31.10.2017

Wie baut man höhere psychische Funktionen auf?

Gelegentlich fehlen mir meine kurzen, übersichtlichen Artikel, die ich damals auf suite101 geschrieben habe. Die Plattform ist mittlerweile nicht nur geschlossen, sondern auch offline. Zeit, einige der wichtigeren jetzt, zehn Jahre später, noch einmal zu veröffentlichen.

Höhere psychischen Funktionen spielen eine wichtige Rolle in unserem Leben. Für den Beruf sind sie wesentlich.
Schon immer haben höhere psychischen Funktionen eine wichtige Rolle in der Schule gespielt. Seit PISA werden sie auch öffentlich stark diskutiert. Neuerdings gibt es sogar beim Coaching und Erwachsenentraining einen deutlichen Wandel.

Was aber sind höhere psychischen Funktionen?

Schaut man sich die Forschungsliteratur an, dann findet man zwei unstrittige Kernfunktionen, die Begriffsbildung und das Problemlösen. Strittiger und uneinheitlicher dagegen sind folgende Funktionen: Kreativität, Metakognition und Transfer.
Vereinfacht gesagt ist ein Begriff eine mentale Struktur, die bestimmte Qualitäten in einen festen Bezug zueinander bringt. Der Begriff "Hund" beinhaltet vier Beine, ein Fell, einen Schwanz, das Bellen und dergleichen mehr. Hier dürfte schon klar sein, dass sich ein Begriff immer an Erfahrungen und Wissen hält. Ein professioneller Hundezüchter würde über diese Definition des Hundes lächeln. im Alltag genügt er aber.
Problemlöseprozesse werden recht unterschiedlich dargestellt und sind anwendungsabhängig. Es ist klar, dass ein mathematisches Problem anders gelöst werden muss, als das Problem, dass man sich langweilt. Grundsätzlich besteht Problemlösen aus vier wichtigen Phasen: der Identifikation des Problems, der Suche nach einer Lösung, dem Lösungsversuch (Umsetzung) und der Bewertung der Lösung.

Der Aufbau höherer psychischer Funktionen

Der russische Psychologe Wygotski schrieb, dass jede höhere psychische Funktion zunächst dialogisch geteilt werde.
Obwohl diese Auffassung durchaus umstritten ist, macht sie Sinn.
So kann jede Mutter (und natürlich jeder gute Vater) sofort nachvollziehen, wie man dialogisch Begriffe aufbaut. Jede Mutter erklärt nämlich ihrem Kind, wie die Dinge heißen, oft benennt sie auch, welche Eigenschaften (sinnlichen Qualitäten) sie haben und was man mit ihnen tun kann. Das Kind fragt nach, spricht über diese Dinge und tut mit ihnen irgendetwas. Die Mutter steht dabei, hilft und korrigiert.
Ähnliches sieht man in der Schule, zumindest bei guten Lehrern. doch auch bei Erwachsenen findet man den Begriffsaufbau, wenn auch auf wesentlich komplexeren Ebenen. Kindliche Begriffe sind häufig auf Gegenstände oder typische Handlungen bezogen, während erwachsene Begriffe auch Funktionen und abstrakte Ideen umfassen. Sogar der Begriff der streitbaren Demokratie beinhaltet den Dialog, in Form des Streits.
Begriffe bestehen also aus Merkmalen und Handlungsmöglichkeiten. Kritische Begriffe, wie der der Demokratie, unterscheiden sich dadurch, dass sie eher aufzählen, welche Merkmale eine Demokratie nicht besitzt und welche Handlungen nicht demokratisch sind. In diesen Grenzen muss man dann seinen Platz finden.
Auch Problemlöseprozesse sind vielfach dialogisch. So helfen Eltern ihren Kindern sehr früh, Probleme zu identifizieren und Lösungsstrategien zu entwickeln. Das fängt schon mit der simplen Frage an: "Na, wo ist der Ball?". Dann wird das Kind ermutigt, dorthin zu krabbeln, wo der Ball liegt. Doch auch der Lehrer, der mit seinen Schülern eine Facharbeit bespricht, und mit ihnen zusammen die nächsten Schritte plant, baut einen Problemlöseprozess dialogisch auf. Schließlich ist jedes gute Coaching aus Problemlöseprozessen aufgebaut. Coaching heißt ja nichts anderes als Nachhilfe.

Kritik

Zunächst mag dieser Ansatz sehr plausibel erscheinen. Es gibt aber zumindest zwei Aspekte, die problematisch sind.
Der eine Aspekt betrifft die Emotionen. Diese sind biologisch angelegt und spielen bei der geistigen Beweglichkeit eine große Rolle. Wie Emotionen und höhere psychische Funktionen zusammenhängen, ist immer noch nicht hinreichend geklärt.
Der andere Aspekt betrifft die geistige Beweglichkeit selbst. Der amerikanische Psychologe John Bruner hat den Begriff der kognitiven Dissonanz eingeführt. Damit werden geistige Zustände bezeichnet, die durch ein "Ungleichgewicht" gekennzeichnet sind und zu einer Umstrukturierung des Denkens führen. Dabei entstehen neue Denkmuster, die nicht dialogisch entstanden sind, und trotzdem zu den höheren Denkprozessen gezählt werden können.
Kritisch zu sehen ist auch der ganze Aspekt der Kreativität. Mit dem dialogischen Ansatz lässt sich nämlich nicht erklären, wie Menschen zu neuen Erfindungen und Entdeckungen kommen können.

Fazit

Der Dialog ist ein wichtiger Bestandteil beim Aufbau komplexer mentaler Prozesse. Eine ausschließliche Erklärung bietet er allerdings nicht.

Literaturempfehlung:
  • Woolfolk, Anita: Pädagogische Psychologie. München 2008, S. 53-60
  • Oerter, Rolf/Montada, Leo: Entwicklungspsychologie. München 2008, S. 92-100
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