehn Spalten und zehn Zeilen, in denen die Zahlen von 1-100 geordnet dargestellt werden. Diese Hundertertafel wird nicht nur in Rechenaufgaben übersetzt, bzw. auch umgekehrt Rechenaufgaben in die Hundertertafel, sondern auch auf den Zahlenstrahl überführt. Der Zahlenstrahl (falls ihr euch nicht mehr an eure eigene Grundschulzeit erinnert) ist die Darstellung eines Zahlenabschnittes auf einem Strahl (und damit dem Lineal ähnlich).
Zu dieser grundlegenden Operation des Austauschens und Übersetzens schreibt Krämer:
Diagramme sind raum-zeitlich situierte »Dinge«, denen eine extrinsische Materialität zukommt, deren Besonderheit es ist, hinsichtlich ihrer konkreten Stofflichkeit prinzipiell auswechselbar zu sein. Daher ist die Materialität des Diagramms imprägniert von einer Immaterialität.
(Krämer, S. 62)
Statt Immaterialität könnte man hier auch Idealität oder – da Idealität heute meist etwas anderes bedeutet – Gedachtes sagen. Diagramme stellen damit Übergänge von der anschaulichen Welt zur Praxis des Denkens dar. Indem sie an beidem teilhaben, indem sie sinnlich, aber auch von diskreten Differenzen durchzogen sind, haben sie an beiden Sphären Anteil.
Darüber kann man unendlich nachdenken.

Gruppendynamik

Wie aber kommt man von hier aus zur Gruppendynamik?
Es ist natürlich klar, dass die Gruppendynamik für einen Klassenlehrer eine wichtige Rolle spielt. Tatsächlich aber bin ich auf dieses Thema durch Illustrationen zu Rechengeschichten gekommen. Rechengeschichten? Das sind so etwas wie erweiterte Sachaufgaben, die etwas lebendiger erzählt sind, dadurch aber nicht unbedingt einfacher erfasst werden, weil die Geschichte nicht direkt auf die Rechenoperation zugeschnitten ist, die die Kinder daraus erschließen sollen.
Jedenfalls sind diese Illustrationen gelegentlich auch unter dem Aspekt der Beziehungsdynamik interessant. Dadurch bin ich zu einem recht langen Abstecher eines einzigen Diagramms in Eberhard Stahls Buch Dynamik in Gruppen aufgebrochen. Ich bin immer noch nicht damit fertig.

Diagnostik: Der Psychologisierung widerstehen

Wozu betreibe ich aber einen solchen Aufwand? Der Grund liegt selbst wieder im Diagramm und in der „prinzipiell auswechselbar[en]“ „Stofflichkeit“ begründet. Zwischen dem Lernen des Kindes und der mathematischen Aufgabe liegt die Bearbeitung der Aufgabe. Diese Bearbeitung ist aber nicht ein abstraktes Zwiegespräch zwischen den Denkleistungen und der Aufgabenstellung, sondern von Körperlichkeit und sozialer Situation verkompliziert.
Zudem ist es ein alter Hut, dass man in den Kopf von Menschen, also auch nicht von Schülern, hineinschauen kann. Man kann zwar wissen, was Lernen ist, aber ob und wie das Kind in der konkreten Situation lernt, ist reine Spekulation.
Nun kommt man als Lehrer ohne eine solche Spekulation nicht aus. Zum einen lernen Menschen natürlich, zum anderen würde man sich selbst delegitimieren, sollten die Schüler im Unterricht nicht lernen. Trotzdem: einer allzuraschen Psychologisierung und damit einem Übergriff ins Unbeobachtbare sollte man eine ausreichend gute Praxis des Beobachtbaren entgegenstellen, damit man nicht unbemerkt und damit auf bequeme, unsystematische und letztlich unwissenschaftliche Art und Weise wieder zu spekulieren anfängt.

