11.03.2018

Nachhaltiges Lernen

Im Rahmenlehrplan der Mathematik der Berliner Schulen findet sich folgende Aussage:
Damit werden die Grundlagen für strukturiertes Denken für die lebenslange Auseinandersetzung mit mathematischen Anforderungen des täglichen Lebens und der Berufswelt gelegt sowie Anknüpfungspunkte für weiteres, nachhaltiges Lernen im Fach Mathematik geschaffen. (Seite 3)
An diesem Satz (und seinem Kontext) habe ich jetzt einige Tage gearbeitet. Der eine Schwerpunkt lag im Begriff „strukturiertes Denken“, der andere im „nachhaltigen Lernen“.

Nachhaltiges Lernen

Tatsächlich ist nachhaltiges Lernen eine recht eigenwillige Vokabel. Mehrmals habe ich Passagen gefunden, in denen dieser Begriff vor allem eine Aufhübschung einer eher oberflächlichen Sichtweise bewirkt.
Recht fundiert dagegen erscheint mir folgende Definition aus einer Lehrerfortbildung zum evangelischen Religionsunterricht am Gymnasium:
Ein Lernen ist nachhaltig, wenn Wissen in seinen unterschiedlichen Formen im Langzeitgedächtnis verankert ist und bei der Bewältigung von unterschiedlichen Herausforderungen im Alltag verlässlich zur Verfügung steht.
Hier finden sich wiederum zwei Lernprinzipien, um die ich mir in den letzten Jahren vielfach Gedanken gemacht habe: das Transmedialisieren und das Überautomatisieren.

Überautomatisieren

Beginnen wir mit dem Letzteren. Tatsächlich kann man die Überautomatisierung mit dem nachhaltigen Lernen in eins setzen.
Die Idee hinter der Überautomatisierung ist folgende: ein Modell wird so lange geübt, bis es über den Zustand schmerzhafter Langeweile hinaus abgearbeitet worden ist. Dabei wird das Modell in die Denkstrukturen übernommen. Es ist nicht mehr ein Objekt, welches man interpretiert, sondern selbst ein Werkzeug der Interpretation geworden. Kürzer und knapper: das interpretierte Muster wird zu einem interpretierenden Muster.
Nachhaltig kann man solche Muster wahrscheinlich deshalb nennen, weil sie zu einem Teil des Weltbildes werden, bzw. weil sie notwendig geworden sind, die Welt, so wie sie dem Betrachter erscheint, zu stabilisieren. Das interpretierende Muster bietet Dauer und Verlässlichkeit und kann deshalb nicht mehr so einfach überwunden werden.

Transmedialisieren

Direkt damit zusammen hängt das Transmedialisieren. Damit bezeichne ich die Übersetzung eines Musters in ein anderes Medium, bzw. die Abbildung (wenn man einen mathematischen Begriff benutzen möchte) oder, sofern die Übersetzung in beide Richtungen flüssig geworden ist, die Operationalisierung.
In der Mathematikdidaktik wird dies als mathematisches Modellieren thematisiert. Dabei ist das eine Medium die mathematische Sprache, das andere ein außermathematischer, aber mathematisierbarer Sachverhalt. Modellieren bedeutet, ein Modell in die Umwelt hineinzusehen oder aus ihr herauszulesen. So lernen schon Kinder in der Vorschule, dass das Zusammenschieben von Bauklötzchen sich durch die Sprache direkt verbalisieren lässt: zwei Bauklötzchen und drei Bauklötzchen ergibt fünf Bauklötzchen. Die konkrete Handlung wird dabei mit Signalwörtern versehen.
Später wird diese Transmedialisierung komplexer. So kann man Additionen und Subtraktionen in fast jedem Sachverhalt wiederfinden. Jegliche Wiederholung lädt dazu ein, Multiplikationen oder Divisionen zu entwickeln. Und alles, was mit Nachbarschaften und gerichteten Bewegungen zu tun hat, reizt die geometrische Fantasie. Dabei ist allerdings die Übertragung in mathematische Bereiche nur eine Form der Übersetzung. Die vielfältige Anwendung von Modellen in allen möglichen Medien und Disziplinen offenbart die Leistungsfähigkeit und Begrenztheit von Modellen. Nicht überall sind Additionen angebracht, und manchmal kann man zwar addieren, aber auf höhere, verkürzte Schreibweisen (zum Beispiel die Multiplikation) zurückgreifen.
Was ich also hier mit dem Wortungetüm Transmedialisierung bezeichne, kann man auch als vernetztes Wissen verstehen. Der einzige Vorteil, den mein Begriff bietet, ist der, die Handlung und ihre Bedingungen stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Notwendig sind zwei verschiedene Medien (oder: zwei verschiedene Sprachen) und eine Übersetzung aus der einen in die andere Sprache.