Zu einer Praxis des Beobachtens

Semiotische und technische Medien

Was aber wäre eine solche gute Praxis? Ich führe dies hier ohne weitere Begründungen, als Abschluss auf: zunächst gilt es Medien und den Umgang mit Medien zu trennen: wie benutzt ein Kind die Sprache? wie erläutert es die Bedeutung eines Bildes? wie arbeitet es mit einem Abakus? etc. - Zwar gibt es hier die Trennung zwischen semiotischen und technischen Medien, so wie der Abakus ein technisches Medium ist, die Perlenstangen darauf aber ein semiotisches; doch macht dieses Beispiel bereits deutlich, dass sich die Medien ineinander verschränken. Die Schrift ist auf der einen Seite ein technisches Medium (als "Aufzeichnung" von Lautgestalten), aber auch ein semiotisches (als die Welt bedeutend).

Handlung und Denkbewegung

Zugleich zur Trennung der Medien, die bereits individuell verlaufen kann, kommen Übersetzungen und Transformationen hinzu. Diese lassen sich als solche beobachten (die Plusaufgabe und eine Lösung dazu; eine Addition am Zahlenstrahl mit Anfangs- und Endzahl), aber auch durch Handlungen (z. B. abzählen, d. h. mit dem Finger einer geordneten Abfolge entlangfahren). Dabei sind die Bewegungen teilweise ins Denken übernommen, so dass sie nicht mehr vollständig, sondern nur noch teilweise sichtbar sind; im Zweifelsfall muss man auf besseres, besser diagnostizierbares Material zurückgreifen oder sich die Vorgehensweise vom Kind erklären lassen).

Die Schnörkel

Eine der wichtigsten Momente bei solchen Handlungen sind die "Schnörkel". Es gibt vermutlich bei jeder strukturierten Handlung einen reinen, völlig ökonomischen Weg. Doch genau ein solcher ist selten und erst bei viel Übung zu finden. Bis dahin verrutschen Stifte, springen Perlen aus ihren Kuhlen, werden Teile des Zahlenstrahl falsch hintereinandergelegt; der Kopf landet auf der Hand, die Augen gleiten zum Nachbarn hinüber, ein Arbeitsschritt wird mit den Fingern noch einmal überprüft. Diese kleinen Zwischenhandlungen beulen und dellen den geradlinigen Weg aus; sie weisen auf Such-, Um- und Abwege hin, ohne sie genauer zu bezeichnen.

Zweck der Konnotation

Schließlich müssen all diese kleinen Bewegungen interpretiert werden. Da es keine direkte Überprüfung des Ergebnisses gibt, muss man diese als Konnotation behandelt werden, als "systematisch ausgearbeitetes Geräusch". Solche Konnotationen werden nicht dadurch richtiger, wenn das Kind eine Schwierigkeit dann endlich überwindet. Der erwartete und gelungene denkerische Fortschritt macht aus einer Spekulation keine Gewissheit und aus einer Konnotation keine Denotation. Aber die Konnotation strukturiert das eigene planmäßige Vorgehen des Lehrers und macht in der Reflexion mögliche Verbesserungen am eigenen Verhalten, an der Lehranweisungen, etc. deutlich.

Zeitlichkeit und Unzeitlichkeit

Die Gleichheit, die im Begriff ermöglicht wird (der Begriff ist! diese Gleichheit), kann man als assimilierende Abbildung und damit als Internalisierung von Erfahrung beschreiben. Der Begriff ermöglicht zunächst eine Gleichheit, dann eine Wiederholbarkeit, damit eine Reflexion (die wahrscheinlich zunächst eine „Rücksicht“ ist, also die Wiederholung einer Erinnerung); daraus entsteht die Möglichkeit, das operative Moment umzukehren: und dies ist ja die Definition der Operation, bzw. gehört ihrer Definition, dass sie in beide Richtungen verläuft, also eben umkehrbar ist. Und erst aus diesem Moment, aus der Operationalisierung der Rücksicht, wird die „Vor-Sicht“ gewonnen.
Das Interessante daran ist, dass die bewusste Zeitlichkeit zunächst über eine stillgestellte Zeit läuft, nämlich der Gleichzeitigkeit der Komponenten im Begriff. Im Übrigen müsste es zwei verschiedene Arten geben, zu dieser Zeitlichkeit zu kommen, nämlich einmal den Begriff selbst als Element in einem größeren Zusammenhang zu verwenden, und einmal die interne Genese herauszuarbeiten, also sich die Entstehung des Phänomens oder Gegenstandes, welches durch den Begriff bezeichnet wird, bewusst zu machen.