Zum Problem der Qualität

Neben den Prinzipien wird oft ein qualitativer Unterschied eingefordert. Meine Erfahrung mit dem nachhaltigen Lernen ist allerdings, dass die Bestimmung ihrer Qualität subjektiv nicht nachvollzogen werden kann, bis man sie sich subjektiv erarbeitet hat. Die Idee, dass sich die Qualität nachhaltigen Lernens von außen bestimmen ließe, wird damit ausgeschlossen. Nachhaltiges Lernen ist ein Glücksmoment innerer Wandlung.
Bei der Überautomatisierung kann man regelmäßig feststellen, dass diese gerade nicht zu einheitlichen, sondern zu sehr verschiedenen Erfahrungen und damit auch zu sehr verschiedenen Verwendungen führt. Das vielfältige Üben ist damit nicht normgeleitet, sondern differenzierend und in gewisser Weise „kreativ“.

Die Individualisierung der Mathematik

Dieser Gedanke beschäftigt mich außerordentlich. Die Mathematik besteht in der Grundschule vor allem darin, eine streng normierte, formale Sprache zu erlernen. Seltsamerweise aber wird diese Sprache sehr unterschiedlich übernommen. Auf ihrer Rückseite, jenseits der Formalität, entzünden sich vielfältige Gedanken, kognitive Umwege, gestalterische Freiheiten. Kein Kind erlernt die Rechenwege auf die gleiche Art und Weise. Aber wo es sie gut, geradezu blind beherrscht, entstehen vielfältige, teilweise grandiose Einfälle; sie überschreiten das simple Rechnen-Können und dehnen sich in vage, noch wenig erarbeitete Gebiete aus.
Auch mir ergeht es im Moment so. Obwohl ich die mathematischen Inhalte der ersten zehn Klassen noch immer mit großer Leichtigkeit beherrsche, finde ich bereits in der zweiten Klasse vielfältige Gedanken, die ich so bisher noch nicht bewusst gedacht habe. Dabei liegt manches abseits des üblichen Rechnenlernens. Anderes wiederum entdeckt die Mathematisierbarkeit der Balkongestaltung, des Autobahnstaus oder des Fragenstellens. Plötzlich tauchen hinter den alltäglichsten, lange als selbstverständlich hingenommenen Phänomenen mathematische Fragestellungen auf.
Und ich erinnere mich gut daran, wie zum Beispiel das Rubikonmodell alle meine Ideen zum konstruktiven, entlang eines Planes ausgeführten Schreibens tüchtig durcheinander gewirbelt hat. Eine Zeit lang hatte ich an jede Erscheinung in meiner Umwelt genau diese Idee des vierstufigen Motivationsprozesses herangetragen. Und im Moment sind es die mathematischen Inhalte, die mich einen ganz neuen Blick lehren. Nichts davon ist allerdings allgemeingültig. Und so individualisiert sich die Mathematik, indem ich mit ihr Erfahrungen sammle.

Mathematische Erfahrungen

Entgegen der landläufigen Meinung, man würde Erfahrungen in der Welt machen, schreibt Kant, dass Erfahrungen immer Erfahrungen mit Begriffen sind. Der Begriff ist ein mentales Konstrukt, eine Abstraktionsleistung. Die Erfahrung reflektiert in gewisser Weise diese individuellen Konstrukte, bestätigt diese oder weist sie zurück. Und im gesamten Prozess von Bestätigung und Zurückweisung wird die Grenze eines Begriffes ausgelotet.
So bleibt zum Ende zu sagen, dass die Lust an der Mathematisierbarkeit nicht zu einer Vorherrschaft der Zahlen führt, sondern zu einem Spiel mit der Reichweite und damit der Kreativität mathematischer Formeln. Nicht zu unterschätzen ist dabei, dass die formale Strenge der Funktionen und Gleichungen besonders deutlich macht, wann dieses Modell nicht mehr greift, bzw. wann die Mathematik mehr interpretiert, sondern interpretiert werden muss. Und vielleicht ist das der Vorteil der Mathematik: das an ihr das Spiel der Übersetzung, der Abbildung, der Transmedialisierung besonders deutlich wird und dadurch der Reflexion auch in besonderem Maße zugänglich.

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