16.09.2017

Frustriert, und dann doch wieder nicht

Mittlerweile habe ich aufgegeben, den politischen Begriffen hinterherzulaufen. Wenn man diese mit philosophischem Hintergrund versieht, wird die ganze aktuelle Diskussion immer abstruser. Insbesondere die AfD (aber nicht nur die) tut sich damit hervor, jeglichen noch greifbaren Kern aus den Begriffen zu entfernen.
Ich benutze Wörter wie Inklusion oder Gender nur noch mit Bauchgrimmen. Bei den Gegnern trifft man lediglich in der Reaktion auf eine deutliche Aussage, nicht aber in der Begründung, und bei den Befürwortern findet man in der Begründung zu viele Unschärfen, zumindest oftmals. Damit sage ich natürlich nicht, dass ich den Anspruch der Gender-Theorie oder der inklusiven Praxis aufgebe; aber ich kann mich zu oft nur noch oberflächlich mit anderen Vertretern gemein machen.

Hinterherhetzen

Ja, haha, tolles Wortspiel. Aber den Dummheiten der faschistischen Vertreter rennt man nun echt hinterher. Da werden "Nachrichten", die bereits durch rechtsradikale Presseerzeugnisse vorgefiltert wurden, massenweise im Netz verbreitet. Nicht mehr gezeigt werden die Darstellungen, die das relativieren oder geradezu anders darstellen. Heute zum Beispiel: Übergriff von Asylanten auf dem Volksfest ... (nun, wo auch immer). Verschwiegen wird uns, dass vorher irgendjemand einen Bierhumpen auf die Asylanten geworfen hat.
Gauland etwa dreht mittlerweile völlig durch. Hat er sich schon mit seiner Hetze gegen Özuguz und deren Kulturbegriff nicht nur an den Gepflogenheiten der Diskussion vergriffen, sondern auch den wissenschaftlichen Anspruch aufgegeben, den Kulturwissenschaftler zu etablieren versucht haben, ist er mit seiner neuesten Aussage zur Nazi-Vergangenheit vollends unerträglich geworden. Denn wenn man dies mal nicht unter dem Begriff der Verharmlosung denkt, sondern konsequent weitertreibt, dann sind auch Goethe, Kleist, Droste-Hülshoff, Heine, Schnitzler, Kant, Mendelsohn, etc. nicht mehr für uns bestimmend. Da hat man mit den düstersten Zeiten der deutschen Kultur auch gleich ihre hellsten Sterne versenkt. So etwas ist nicht patriotisch, sondern Kulturverrat.
Schlimm ist das. Kaum zu ertragen. Es gibt so großartige Denker und Dichter, die in deutscher Sprache geschrieben haben; aber wenn man diese "Patrioten" ansieht, verliert man doch den Glauben an unsere Kultur.

Aber ...

Es gibt auch schöne Sachen in meinem Leben. Ich konnte in den letzten zwei Wochen trotz Start auf einer neuen Dienststelle viel lesen. Das war nun nicht meine ganz bevorzugte Lektüre, meist Mathedidaktik, aber auch sonstige Didaktiken, doch auch das kann Spaß machen und einen weiterbringen. Eine Kollegin hat sich gesorgt, dass ich mich eventuell überlasten würde. Nun, am Ende der Woche brauche ich mehr Schlaf als zu Beginn; ich kann nicht sagen, dass mir die Arbeit leicht von der Hand geht, aber es ist erträglich, und vieles wird sich auch einschleifen. Ich hatte schon Arbeiten, die nach einem Jahr anstrengender waren als das, was ich jetzt erlebe.